Prolog
»Wenn die Gewichte nicht in 30 Sekunden gewechselt sind, trete ich dir in den Arsch.«
Mein Gott, dachte ich, während ich eine grün gummierte Hantelscheibe auf die 20 kg schwere Hantelstange packte und Mühe damit hatte, sie mit der Klammer zu fixieren. Ich tat mein Bestes, um die Fassung zu bewahren, aber vor der bevorstehenden Übung hatte ich einen Heidenrespekt: In einer fließenden Bewegung sollte ich eine 61 kg schwere Hantel vom Boden heben und über den Kopf stemmen – bei den Olympischen Spielen nennt man diese Technik »Reißen«. 61 kg überstiegen meinen persönlichen Rekord um ganze 9 kg. Vor meinem geistigen Auge sah ich mich jämmerlich scheitern, was meine Erwartungen an mich selbst weiter dämpfte.
Stellen Sie sich eine Wellnessoase mit chromglänzenden Hanteln und gediegenen Umkleideräumen vor. Dann stellen Sie sich das genaue Gegenteil vor und Sie haben eine ungefähre Vorstellung davon, wie der Ort aussah, an dem ich trainierte. Das San Francisco CrossFit (SFCF) befindet sich auf einem Parkplatz hinter einem großen Sportfachgeschäft im Presidio, einem ehemaligen Militärstützpunkt. Es gibt dort keine Türen, nur mit Graffiti besprühte Container, eine Plastik-Überdachung, die laute Reißgeräusche von sich gibt, wenn der Wind dagegen schlägt (was eigentlich immer der Fall ist), und schwarze Gummimatten. Beleuchtet wird das Ganze durch vergitterte Bau-Scheinwerfer. Auf ein Whiteboard, das vor einer Betonwand steht, wurde das Kürzel »HTFU« gekritzelt. Es ist ein in der Welt des CrossFit allseits bekanntes Akronym, das Harden The Fuck Up bedeutet, auf Deutsch etwa »Reiß dich verdammt noch mal zusammen«. Im SFCF ist das keine leere Floskel. Die Sportler trainieren hier bei Nacht, bei Regen und auch wenn ein unangenehmer, nasskalter Wind weht.
Und jetzt bin ich hier und kämpfe mit der zweiten Stufe der CrossFit Open. Kelly Starrett, der Besitzer der Einrichtung und mein heutiger Trainer, hat schon einmal damit gedroht, mir in den Arsch zu treten, und zwar während der ersten Phase der Qualifizierung für die CrossFit Games. Er dachte, ich würde mit meinen Kräften haushalten und mich nicht genügend anstrengen – eine Einstellung, die er zutiefst verachtet (obwohl das überhaupt nicht zutraf). Schlussendlich schaffte ich die erste Runde mit durchaus passablen Ergebnissen, die mich den Spielen einen Schritt näher brachten. Jetzt, heute, nahm ich an der zweiten Ausscheidungsrunde der Open 2012 teil.
Die Games sind eine dreitägige Veranstaltung, die aus extrem anspruchsvollen Wettbewerben besteht, in denen die Sportlichkeit und körperliche Fitness der Teilnehmer auf eine harte Probe gestellt werden. Sie basieren auf einem Trainings- und Fitnesskonzept namens CrossFit, das sich immer stärker ausbreitet und mittlerweile in über 4000 Studios weltweit praktiziert wird (Tendenz steigend). Die besten CrossFit-Jünger, die bei den CrossFit Open sowie verschiedenen Regionalwettbewerben ermittelt werden, qualifizieren sich für die drei Tage währenden CrossFit Games. Ich nahm zum ersten Mal daran teil und befand mich gerade in der zweiten Woche eines fünfwöchigen Turniers, zusammen mit Tausenden anderen CrossFit-Sportlern, die aus dem ganzen Land herbeigekommen waren und sich derselben Prüfung unterzogen wie ich, als mich der SFCF-Mitinhaber und Cheftrainer anblaffte.
»Noch 20 Sekunden.«
Ich musste mich zusammenreißen. Tatsächlich versuchte ich keineswegs, meine Kräfte einzuteilen. Ich wollte nur die Schmach abwenden, die mir unvermeidlich bevorzustehen schien. Angesichts meiner praktisch nicht vorhandenen Erfahrung im Reißen hätte ich nämlich genauso gut versuchen können, statt der 61 kg einen Kleinwagen zu stemmen. Ich bestückte die Hantelstange jetzt aber schneller, weil ich gewiss nicht von einem 105 kg schweren ehemaligen Profi-Kanuten, der mindestens doppelt so stark war wie ich, in den Arsch getreten werden wollte.
Dieses Workout des Wettkampfs lief folgendermaßen ab: Ich hatte zehn Minuten Zeit, um möglichst viele Wiederholungen zu schaffen, und zwar in der Reihenfolge:
34 kg – 30 Mal
61 kg – 30 Mal
75 kg – 30 Mal
95 kg – so oft wie möglich
Die 34 kg hatte ich problemlos geschafft, doch ich wusste, dass mir die 61 kg Probleme bereiten würden. Im Laufe dieses Tages absolvierte der Sieger der CrossFit Games 2011, Rich Froning Jr., insgesamt 98 Wiederholungen, das heißt, er stemmte die 34, 61 und 75 kg spielend leicht und wuchtete die 95 kg immerhin stolze acht Mal hoch, bevor seine zehn Minuten verstrichen waren. Er war der einzige Teilnehmer, der mehr als 90 Wiederholungen schaffte. Als ich das Wettkampf-Programm zum ersten Mal sah, wusste ich, dass das Reißen einer 34-kg-Hantel ein Klacks sein würde. Allerdings lag meine Bestleistung im Reißen damals bei 52 kg, und auch das war mir bis dahin nur einmal gelungen und auch kein schöner Anblick gewesen. Als es mir nach einer halben Stunde vergeblicher Mühe endlich gelungen war, die 52 kg über den Kopf zu stemmen, war ich regelrecht euphorisch. Und voller Ehrfurcht vor jenen, denen es wie Froning gelang, diese Übung leicht aussehen zu lassen. Jetzt war die Hantel 9 kg schwerer.
In der ersten Woche der CrossFit Open gab es einen Test, bei dem mit einer Stoppuhr gemessen wurde, wie viele Burpees man schaffte. Man beginnt im Stehen, springt in die Liegestütz-Position, zieht die Knie zur Brust und schließt mit einem Strecksprung ab. Es ist eine klassische Turnübung, die einfach auszuführen ist, aber nach 25 Wiederholungen hat man das Gefühl, man hätte einen Herzschrittmacher eingesetzt bekommen, der plötzlich außer Rand und Band gerät. Das 12.1-Workout, bei dem man versucht, in sieben Minuten möglichst viele Burpees zu absolvieren, war ein Test, der der Lunge alles abverlangte, aber wie geschaffen war für ehemalige Wettkampfläufer wie mich. Ich schaffte 103 Stück, woraufhin ich benommen umhertaumelte wie ein angeschossenes Rebhuhn. Das Reißen aber war eine ganz andere Nummer – es passte einfach nicht zum Körperbau und den Bewegungsmustern eines ehemaligen Marathonläufers und Ironman-Finishers, der die 40 bereits überschritten hatte.
Als ich also den Schweiß von meinen schwieligen Händen schüttelte, die 1,72 Meter lange Stange an den geriffelten, schwarz eloxierten Griffen packte und in die Hocke ging, um die 61 kg zu reißen, war mir klar, dass ich beobachtet wurde. Nicht nur Starrett blickte mich gespannt an, sondern auch ein Kampfrichter und zahlreiche Teilnehmer der CrossFit Open, einschließlich meiner Freundin Gretchen, die es in die Finalrunde geschafft hatte.
Ich hob die Hantel an. Die Steigerung von 34 auf 61 kg war ein Schock. Als Anfänger wird einem beigebracht, die Stange langsam vom Boden zu heben, das Körpergewicht muss dabei auf den Fersen liegen, und sobald die Stange auf Kniehöhe ist, führt man einen Sprung aus – man stößt die Hüften explosiv nach oben, wodurch die Hantel so weit hochgerissen wird, dass man sich (im Idealfall) von unten gegen die Hantel stemmen und sich in einer tiefen Kniebeuge unter ihr platzieren kann. Im Idealfall befindet sich die Langhantel dann direkt über dem Kopf, die Ellbogen sind durchgedrückt und man richtet sich auf, bis die Knie gestreckt sind und man aufrecht steht, die Hantel völlig unter Kontrolle hat und alle Knochen feinsäuberlich unter der Last angeordnet sind. Im Idealfall eben. Bis ich selbst damit anfing, diese Art von Krafttraining zu praktizieren, konnte ich dem Olympischen Gewichtheben nie etwas abgewinnen. Inzwischen weiß ich, dass die besten Gewichtheber Koordination, Beweglichkeit, Schnelligkeit und Kraft miteinander kombinieren müssen, um eine fließende, harmonische Bewegung zustande zu bringen. Früher dachte ich, dass es beim Gewichtheben nur um rohe Gewalt gehe. Dem ist aber nicht so.
Ich sprang und die Hantel hob sich über das Becken, etwa bis auf Höhe des Brustbeins. Dann siegte die Schwerkraft und die Langhantel knallte mit großem Getöse auf den Boden. Die Erschütterung durch das gewaltige Gewicht zusammen mit der Erkenntnis, dass ich soeben völlig versagt und nicht einmal eine Wiederholung geschafft hatte, verschaffte mir einen gehörigen Adrenalinschub. Ich stampfte mit beiden Beinen wütend auf und brüllte: »Scheiße!«
Dieser Adrenalinschub hatte sowohl etwas Negatives als auch etwas Positives. Zum einen war ich fest entschlossen, es weiter zu versuchen, und wenn auch nur, um meinem Ärger Luft zu machen. Zum anderen sieht man in so einer Situation schnell aus wie ein Golfer, der versucht, einen im Sand versunkenen Ball zu schlagen. In diesem kleinen Wutanfall aber liegt ein Teil des Geheimnisses, weshalb CrossFit in den letzten sieben Jahren so starken Zulauf bekommen hat: Es setzt ganz bewusst auf Konkurrenzdenken – gegen andere und gegen sich selbst –, um ungeahnte Kräfte zu mobilisieren und hohe Belastungen zu bewältigen.
Nach drei weiteren Versuchen und drei wortreichen Wutanfällen sagte Starrett in ruhigem Tonfall: »So wird das nichts. Wir brauchen einen neuen Plan.« In den folgenden Minuten – begleitet von einigen weiteren erfolglosen Versuchen – gab mir Starrett einige enorm wertvolle Tipps. Ich sollte die Hände enger zusammennehmen. Die Brust in die richtige Position bringen. Den Bewegungsablauf im Kopf durchgehen, damit die Stange eine optimale Flugbahn beschrieb.
»Stell dir vor, du wirfst die Stange hoch, zuerst über und dann hinter den Kopf.« Er deutete auf den Highway, der hinter uns bzw. dem Parkplatz lag. »Wirf sie über den Highway.«
Die Stange stieg bei jedem nachfolgenden Versuch ein wenig höher, aber es gelang mir nach wie vor nicht, im...