Einleitung
Dieses Buch ist eine Geschichte des Frankfurter Auschwitz-Prozesses (1963–1965), des größten, öffentlichkeitswirksamsten und bedeutendsten NS-Prozesses, der nach 1945 vor einem westdeutschen Gericht geführt wurde. Insgesamt 6000 Prozesse dieser Art haben zwischen 1945 und 1980 stattgefunden, der Auschwitz-Prozess war der dramatischste und politisch folgenreichste unter ihnen.1 Doch selbst wenn er aufwühlender und bedeutender gewesen sein mag als die anderen Verfahren, in zweierlei Hinsicht war er auch ein typischer NS-Prozess. Erstens wurde er, wie alle NS-Verfahren, die in der Bundesrepublik Deutschland eröffnet wurden, nachdem diese ihre volle rechtliche Souveränität erlangt hatte, nach dem einschlägigen deutschen (und nicht nach internationalem) Recht geführt; zweitens stand wie in den meisten dieser Verfahren seit den späten 1950er Jahren auch im Auschwitz-Prozess die Shoah im Zentrum, der Völkermord der Nationalsozialisten an den Juden.2 Das heißt die Justiz der Bundesrepublik Deutschland musste versuchen, dem Völkermord, mit den Mitteln des normalen Strafrechts beizukommen. Wie sah dieser Versuch im Einzelnen aus? Wo lagen seine Stärken und Schwächen, wo seine Grenzen? Welche rechtlichen, politischen und kulturellen Probleme, welche Konsequenzen ergaben sich aus der Tatsache, dass der Völkermord als Teil der eigenen Geschichte vor Gericht nach nationalem Recht verhandelt wurde?
Das sind die Fragen, denen ich mit diesem Buch nachgegangen bin, indem ich mir einen bestimmten Prozess vorgenommen und seine Geschichte im Einzelnen untersucht habe. Zu Beginn des Auschwitz-Prozesses saßen 22 Personen auf der Anklagebank, bei Prozessende waren es noch 20.3 Sieben dieser Angeklagten wurden wegen Mordes, zehn wegen Beihilfe zum Mord verurteilt, drei erreichten einen Freispruch. Das Strafmaß lag zwischen dreieinviertel Jahren und lebenslanger Haft. In 183 Sitzungen, verteilt über 20 Monate, wurden über 350 Zeugen vernommen, darunter 211 Auschwitz-Überlebende. Gut zwei Dutzend Juristen – Staatsanwälte, Anwälte der Verteidigung sowie Anwälte von Nebenklägern aus aller Welt – stritten über Wesen und Bedeutung von Massenmord, Folter und Völkermord. In seinem – mündlichen wie schriftlichen – Urteil versuchte das Gericht, innerhalb der vom Gesetz gezogenen Grenzen die Verbrechen von Auschwitz zu sühnen.4 Die westdeutsche Öffentlichkeit verfolgte diesen Prozess mit makabrer Faszination, feindseliger Gleichgültigkeit, tief empfundener Scham und Reue – eine merkwürdige Mischung.
Mit dem Auschwitz-Prozess stießen Recht und Justiz an die Grenzen ihrer Möglichkeiten, auf systematischen Völkermord angemessen zu antworten. Das bundesdeutsche Strafrecht war auf Verbrechen ganz anderer Art ausgerichtet: auf gewöhnliche Verbrechen, wie sie zumeist Einzeltäter oder kleine Gruppen aus persönlichen Motiven begehen. Die rechtlichen Kategorien, die entwickelt worden waren, um zwischen Angeklagten je nach von ihrer subjektiven Einstellung zur Tat zu unterscheiden, erwiesen sich als – bestenfalls – irreführend, sobald sie auf ein Verbrechen angewandt wurden, dessen Durchführung nicht völlig von der besonderen persönlichen Motivation der zahlreichen Täter abhing. Die Judenvernichtung im Dritten Reich hatte nicht nur ungeheuerliche Ausmaße, sie war auch bürokratisch geplant und organisiert, sie stand unter staatlicher Leitung. Darum waren die persönlichen Motive der zu Tausenden beteiligten Täter nur untergeordnete Faktoren beim Massenmord, der weit über jeden Einzelnen von ihnen hinausging. Ohne die willige Beteiligung von Tätern wie jenen, die in Frankfurt am Main vor Gericht standen, wäre Auschwitz kaum möglich gewesen, und doch lässt sich seine furchtbare Realität nicht als Folge individueller Taten erklären, die aus individuellen Gründen begangen wurden. Auch in diesem Fall war das Ganze größer als die Summe seiner Teile. Wegen dieses quasi exponentiellen Charakters des NS-Völkermordes war es sehr schwer, dieses Verbrechen mit den Mitteln des deutschen Rechts zu erfassen; nicht nur im Auschwitz-Prozess.
Zudem muss der Frankfurter Prozess auch als politischer Prozess betrachtet werden. Nicht, dass er ein illegitimer Versuch gewesen wäre, mit rechtlichen Mitteln außerrechtliche Ziele zu erreichen; nein, das Vorhaben, Auschwitz zu sühnen, musste notwendigerweise auch politisch bedeutsame Fragen aufwerfen.5 Zum einen war der Kalte Krieg im Gerichtssaal stets präsent, zum anderen stand die Frage im Raum, wie es um die Demokratie in der Bundesrepublik, um das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Vergangenheit bestellt war. Weil Auschwitz nicht nur ein historisches, sondern auch ein politisches Problem war, war der Prozess in Frankfurt am Main ein politischer Prozess.
Wissenschaftlich wurde die Geschichte der westdeutschen NS-Prozesse bislang auf zumeist ziemlich allgemeiner Ebene behandelt. Grob gesprochen hat die Beschäftigung mit diesen Verfahren drei Phasen durchlaufen: Erste Versuche, die rechtliche und politische Seite der NS-Prozesse zu thematisieren, gab es bereits in den 1960er Jahren.6 In den 1980er Jahren bemühte man sich dann um einen vorläufigen, häufig kursorischen, oft auch polemischen Überblick.7 Und in letzter Zeit schließlich entstanden gründlichere, empirisch fundierte Untersuchungen zu den Prozessen, die sich auf Archivrecherchen stützen.8 Diese neuere Literatur ist insofern von Bedeutung, als sie die politische und rechtliche Komplexität der NS-Prozesse in der Bundesrepublik insgesamt beleuchtet. So zeigt sich, dass man nicht von den NS-Prozessen im Sinn eines einheitlichen Ganzen sprechen kann, vielmehr müssen die einzelnen Verfahren in ihrer Verschiedenheit und in ihrem jeweiligen geschichtlichen Kontext gesehen werden.
Prozesseröffnung im Plenarsaal des Frankfurter Römer: die Angeklagten Victor Capesius und Oswald Kaduk – im Gespräch mit den Verteidigern Friedrich Jugl und Anton Reiners –, dahinter die Angeklagten Emil Hantl und Stefan Baretzki (mit Sonnenbrille).
© Schindlerfoto, Oberursel
So wertvoll diese neueren Untersuchungen zu den NS-Prozessen auch sind: Keine von ihnen liefert eine umfassende, empirisch fundierte Geschichte einzelner Verfahren. Um aber die Unterschiede der NS-Prozesse in ihrem zeitlichen Verlauf betrachten und sie in ihren politischen und rechtlichen Kontext einordnen zu können, sind detaillierte Einzeldarstellungen dringend erforderlich. Der Auschwitz-Prozess war der prominenteste NS-Prozess in der Geschichte der Bundesrepublik; zudem war er, mit Blick auf den vor Gericht verhandelten Gegenstand und die Anwendung von normalem Strafrecht auf NS-Verbrechen, typisch für die 1960er Jahre. Insofern ist er für die von mir intendierte Untersuchung besonders geeignet.
Schon in den 1960er Jahren erkannte man, welche Bedeutung dem Prozess in Frankfurt am Main zukommen würde. Nicht nur die Medien berichteten ausführlich (vgl. Kapitel 9), vielmehr kamen schon kurz nach Prozessende mehrere hervorragende Bücher auf den Markt. Hermann Langbeins zweibändige »Dokumentation« enthält kurze Bemerkungen zur Vorgeschichte des Prozesses sowie im Wesentlichen ausgedehnte Exzerpte aus Zeugenaussagen, die Langbein selbst während des Prozesses mitprotokolliert hat.9 Sein Buch ist typologisch aufgebaut, entsprechend der Organisation des Lagers, ; dies macht deutlich, dass sich Langbeins Interesse weniger auf den Prozess als auf Auschwitz selbst konzentrierte. Sein Buch ist als eine Geschichte des Lagers zu lesen, so wie sie während des Prozesses von den Augenzeugen erzählt wurde. In Bernd Naumanns »Auschwitz. Bericht über die Strafsache Mulka und andere vor dem Schwurgericht Frankfurt« sind die Prozessberichte des Journalisten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zusammengefasst.10 Mit feiner Ironie und mit dem Blick eines Romanciers für aussagekräftige Einzelheiten entwirft Naumann ein lebendiges Porträt des Prozesses, zeigt diesen als gelebte Erfahrung. Dafür untersucht er die rechtlichen Grundlagen des Prozesses nicht ausführlich und er verzichtet darauf, im Nachhinein wie ein Historiker einen Blick auf die Vorgänge zu werfen, die hinter der Fassade der öffentlich sichtbaren abliefen. Und Peter Weiss’ Theaterstück »Die Ermittlung. Oratorium in elf Gesängen« schließlich ist ein Dialog nach dem Vorbild einer griechischen Tragödie; den Wortlaut hat der Autor direkt aus dem Prozess übernommen.11 Dieses Stück, für die Theatergeschichte des 20. Jahrhunderts ebenso bedeutsam wie Weiss’ älteres Avantgarde-Werk »Marat/Sade«, ist allerdings weniger eine Geschichte des Auschwitz-Prozesses als eine dramatische Darstellung des tragischen Charakters der Moderne.12
In den letzten Jahren ist der Frankfurter Prozess auf wachsendes Interesse auch in der Wissenschaft gestoßen. Dies ist zu einem guten Teil den Aktivitäten des Fritz Bauer Instituts in Frankfurt am Main zu verdanken.13 Neben seiner Archivarbeit präsentierte es im Jahr 2004 eine große Ausstellung über den Prozess14 und dokumentierte die Vorgeschichte sowie den Verlauf des Verfahrens auf DVD-ROM. Damit wurden die relevanten Dokumente aus den Gerichtsakten (Anklageschrift, Urteil etc.), die komplette Transkription des 430-stündigen Tonbandmitschnitts der Zeugenaussagen sowie viele Beweisstücke und Fotos einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.15 Darüber hinaus veröffentlichte das Institut zwei...