I. 1811–1827
Aus Raiding hinaus
«Aus Ungarn gebürtig»: So wird der kindliche Klaviervirtuose Franz Liszt auf den Programmzetteln seiner ersten Auftritte vorgestellt. Ungarn – «die Länder der Stephanskrone» – war damals Teil der Habsburgermonarchie; diese war, im Zuge der Auflösung des alten «Heiligen Römischen Reiches», von Franz I. – der bis dahin, als Franz II., der letzte römisch-deutsche Kaiser war – 1804 als Erbkaisertum Österreich proklamiert worden. (Nach der Staatsreform von 1867, dem «Ausgleich», hieß das Reich dann «Österreichisch-Ungarische Monarchie», die so genannte Doppelmonarchie, oder kurz «Österreich-Ungarn».) Etwas salopp formuliert: Liszt war also zugleich ‹Österreicher›, nämlich als Untertan des Kaiserreichs Österreich, und, weil im ungarischen Reichsteil geboren, ‹Ungar›; was freilich keinen der beiden heutigen Staaten Österreich und Ungarn berechtigt, Liszt als ‹einen der Ihren› im neuzeitlichen Sinne zu vereinnahmen. Der Staatsbegriff der Habsburgermonarchie beruhte auf der Legitimation der Herrschaft und der Loyalität der Untertanen – der ‹Völker›, wie man in Österreich sagte, mit ihren verschiedenen Sprachen – gegenüber der Herrschaft. Vor 1918, erst recht vor 1848, spielte das Kriterium der Nationalsprache, das für das Selbstverständnis des modernen Nationalstaats als ideal homogener Volksstaat oft so kampfeslustig in Anspruch genommen wurde und wird, eine nur marginale Rolle; Sprachenstreitigkeiten – wie etwa heute im Exjugoslawien oder, äußerst hitzig, zwischen der Slowakei und Ungarn – gab es allenfalls auf unteren Ebenen.
Franz Liszt wurde am 22. Oktober 1811 als einziges Kind von Adam Liszt und seiner aus Krems stammenden Frau Anna in Raiding geboren. Das Dorf Raiding, rund 50 Kilometer südlich von Eisenstadt, lag ganz im Westen des Königreichs Ungarn, in einem Gebiet, das nach dem Ersten Weltkrieg (durch den Friedensvertrag von Trianon 1920 und teilweise aufgrund der Volksabstimmung von 1921) der Republik Österreich als ‹Bundesland Burgenland› eingegliedert wurde. In Westungarn war die Bevölkerung überwiegend deutschsprachig; deutschsprachig waren Liszts Eltern, vornehmlich deutschsprachig auch – schon wegen ihrer Nähe zum Wiener Kaiserhof – die Esterházy, eine der größten Magnatenfamilien Ungarns, in deren Diensten Adam Liszt stand. Die bedeutendste Linie der Esterházy, die fürstliche, hatte Besitzungen vor allem in Westungarn; Paul I., der erste gefürstete Esterházy, baute die ehemalige Wasserburg von Eisenstadt zu dem trutzig-barocken Residenzschloß um, wie es sich bis heute zeigt. Seit der Regentschaft Pauls, der für seine Hilfe bei der Verteidigung Wiens gegen die Osmanen mit dem Fürstentitel belohnt wurde (1687), stehen die Esterházy stets loyal auf der Seite der Habsburgerherrschaft.
Adam Liszt, das älteste von zwölf Kindern von Georg Adam Liszt (List) – ein weiteres Dutzend hatte dieser dann aus zwei späteren Ehen –, einem Schullehrer und Kantor in Edelsthal im heutigen nördlichen Burgenland, besuchte das Gymnasium in Preßburg/Pozsony (Bratislava), jahrhundertelang die Haupt- und Krönungsstadt Ungarns. Dann war er zwei Jahre in einem Franziskanerkloster und begann anschließend ein Philosophiestudium. Schon ein halbes Jahr später aber war er als Wirtschaftspraktikant auf dem Esterházy-Gut Forchtenstein und wurde 1800, im 24. Lebensjahr, als Amtsschreiber Esterházyscher Beamter.
Seine materielle Versorgung war damit gesichert; ein Lebensziel war die Kanzlei für Adam Liszt nicht. Am meisten schien dem jungen Mann, den die Franziskaner seines «unbeständigen, veränderlichen Geistes» wegen verabschiedet hatten, offenbar die Musik am Herzen zu liegen. Als Schüler wie dann als Student in Preßburg hatte Adam Liszt umfänglichen Musikunterricht erhalten; 1801 komponierte er ein Te Deum und widmete es seinem fürstlichen Dienstherrn. Franz Liszt, 1874 von seiner Biographin Lina Ramann schriftlich befragt, teilt über den Vater mit: «Auch als Musiker zeichnete er sich aus, spielte mehrere Instrumente (Clavir, Violin, Cello und Guitar) und während der Glanzperiode der Esterházy’schen Kapelle (…) befreundete er sich mit Haydn, Hummel, und wirkte häufig als Dilettant in der Kapelle mit.» Ähnliches schrieb schon der Pariser Theaterkritiker Joseph d’Ortigue 1835 in seiner kleinen Liszt-Biographie, der ersten überhaupt: «Ohne Pianofortespieler vom ersten Rang zu sein, hatte Adam Liszt doch ein höchst merkwürdiges Talent zum Vortrag. Vollkommener Musiker, der er war, spielte er fast alle Instrumente» (so in einer zeitgenössischen deutschen Übersetzung). D’Ortigues Gewährsleute waren natürlich Franz Liszt selbst und dessen damals in Paris lebende Mutter.
Tatsächlich war es Adam Liszt, auch dank überdeutlicher Hinweise auf seine musikalischen Fertigkeiten, schließlich gelungen, an den Eisenstädter Hof versetzt zu werden, wo er von 1805 bis 1808 eine Amtsschreiberstelle innehatte. Eine kulturelle «Glanzperiode» des Esterházy-Hofs waren jene Jahre in der Tat – die zweite (und für alle Zeiten letzte) Glanzperiode nach derjenigen von Nikolaus I., dem «Prachtliebenden», dem Erbauer des weitläufigen, leicht übertrieben mit Versailles verglichenen Sommerpalasts Eszterháza (Fertöd/Ungarn) und langjährigen Dienstherrn und Förderer Joseph Haydns. Der Enkel, Nikolaus II., der 1794 das Esterházysche Majorat antrat, trug nicht nur des Großvaters Namen, er teilte auch dessen verschwenderische Kunstliebe – so verschwenderisch, auch beispielsweise mit riskanten Theaterinvestitionen, daß sogar die respektablen Esterházyschen Ressourcen nicht mehr ausreichten. («Seine ungeheuren Ausgaben legten den Grund zum materiellen Ruin des Hauses», schreibt 1893 der Brockhaus lakonisch über Nikolaus II. Esterházy.) Der Fürst sammelte in großem Stil Kunstschätze; den Eisenstädter Schloßpark verwandelte er, der Zeitmode gemäß, in einen englischen Landschaftsgarten; 1803 ließ er sogar eine Dampfmaschine aus England importieren, einen deutschen Mechaniker zur Bedienung dazu – allein um damit beeindruckende Wasserlustspiele zu betreiben …; eine geplante opulente Erweiterung des Schlosses, mit Opernhaus und Gemäldegalerie, konnte zwar nicht mehr durchgeführt werden, immerhin wurde der Festsaal für Theaterzwecke umgebaut.
Die Hofkapelle, vom väterlichen Vorgänger größtenteils weggespart, wurde sogleich neu etabliert und Joseph Haydn, inzwischen eine europäische Berühmtheit, doch hochbetagt, wieder zum (nominellen) Hofkapellmeister ernannt; das Amt versah de facto Johann Nepomuk Hummel, «Concertmeister» seit 1804. Der in Preßburg geborene Hummel (Haydns Geburtsdorf Rohrau liegt übrigens in der Nähe), seinerzeit als Klaviervirtuose wie als Komponist hoch angesehen, blieb bis 1811 in Eisenstadt und ging dann nach Weimar. Mozart-Opern, Singspiele von Hummel wurden im Eisenstädter Schloßtheater gegeben; 1807 leitete Beethoven in der Schloßkapelle eine Aufführung seiner C-Dur-Messe op. 86, ein Auftragswerk für Fürst Nikolaus. Adam Liszt spielte hier als Cellist im Orchester mit; anscheinend wurde er auch sonst für musikalische Aufgaben gelegentlich herangezogen. Daß freilich Haydn mit ihm «sehr befreundet» gewesen sei und regelmäßig mit ihm Karten gespielt hätte, wie der schon erwähnte d’Ortigue und ein halbes Jahrhundert später noch der greise Franz Liszt erzählen, ist wenig glaubwürdig, allein weil Haydn ab 1805 kaum noch nach Eisenstadt kam und sich sogar in Wien nur selten in der Öffentlichkeit zeigte.
Adam Liszt hat diese Legende offensichtlich selbst in die Welt gesetzt: als fiktiv überhöhte Erzählung von seiner großen Zeit in Eisenstadt, als er ja seinem idealen Lebensziel so nahe gewesen war. Realistisch gesehen, gab es für den Dienstherrn allerdings wenig Grund, einen Amateurmusiker, sei er noch so geschickt, an die Residenz zu binden. Adam Liszt wurde 1808 zum «Schäferei-Rechnungsführer» befördert, auf eine verantwortungsvolle Verwaltungsposition also, und schließlich nach Raiding «transferiert».
In der Esterházyschen Viehwirtschaft standen die Schäfereien, der Wollproduktion wegen, an Umfang und Bedeutung an erster Stelle (oder, wie es mit unnachahmlicher Sprachkomik in einem wissenschaftlichen Katalog heißt, «den Löwenanteil an der herrschaftlichen Viehwirtschaft nahmen die Schäfereien ein»); der fürstlichen Domäne gehörten etwa 15 «Schaflerhöfe» mit insgesamt über 10.000 Tieren. Als Rechnungsführer auf einem solchen Hof hatte Adam Liszt eine wichtige Funktion, und er gehörte qua Amt zu den Honoratioren im Dorf. Der Raidinger Meierhof, der auch die Wohnräume des Rechnungsführers enthielt und wo Franz Liszt also sein erstes Lebensjahrzehnt verbrachte, war ein ehemaliger Adelssitz («Edelhof»), auf das 16. Jahrhundert zurückgehend...