Vorwort
Dieses Buch ist keine Anklageschrift und nicht das Plädoyer eines Verteidigers. Es ist auch kein Urteil, weder in juristischer noch in moralischer Hinsicht. Es soll ein Protokoll sein, eine Chronik der Ereignisse vom Juni 1967 bis zum »Deutschen Herbst« 1977, der Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, der Entführung und Befreiung der Passagiere und Besatzungsmitglieder der Lufthansa-Maschine »Landshut« und den Selbstmorden im Hochsicherheitstrakt von Stammheim.
»Der Baader-Meinhof-Komplex« ist zum ersten Mal 1985 erschienen, acht Jahre nach dem Selbstmord der Stammheimer Gefangenen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe, neun Jahre nachdem sich Ulrike Meinhof in ihrer Zelle das Leben genommen hatte. Der blutige »Deutsche Herbst« des Jahres 1977 markierte den Gipfelpunkt eines Weges in die Gewalt, der mit zunächst friedlichen Protesten gegen den Krieg der Amerikaner in Vietnam begonnen hatte. Moralische Empörung war erst langsam, dann immer schneller in krasse Unmoral umgeschlagen.
Seit 1967 habe ich, zunächst bei der Zeitschrift »konkret«, dann als Mitarbeiter des Magazins »Panorama« beim NDR, die Entwicklung vom Protest über den Widerstand zum Terrorismus verfolgt. Dabei begegnete ich vielen, die zur Zeit der Studentenbewegung und der Außerparlamentarischen Opposition (APO) auf die Straße gegangen waren und später in den Untergrund abtauchten. Einige traf ich bei den Recherchen zu diesem Buch wieder, manche von ihnen saßen im Gefängnis, andere waren nach vielen Jahren Haft wieder in Freiheit. Ich führte Interviews, sammelte und sichtete bis 2017 gut hundert laufende Meter Aktenordner und versuchte, daraus die Geschichte der »Baader-Meinhof-Gruppe«, die sich später »Rote Armee Fraktion« nannte, zu rekonstruieren. Vom Prozess in Stammheim gibt es außerdem Wortprotokolle, 15000 Seiten, insgesamt gut 30 Aktenordner.
Von denjenigen, die später in den Untergrund abtauchten, habe ich einige intensiver kennengelernt, wie Ulrike Meinhof, andere nur flüchtig. So sind persönliche Begegnungen in die Recherchen eingeflossen, später Hintergrundgespräche oder Interviews, viele davon vor laufender Kamera.
Kontakt hatte ich unter anderen zu: Rudi Dutschke, Daniel Cohn-Bendit, Peter Schneider, Peter Homann, Otto Schily, Christian Ströbele, Kurt Groenewold, Horst Mahler, Hans-Jürgen Bäcker, Peter-Jürgen Boock, Jan-Carl Raspe, Astrid Proll, Klaus Jünschke, Gerhard Müller, Hans-Joachim Klein, Rainer Langhans, Bommi Baumann, Till Meyer, Black Panther Eldridge Cleaver, Weatherman Mark Rudd, Ex-Bürgermeister und Pfarrer Heinrich Albertz, BKA-Präsident Horst Herold, BKA-»Familienbulle« Alfred Klaus, Horst Bubeck, GSG-9-Chef Ulrich Wegener, »Landshut«-Stewardess Gabriele Dillmann (später von Lutzau), »Landshut«-Copilot Jürgen Vietor, Hans-Jürgen Wischnewski, Helmut Schmidt, Hanns Martin Schleyer …
Gudrun Ensslin bin ich niemals begegnet. Andreas Baader auch nicht – aber das war haarscharf.
Ich habe das Buch damals wie heute nicht als die quasi in Stein gemeißelte Geschichte der RAF betrachtet, sondern als den Stand meiner Recherchen. Wann immer etwas Neues auftauchte, habe ich es in die verschiedenen Ausgaben des Buches aufgenommen oder auch Details korrigiert.
Inzwischen sind vierzig Jahre vergangen, und die Ereignisse von damals lassen sich noch genauer beschreiben, als es bis etwa 1990 möglich war. Mit dem Fall der Mauer war den bundesdeutschen Fahndern eine Gruppe von RAF-Aussteigern in die Hände gefallen, die bis dahin unerkannt in der DDR gelebt hatten. Eine spezielle Einheit des Ministeriums für Staatssicherheit hatte die im Westen als Terroristen steckbrieflich gesuchten RAF-Mitglieder mit gefälschten Identitäten in die realsozialistische Gesellschaft integriert. Auch einige damals noch aktive Gruppenmitglieder hatte die Stasi phasenweise in der DDR betreut und anschließend wieder in ihr westdeutsches »Operationsgebiet« ausreisen lassen. Das ganze Ausmaß der Stasi-Kooperation mit ausgestiegenen, aber auch mit noch aktiven Terroristen kam erst im Laufe der folgenden Jahre ans Licht.
Mit Hilfe von MfS-Akten ließen sich eine ganze Reihe zuvor ungeklärter Hintergründe ausleuchten, denn die RAF-Mitglieder hatten gegenüber den Genossen vom Ministerium für Staatssicherheit einiges offenbart, was den bundesdeutschen Ermittlern entgangen war. Zudem begannen die resozialisierten DDR-Neubürger in bundesdeutscher Haft überwiegend zügig auszusagen. Einige von ihnen gehörten zu den Entführern Hanns Martin Schleyers. Ihre Geständnisse wiederum bewegten einen der Haupttäter zu einer Neuaussage. Peter-Jürgen Boock, wegen seiner Beteiligung an der Schleyer-Entführung ohnehin zu einer lebenslangen Strafe verurteilt, legte gegenüber der Bundesanwaltschaft so etwas wie eine »Lebensbeichte« ab.
Unter Nutzung der Stasi-Unterlagen und sehr ausführlicher Interviews mit Beteiligten habe ich 1997 die Ursprungsfassung dieses Buches ergänzt. Vor allem Peter-Jürgen Boock schilderte damals detailliert die Vorbereitungen der Schleyer-Entführung, die Tat selbst, die Unterbringung des Entführten in verschiedenen Verstecken, die Flucht der Hauptgruppe der Entführer nach Bagdad und schließlich die Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten. Die Aussagen Boocks deckten sich im Wesentlichen mit den Ermittlungsergebnissen und den Aussagen anderer Gruppenmitglieder sowie der einzig überlebenden »Landshut«-Entführerin, die fast zwanzig Jahre nach der Tat in Deutschland vor Gericht gestellt wurde.
All diese Materialien habe ich 1997 als zusätzliche Passagen und Kapitel in das Buch eingearbeitet, andere Teile des ursprünglichen Textes wurden revidiert und ausgebaut. Dann, dreißig Jahre nach dem »Deutschen Herbst«, habe ich mir das Buch noch einmal vorgenommen und mit neuen Rechercheergebnissen angereichert. Neu vor allem waren zahlreiche Indizien für geheimdienstliche Aktivitäten rund um den Hochsicherheitstrakt in Stammheim. Die schon in der Ursprungsausgabe geäußerten Vermutungen, dass die Gefangenen in ihren Zellen abgehört worden sind, haben sich dadurch weiter verdichtet.
Erstmals ist das Buch damals mit Fotos ausgestattet worden, einige davon stammen aus Ermittlungsakten und waren bisher weitgehend unbekannt; jetzt sind noch eine Reihe weiterer Aufnahmen dazugekommen.
Meine Sicht auf die Geschichte der RAF und die Reaktion des Staates auf die Gruppe hat sich im Laufe der Zeit im Lichte der neueren Erkenntnisse nicht wesentlich verändert – außer vielleicht in zwei Punkten: Wie genau man innerhalb der RAF über die Tatsache des Selbstmordes der Gefangenen in Stammheim Bescheid wusste und wie systematisch man die Mordlegende gestrickt hat. Und: Welch ein ungeheures Versagen des staatlichen Fahndungsapparates dazu geführt hat, dass...