2.1.1.1. Das Berliner Modell der Kleinkindpädagogik
Im Folgenden sollen Angaben zum Berliner Modell der Kleinkindpädagogik aus den 1980er Jahren gemacht werden, in dem der „Entwicklungsbogen“ bereits Anwendung fand.
In der „Enzyklopädie Erziehungswissenschaft“[19] finden sich folgende Angaben zum Modell: Das Berliner Modell der Kleinkindpädagogik ist einer von zwei Modellversuchen der 1980er Jahre. Dabei ging es bei diesem Modell um die „pädagogische Intervention mit Betreuern und Kindern in Krippen (...)“[20] Dazu heißt es weiter: „Beller u.a. (...) führten ein Modell der Kleinstkindpädagogik mit Erziehern in 25 Krippen durch. (...) Wichtige Ziele der ersten Erprobung des Modells in Krippen waren, die Pflege pädagogisch zu erweitern und die pädagogische Kompetenz der Erzieherinnen zu erhöhen. (...) Ein individualisiertes Eingehen auf das Kind und seine aktive Position wurden betont, um Selbstvertrauen, Neugierde, Empathie und Kooperation zu ermöglichen und dadurch die kognitive und sozial-emotionale Entwicklung des Kindes zu fördern. “[21]
Dieser Modellversuch war schon ein Vorläufer der aktuellen Bemühungen, aus Kindertageseinrichtungen professionelle Bildungsanstalten zu machen und sollte außerdem die „(...) pädagogische Funktion der Krippe und ihre fördernde Wirkung auf die Entwicklung des Kleinstkindes (...)‘[22] herausstellen. Die aktive Position des Kindes steht dabei ebenso im Vordergrund wie die zu fördernde pädagogische Kompetenz der Erzieher. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf den Ablauf des benannten Modellversuches[23] Die involvierten pädagogischen Fachkräfte wurden in der systematischen Beobachtung mit dem Ziel der Erstellung individueller Entwicklungsprofile sowie pädagogischer Erfahrungsangebote im Ansetzen an den Stärken unter Ausgleich der Defizite geschult. Das Procedere des Versuches umfasste drei Stufen und schloss neben einer Interventionsgruppe mit umfassender fachlicher Begleitung auch eine Kontrollgruppe mit geringerer fachlicher Betreuung ein. An dem sechs Jahre dauernden Modellversuch nahmen insgesamt 101 Erzieher und 193 Kinder im Alter zwischen 14 und 17 Monaten teil. Die Auswertung der Ergebnisse stützte sich auf drei Pfeiler: pre- und postZeitstichproben, den „Entwicklungsbogen“ selber und auch die „Bayley-Infant- Development-Scale“[24] Die Erzieher der Interventionsgruppe waren denen der Kontrollgruppe beispielsweise im Ausdruck positiver Gefühle oder dem Fördern autonomer Aktivitäten überlegen, währenddessen die Kinder der Interventionsgruppe unter anderem in der Selbstständigkeit der Körperpflege oder auch in der sozial- emotionalen Entwicklung überlegen waren. Ein weiteres Ergebnis kommt im folgenden Zitat zum Ausdruck: „Ein anderer qualitativer Schluss aus den Ergebnissen betrifft die unterschiedliche Wirkung der Intervention auf die Qualität des Erzieherverhaltens, das durch Intervention mehr oder weniger verändert wurde. So fanden wir, dass sich signifikante Veränderungen fast ausschließlich auf die Erhöhung positiver Verhaltensweisen beschränkten. Negative Verhaltensweisen wurden von der Intervention kaum verändert. Fazit: In einer kurzen (6monatigen) Intervention ist es kaum möglich, negative pädagogische Verhaltensweisen (...) kurzfristig abzubauen."[25] Das relativiert die konstatierten Effekte (Kompetenzsteigerung im Verhalten der Kinder und Erzieher), zumal fraglich bleibt, wie sich die Verhaltensweisen der Erzieher und Kinder nach dem Ende der Intervention gestalten.[26] Parallelen zu dem in der untersuchten Kinderkrippe angewendeten „Entwicklungsbogen“ liegen in der Betonung der aktiven Position des Kindes und der Zielstellung, eine den Stärken und Defiziten der Kinder angepasste Entwicklungsförderung zu ermöglichen.
Es war der Literatur nicht zu entnehmen, welche Konsequenzen aus dem Modellversuch gezogen wurden, auch wenn der „Entwicklungsbogen“ im Rahmen der aktuellen Erziehungs- und Bildungsdiskussionen sowie in einigen wenigen Publikationen im Bereich der frühkindlichen Pädagogik präsent ist.
2.1.1.2. Der theoretische Hintergrund des „Entwicklungsbogens“
Im Folgenden wird auf das dem „Entwicklungsbogen“ vermutlich zugrunde liegende Prinzip eingegangen.
Ein Ziel des „Entwicklungsbogens“ ist „(...) ein differenziertes Bild über die Entwicklung eines Kindes (...). Ausschlaggebend war dabei eher, wie sich die Kompetenzen oder Entwicklungsstände im betreffenden Kind verteilen als ihre Bewertung nach Altersnormen. Ein Profil oder Muster von Entwicklungsstärken und Schwächen eines Kindes gibt mehr Aufschluss über die Persönlichkeit des Kindes und eignet sich besser für individuelles differenziertes pädagogisches Planen als die relative Position des Kindes bezüglich dessen Altersnorm.“[27] Die Zielsetzung besteht also aus der Erstellung eines individuellen Entwicklungsprofils des einzelnen Kindes und nicht aus dem Vergleich mit einer Altersnorm. Der „Entwicklungsbogen“ ist dennoch in Altersphasen eingeteilt, die eine Orientierung für die Erzieher darstellen. Wenn diese an einem bestimmten Punkt feststellen, dass das Kind eine Kompetenz noch nicht erworben hat, sollte an dieser Stelle wiederholt beobachtet werden, was sich an bei allen Kindern innerhalb einer bestimmten Zeitspanne auftretenden konkreten Verhaltensweisen orientiert. Zudem müssen die Beobachtungsergebnisse in einem Kontext interpretiert werden.
Schaut man auf die Definition der „essentiellen Grenzsteine der Entwicklung“ kann man in der Literatur Folgendes lesen: „Meilensteine (Grenzsteine) der Entwicklung geben zu erwerbende Fähigkeiten innerhalb eines bestimmten Entwicklungsverlaufes an, die zu einem definierten Zeitpunkt von einem Kind erreicht werden. Absolviert ein Kind einen entsprechenden Meilenstein nicht, muss die Entwicklung eines solchen Kindes genauer überprüft werden.“[28] Weiter ist dort zu finden: „Grenzsteine der frühen kindlichen Entwicklung können als Screeningmethode des Entwicklungsstandes eines individuellen Kindes benutzt werden. (...) Grenzsteine sind definiert, in dem 90- 95% einer definierten Population von Kindern einen bestimmten Grenzstein passiert haben.“[29] Das deckt sich mit der Zielsetzung des „Entwicklungsbogens“, den Entwicklungsverlauf vom Kind in einer bestimmten Altersphase zu ermitteln, um ggf. noch weiter zu beobachten und auch geeignete Maßnahmen anschließen zu lassen. In einer anderen Quelle kann man außerdem weiter zum Prinzip der „essentiellen Grenzsteine“ lesen, dass dieses das Potential hat, Entwicklungs- oder Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern festzustellen.[30] Das will der „Entwicklungsbogen“ auch leisten. Das individuelle Entwicklungsprofil soll Stärken und Schwächen herausstellen, wobei es durchaus möglich ist, dass ein Kind die Verhaltensweisen nicht oder viel später als in der jeweils beschriebenen Phase zeigt. Dann obliegt es den Erziehern, in Orientierung an den anderen Kindern dieses Alters erneut zu beobachten und ggf. Entsprechende Förderungsmaßnahmen einzuleiten.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Datenlage zu den theoretischen Grundlagen des „Entwicklungsbogens“ sehr eng ist und laut Aussage einer persönlichen Email von Frau Beller dazu nur ein Manuskript in italienischer Sprache existiert und sonst keine weiteren Veröffentlichungen vorliegen.[31] Letztlich erschließt sich nicht, womit das Beobachtungsinstrument theoretisch und methodisch fundiert begründet wird. Wie die enge Datenlage zu interpretieren ist, sei an dieser Stelle ausgeklammert, so wird hier noch einmal festgehalten, dass sich die Autoren des „Entwicklungsbogens“ vom so genannten Prinzip der „essentiellen Grenzsteine“ abgrenzen[32], allerdings Parallelen dazu bestehen. Darüber hinaus war es leider nicht möglich, andere Informationen über die theoretische und methodische Fundierung des hier zu beschreibenden Instrumentes zu gewinnen.
2.1.2.1. Aufbau und Inhalt des Bogens
Der Beschreibung des „Entwicklungsbogens“[33] sind dazu folgende Informationen zu entnehmen: Der Bogen besteht aus acht Kompetenzbereichen der kindlichen Entwicklung: Körperpflege, Umgebungsbewusstein, Sozial-Emotionale Entwicklung, Spieltätigkeit, Sprache, Kognition sowie Grob- und Feinmotorik. Diese sind jeweils in 14 Phasen eingeteilt, wobei das erste Lebensjahr insgesamt vier Abschnitte zu je drei Monaten und das zweite bis zum sechsten Lebensjahr zehn Abschnitte zu je sechs Monaten enthalten. Insgesamt erstreckt sich der Anwendungsbereich des Instrumentes von der Geburt bis zum 72. Lebensmonat. Die Altersphasen enthalten konkrete Handlungsweisen der Kinder (insgesamt 649 Items), wie zum Beispiel im Bereich Grobmotorik in der Phase 1 (0-3 Monate): „1. Schlägt mit den Armen, zeitweise sehr heftig. “ oder „4. Hält den Kopf, wenn es senkrecht gehalten wird, hebt ihn für mehrere Sekunden, Minuten in Bauchlage hoch.“[34] Es handelt sich dabei um „Items oder...