2. Laozi und die Anfänge des Daoismus
Jede Darstellung des Daoismus hat mit dem Daodejing zu beginnen, seinem vermutlich frühesten Text. Die chinesische Tradition schreibt ihn einem Gründervater Laozi zu, um dessen Leben sich zahlreiche Legenden ranken. Die erste Biographie des Laozi steht in den um das Jahr 100 v. Chr. vollendeten «Aufzeichnungen des Schreibers (Shiji)» des Sima Qian (145?–ca. 87 v. Chr.). Dieser berichtet, dass Laozi aus einem im damaligen Südchina gelegenen Ort stammte. Sein Nachname sei Li gewesen und sein Vorname Er, was «Ohr» bedeutet. Auch der historisch verbürgte Mannesname, ein von Freunden und Verwandten benutzter Zweitname, deutet auf die Ohren hin: «Dan» bedeutet nämlich «Langohr». Dies ist interessant, weil die langen Ohren ein aus der Ikonographie hinreichend bekanntes Merkmal des Buddha sind. Sie gehören zu dessen 32 körperlichen Merkmalen und symbolisieren seine Lebenskraft. Vor Sima Qian war der Nachname des Laozi offenbar nicht bekannt. In frühen Texten wird er regelmäßig als Lao Dan bezeichnet. Dies hat dazu geführt, dass Teile der Tradition den Namen Lao, der nichts anderes als «alt» bedeutet, als Nachnamen verstanden und so aus dem «Alten Meister» einen «Meister Lao» gemacht haben.
Wir wissen über Laozi nicht viel, und die Biographie des Sima Qian hat offenbar Legendencharakter. Sie schreibt dem Laozi zuallererst das Amt eines Schreibers in den Archiven der Zhou-Dynastie zu, um dann fortzufahren, dass Konfuzius sich in jungen Jahren bei ihm über die Riten der Zhou informierte. Dieser Sachverhalt scheint den späteren Laozi-Traditionen und auch einer offenbar polemischen Stelle im 38. Kapitel des Daodejing, in dem Riten als Produkt einer Verfallszeit genannt sind, zuwiderzulaufen. Indessen ist die daoistische Religion natürlich von zahlreichen Ritualen geprägt, so dass die Beschäftigung des Laozi mit Riten auch nicht zu sehr überraschen muss. In der dazugehörigen Anekdote, die sowohl in der daoistischen als auch in der konfuzianischen Tradition in zahlreichen unterschiedlichen Versionen erzählt worden ist, tritt Laozi als Lehrer des Konfuzius auf, der ihm den Rat gibt, seine Arroganz und seine liederlichen Gedanken abzulegen. Konfuzius akzeptiert diesen Rat mit hohem Respekt.
Laozi (auf dem Podest)
unterweist den Konfuzius.
Laozi habe, so heißt es bei Sima Qian weiter, «Weg und Tugend» kultiviert. Seine Lehre ziele auf den Rückzug aus der Gesellschaft ab und darauf, dass man sich keinen Namen machen solle. Nachdem er erkannt habe, dass der Staat der herrschenden Zhou-Dynastie sich im Niedergang befand, habe er beschlossen, ihn zu verlassen – ganz anders als Konfuzius, der versuchte, den Verfall durch seine Lehren aufzuhalten. Laozi sei aber auf seiner Reise an einem Grenzpass angelangt, wo ihn der Wächter aufforderte, für ihn seine Lehre in einem Buch niederzulegen. Dann erst wolle er ihn hinauslassen. Daraufhin habe Laozi ein Buch in zwei Kapiteln verfasst, in dem er in etwas über 5000 Worten den Sinn von Weg und Tugend darlegte. Dann sei er von dannen gezogen, und niemand wisse, wo er gestorben sei. Jedoch sei er über 160 Jahre alt geworden oder gar über 200 Jahre, weil er sich gut auf Lebensverlängerungstechniken verstand.
Laozi erreicht mit seinem Ochsenwagen
den Hangu-Pass.
Die Daten über die frühe Lebenszeit des Laozi sind also mehr als dunkel. Doch Sima Qian schließt noch einige Bemerkungen über Zeiten an, für die er mehr Anspruch auf Authentizität erheben kann. Im Jahr 350 v. Chr. habe der Hauptschreiber Dan in der Hauptstadt der zentralen Zhou-Dynastie die Prophezeiung gemacht, dass die Qin-Dynastie die Zhou ablösen werde, und manche Stimmen meinten, dieser Dan sei eben Laozi gewesen. Sima Qian erwähnt auch den Namen des Sohnes von Laozi, eines Generals aus Wei, einem Staat, der nominell den Zhou unterstellt war, in Wahrheit aber wahrscheinlich einfach nur benachbart. Aufgrund seiner militärischen Verdienste sei dieser General mit einem Ort namens Duangan belehnt worden. Eine Familie Duangan wiederum, die offenbar hier ein Lehen hatte und deshalb den Ortsnamen zu ihrem Familiennamen machte, ist für die Zeit des vierten vorchristlichen Jahrhunderts auch in anderen Quellen belegt. In dieser Zeit fangen wir hinsichtlich der Person des Laozi zum ersten Mal an, festeren Boden unter den Füßen zu gewinnen. Die 31. Strophe des Daodejing beginnt mit den Versen:
Wohl! Eben weil die Waffen Geräte des Unheils sind
Und die Wesen sie hassen,
Darum weilt, wer den Weg hat,
Nicht in ihrer Nähe …
Waffen sind Geräte des Unheils,
Keine Geräte des Edelmanns.
Nur wenn er nicht umhin kann, gebraucht er sie.
(Übers. Günther Debon)
Doch findet sich der gleiche Satz in vielen anderen Texten der alten chinesischen Tradition, unter anderem auch in den ältesten Schriften der chinesischen Militärklassiker. Diese sind, vielleicht für manchen überraschend, auf vielerlei Art mit der daoistischen Tradition verwoben. Ein chinesischer Beobachter des zwanzigsten Jahrhunderts stellt deshalb fest: «Die daoistische und die militärtheoretische Tradition berühren einander.» Insofern entspricht die Nachricht, dass der Sohn des Laozi General war, den Befunden der Texte recht gut. «Dao» und Militär: Das mag europäische Daoismusfreunde der Neuzeit, die sich von Laozi eher Esoterisches erwarten, überraschen. Doch im alten China gingen diese beiden Dinge Hand in Hand.
Die Tatsache, dass der Sohn des Laozi im vierten Jahrhundert v. Chr. gelebt haben soll, entspricht recht genau den Ergebnissen der Textforschung, die aufgrund sprachlicher Kriterien seit langem der Auffassung ist, dass der Laozi-Text in etwa auf die Mitte des vierten vorchristlichen Jahrhunderts zu datieren sei. Zwei spektakuläre Textfunde, welche die chinesische Archäologie aus Gräbern des beginnenden zweiten vorchristlichen Jahrhunderts geborgen hat sowie später aus einem Grab, das auf die Zeit um 300 v. Chr. datiert wird, scheinen diese Datierung weiter zu bestätigen. Im südchinesischen Mawangdui, wo im Dezember 1973 ein Grab geöffnet wurde, dessen Schließung auf das Jahr 168 v. Chr. datiert wird, fand man nämlich gleich zwei Fassungen des Daodejing, die zwar zahlreiche Abweichungen vom traditionell überlieferten Daodejing aufweisen und bei denen die Reihenfolge der beiden Kapitel vertauscht ist, die aber ansonsten den überlieferten Text für dieses frühe Datum weitgehend bestätigen. Drei 1993 entdeckte Textrollen aus Guodian in der mittelchinesischen Provinz Hubei weisen im Gegensatz zu den überlieferten Textfassungen keine Kapitelunterteilung auf. In dem Text, der etwa zwei Fünftel des bekannten Laozi-Textes enthält, dafür aber weitere Sprüche aufweist, die sich im traditionell überlieferten Text nicht finden, ist auch die Reihenfolge der einzelnen Kapitel anders als bisher bekannt. Dies scheint auf den ersten Blick denjenigen recht zu geben, die im zwanzigsten Jahrhundert die These aufgestellt haben, das Daodejing sei ursprünglich eine autorlose Spruchsammlung gewesen und die Zuschreibung an Laozi nur eine fromme Legende. Indessen ist, selbst wenn viele der Verse des Daodejing Spruchgut gewesen sein sollten, nicht auszuschließen, dass Laozi ein genialer Kompilator und damit eben doch Autor des Textes war.
In seiner tradierten Form umfasst das Daodejing 81 Kapitel oder Abschnitte, die eine oder mehrere Strophen enthalten, die wiederum aus einer unterschiedlichen Zahl an großenteils gereimten Versen bestehen. Die ersten 37 Kapitel bilden das erste, die folgenden 44 Kapitel das zweite Buch. Dass diese Einteilung nicht selbstverständlich ist, wissen wir nicht erst seit den Textfunden des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts. Wir verfügen über einen wohl aus der Han-Zeit stammenden, nur zur Hälfte überlieferten frühen Kommentar, bei dem der Haupttext offenbar auf 72 Abschnitte verteilt war. Ein weiterer Kommentar, der allerdings nur für das erste Kapitel erhalten ist, unterteilte das Daodejing überhaupt nicht, sondern las es als fortlaufenden Text.
Die Inhalte der Lehre des Laozi fasst Sima Qian in wenigen Worten zusammen: Li Er habe «nicht gehandelt wu wei und sich selbst transformiert, er war klar und still und stellte sich selbst richtig.» Damit sind bereits einige zentrale Schlagworte genannt, die mit den Inhalten des Daoismus auch in späteren Zeiten untrennbar verbunden blieben. Dabei ist der Text des Daodejing in seiner Formelhaftigkeit an vielen Stellen schwer verständlich. Schon in der ersten Strophe zum Beispiel hat der Leser größte Schwierigkeiten, zu verstehen, was gemeint ist. Nach dem oben bereits zitierten Eingangspassus über den Weg und die Namen geht es nämlich weiter mit den Versen:
Was ohne Namen, ist Anfang von Himmel und Erde
Was Namen hat, ist Mutter den zehntausend Wesen.
Das mag man noch verstehen: Himmel und Erde sind gestalthaft und haben einen Namen – sie könnten es sein, die den Dingen wie eine Mutter sind. Doch dann heißt es:
Deshalb, wer ständig ohne Begehren, schaut...