Das Geheimnis der Zahl Pi Schon recht lange war Leibniz nicht bei seinem Mentor und Förderer zu Besuch gewesen, als er sich, wohl angemeldet und im Sonntagsstaat, am vorletzten Tag des Jahres 1673 auf den Weg zur Königlichen Bibliothek begab, um dem verehrten Christiaan Huygens in dessen Wohnung seine Aufwartung zu machen und zum bevorstehenden neuen Jahre den Segen des Himmels und gute Gesundheit zu wünschen. Diesmal hat er keine neue mathematische Entdeckung in der Tasche, aber während man so zusammensteht, sich nach dem werten Befinden erkundigt und sich gegenseitig Komplimente macht, lässt Leibniz die Bemerkung fallen, er sei im Besitz einer Formel, die den Inhalt einer Kreisfläche exakt angebe. Christiaan Huygens war sofort wie elektrisiert. Die Berechnung der Kreisfläche, auch die ‹Kreisquadratur› genannt, weil es seit langem um die Aufgabe ging, die Kreisfläche zu einem Quadrat umzurechnen, dies Problem beschäftigte ihn wie kaum ein anderes. Man vermochte die Zahl Pi, die man dazu brauchte, schon auf viele Stellen hinter dem Komma zu berechnen, wusste aber nicht, ob sie eine endliche Zahl sei.
In der Hoffnung, nun doch jemanden gefunden zu haben, der ihm das beweisen konnte, riet Huygens dem Besucher, sich mathematische Bücher zu leihen, und wies ihn besonders auf ein Werk des bedeutenden Schotten James Gregory hin, seines alten Gegners. Die britischen Mathematiker hielten Pi für eine Zahl, die sich nicht als Wurzel oder Bruch ausdrücken lässt. Über diese Frage war Huygens fünf Jahre zuvor (1668) mit Gregory in Streit geraten. Seine Einwände hatte der cholerische Schotte dem Holländer nicht verzeihen können, und das hiess damals, dass sich Huygens gleich alle Briten zu Gegnern gemacht hatte. Leibniz ahnte, er werde, wenn er zu der Frage Stellung nähme, selbst zwischen die Fronten geraten. Trotzdem hat er sich in den folgenden Wochen, wie er sollte, eingehend mit den Ansichten von Gregory befasst. Seinem Mentor konnte er nach langen Mühen immerhin den Gefallen tun zu zeigen, dass der Beweis von Gregory (gegen die Möglichkeit einer algebraischen Kreisquadratur) einen Fehler enthielt. Insgesamt aber war dessen Ansicht und Beweis richtig, und Huygens’ Hoffnung trog.
Bald hatte Leibniz jedoch Huygens etwas Aufregendes vorzulegen, als er ihm eine (in sehr deutlicher und schöner Handschrift angefertigte) Zusammenstellung eigener geometrischer Entdeckungen schickte, darunter tatsächlich eine Reihe für Pi, die er ein Jahr zuvor entwickelt hatte. Doch nicht einmal dem vertrauten Huygens mochte er dazu eine Ableitung liefern, sie blieb dem Meister daher unverständlich, und er musste erst um einen Beweis bitten. Den reichte Leibniz im Oktober (1674) nach. Die Reihe ist, so empfinden es viele Mathematiker, von ungewöhnlicher Schönheit. Doch auch Huygens erwies sich als Meister. Die von Leibniz nun endlich vorgelegte Ableitung konnte im November durch ihn, den grössten lebenden Mathematiker, mit kleinen Bleistiftnotizen noch verbessert werden, ehe er sie dem Verfasser zurückgab.
Es ist eine Entdeckung, die auch auf den Aussenstehenden viel Eindruck macht und noch heute ‹Leibniz-Reihe› genannt wird. Mit ihr gelang es Leibniz, die unheimliche und unfassbare Zahl Pi scheinbar ganz einfach anzugeben, indem er zeigte, dass sie, wenn man sie zunächst einmal durch vier teilt, einer verblüffend einfach gebauten Summe entspricht:
π/4 = 1/1 - 1/3 + 1/5 - 1/7 + 1/9 - … und so weiter.
Bis ins Unendliche. Erkennbar ist, dass nur die Vorzeichen immer wechseln und die Nenner der Brüche als ungerade Zahlen aufsteigen. Das Muster ist so einfach, dass man sich wundert, wieso sich Pi, teilt man es nur durch vier, als so regelmässig erweist. Noch erstaunlicher ist, wieso das der junge Jurist aufdecken und dann auch noch beweisen konnte. Er hatte die Reihe abgeleitet aus seinem neuen ‹Transmutationssatz›, mit dem sich generell Flächen bestimmen liessen. Er musste dabei den Vorgang nicht mehr mit Worten oder gezeichneten Strecken beschreiben, sondern rechnete mit Buchstaben-Bezeichnungen. Die Überlegungen seiner Vorgänger waren schwerfällig und starr; erst durch die Leibnizsche Kunst der Bezeichnung sind die Schritte leicht zu erfassen und flüssig darstellbar. Das genau ist der Fortschritt beim Übergang von der ‹geometrischen› Methode der älteren Schule zur ‹analytischen› Darstellungsweise bei Leibniz. Der gleiche Vorteil wird sich alsbald auch bei der neuen Mathematik der Kurven und Flächen zeigen.
Huygens hat sich in den Transmutationssatz, den Leibniz ihm vorgelegt hatte, vertieft, war auch noch in der Lage, ihn zu verstehen, und billigte ihn, aber die weitreichende Bedeutung dieser neuen Schreibweise konnte er nicht mehr erkennen. Zum ersten Mal zeigte sich bei ihm eine Hemmung gegenüber den eleganten Neuerungen, die Leibniz vorschlug. Der 45-jährige Huygens war nicht mehr beweglich genug, um den Fortschritt zu sehen, den die neue Methode eröffnete.
Die Leibniz-Reihe ist heute noch so verblüffend wie damals. Allerdings war Leibniz nicht der Erste, der eine Kettenreihe für Pi gefunden hat. Der Schotte James Gregory hatte sie so ähnlich drei Jahre vor Leibniz ebenfalls entwickelt, was aber noch niemand auf dem Kontinent ahnte. Immerhin konnte Leibniz die Reihe viel eleganter ableiten und beweisen und in schönerem Gewand niederschreiben, denn Gregor hatte die numerische Darstellung von Pi/viertel, die Leibniz gelang, nicht bemerkt.
Dass Pi eine irrationale und transzendentale Zahl ist, wurde erst mehr als zweihundert Jahre später, 1882 durch die deutschen Mathematiker Ferdinand von Lindemann und Karl Weierstraß bewiesen. Das bedeutet unter anderem, dass, wenn man Pi mit Stellen nach dem Komma schreibt, diese Stellen niemals abbrechen. Unnötig deshalb, dass man Pi in der Gegenwart mit starken Computern auf zwei Milliarden Stellen ausgerechnet hat, denn es kann sich kein Muster und kein Ende ergeben. So elegant, wie Leibniz ein Viertel Pi als Kettenbruch dargestellt hat, wollte sich diese Zahl nie wieder zeigen.
Ein Erfinder wird bestaunt Es war ein mühsamer Weg zur Rechenmaschine. Alle Handwerker, die Leibniz in Paris beschäftigte und aus seinen geringen Ersparnissen bezahlen musste, hatten die Lust verloren, doch dann fand Leibniz in dem Mechaniker Olivier einen ungewöhnlichen Könner, der die revolutionäre Maschine herzustellen wusste. Im Sommer 1674 ist das neue Modell endlich einigermassen funktionsfähig. Nun hat der stolze Erfinder das Stück gern in seiner Nähe, er führt es, ohne sich lange bitten zu lassen, anderen Leuten vor, und sein Ruhm als Erfinder verbreitet sich unter Pariser Wissenschaftlern. Wie seine Erfindung im Inneren aussieht, hat Leibniz jedoch nie verraten. Da diese Maschine später verloren ging, wüsste man es auch heute nicht, wenn er sich nicht Einzelheiten auf Zetteln notiert hätte, die er so wenig wegwerfen konnte wie alle seine Papiere und Notizen. Ausserdem ist ein späterer Bau, der wohl recht ähnlich ist, bis heute erhalten.
Mit der Rechenmaschine sozusagen unter dem Arm, traut sich Leibniz am 15. Juli (1674), endlich wieder – nach fast einem Jahr des Schweigens – an Oldenburg zu schreiben. Das Instrument errege Aufsehen, und er hoffe, der Royal Society die Maschine bald vorführen zu können. Nur wisse er noch nicht, wann er kommen könne, denn seine Zeit sei sehr ausgefüllt mit Aufträgen hochgestellter Persönlichkeiten. Dabei beschreibt er die Maschine: Alles sei leicht auszuführen, ohne dass man den Geist anstrengen müsse.
Im gleichen Brief an Oldenburg heisst es: In der Mathematik habe er einiges gefunden, und zwar «mehr durch glückliche Eingebung als durch langwieriges Studium». Natürlich erwähnt er gern sein Prunkstück, die Reihe für Pi, doch die Engländer bekommen, wie damals üblich, nur Andeutungen. Oldenburg antwortet erst am 18. Dezember (1674), und er schreibt recht zurückhaltend. Die Rechenmaschine, mit deren wohlwollender Bewertung sich Oldenburg in London einmal blamiert hat, begrüsst er zwar, nennt sie aber nun «das Instrumentchen». Von der Kreisquadratur meint er ganz allgemein, Newton und Gregory hätten da umfassende Methoden. Leibniz soll offenbar ebenfalls nichts Näheres erfahren und deutet sich die Mitteilung so, die Engländer seien überhaupt noch nicht in der Lage, solche Flächen zu berechnen. Der Brief, der den Empfänger wohl eher...