1. Die Herausforderung
Die Familie, in die Ludwig als Sohn des Kronprinzen und späterer Thronfolger am 25. August 1845 hineingeboren wird, das Haus Wittelsbach, regiert Bayern seit dem Jahr 1180. Die beiden Hauptlinien dieses europaweit verzweigten Herrschergeschlechts sind zwar seit 1777 wieder vereint, nachdem die pfälzische Linie das Erbe der ausgestorbenen altbayerischen Wittelsbacher angetreten hatte. Aber der kurpfalz-bayerische Gesamtstaat erlebt durch die politischen Erschütterungen und territorialen Verschiebungen im Gefolge der Französischen Revolution (1789) so tief greifende Veränderungen, dass sich die bayerischen Herrscher seit Beginn des 19. Jahrhunderts vor der Aufgabe sehen, einen neuen Staat, ein «Neues Bayern» zu schaffen. Vom 1. Januar 1806 an können sie das als Könige tun, denn als Bündnispartner des französischen Kaisers Napoleon war das Kurfürstentum zum Königreich erhoben worden.
Das Staatsgebiet Bayerns ist zwischen 1799 und 1817 um 25 % oder 15.000 qkm gewachsen, die Bevölkerungszahl steigt im gleichen Zeitraum von 1,9 auf 3,7 Millionen. Die altbayerischen Gebiete Ober- und Niederbayerns sowie der Oberpfalz bilden nun zusammen mit den neubayerischen Territorien in Schwaben, Franken und der Rheinpfalz ein Staatswesen, in das die Teile ihre unterschiedliche geschichtliche Entwicklung und die stark differierenden gesellschaftlichen und politischen Strukturen einbringen. Bayern ist zu Beginn des 19. Jahrhunderts wenig mehr als die Summe seiner Teile, ein heterogenes Gemeinwesen ohne innere Bindungskraft, zusammengehalten vor allem durch den Herrscher und die königliche Familie, das Haus Wittelsbach.
Ludwigs Urgroßvater, zunächst Kurfürst und dann König Max I. Joseph (1799–1825) sichert in der napoleonischen Umbruchzeit Bayerns Existenz und macht es zu einem großen deutschen Mittelstaat zwischen Österreich und Preußen. Das Ziel der politischen Aktivitäten, deren Fäden bei Maximilian Freiherrn (ab 1809 Graf) von Montgelas, dem leitenden Minister, zusammenlaufen, ist ein homogener, integrierter und moderner Staat mit innerer und äußerer Souveränität, ein Königreich mit zeitgemäßer Verfassung. Der bemerkenswert erfolgreiche Weg zu dieser konstitutionellen Monarchie führt in Bayern vom aufgeklärten Absolutismus zunächst hinein in einen von Beamten getragenen, die Modernisierung oft rücksichtslos betreibenden Staats- oder Verwaltungsabsolutismus. Erst nach dem Sturz des «aufgeklärten Despoten» Montgelas (1817) eröffnet der König mit der Verfassungsurkunde von 1818, insbesondere durch die neuen parlamentarischen Körperschaften, Teilen der Gesellschaft politische Mitwirkungsmöglichkeiten.
Im Zeitalter von Max I. Joseph erhält das Neue Bayern stabilisierende Konturen, die bis heute erkennbar geblieben sind. Bei seinem Tod darf man die äußere Staatsgründung als abgeschlossen betrachten. Freilich: Die neue Verfassung beschränkt die Allmacht des Monarchen dadurch entscheidend, dass sie ihm in der staatlichen Gesamtstruktur eine zwar herausgehobene, aber doch nicht grenzenlose Machtposition und Rolle zuweist. In konstitutioneller Beschränkung muss sich von nun an die Meisterschaft eines Herrschers bewähren und beweisen.
Ludwigs Großvater, dem am gleichen Augusttag wie sein Enkel geborenen König Ludwig I. (1825–1848), geht es vor allem um die innere Staatsgründung. Er will mit seiner Integrationspolitik die Köpfe und die Gefühle der Menschen erreichen und die vielfach auf Zurückhaltung oder Widerstand stoßenden rationalen staatlichen Strukturen menschlicher gestalten. Tradition und Geschichte sollen ebenso einen Beitrag zu einem bayerischen Identitäts- und Staatsgefühl leisten wie der Glanz der Kunst oder das stolze Erscheinungsbild der Haupt- und Residenzstadt München. Seine von einem starken monarchischen Selbstbewusstsein getragene patriarchalische, ja geradezu absolutistische Art zu herrschen, zu regieren, zu verwalten und zu kontrollieren, verschärft die politischen Konflikte des Vormärz, die in die revolutionären Vorgänge des Jahres 1848 münden.
Abb. 2: König Maximilian II. von Bayern mit Königin Marie und den Söhnen Ludwig und Otto im Schlossgarten zu Hohenschwangau, 1850.
Auf sie reagiert Ludwig I. mit seinem Rücktritt. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass sich in seiner Regierungszeit der innere Zusammenhalt des Königreichs Bayern deutlich verfestigt hat. Wenn er in seinem Thronverzicht am 20. März 1848 formuliert, «eine neue Richtung hat begonnen, eine andere als die in der Verfassungsurkunde enthaltene», so ist das freilich falsch. Was ihn zum Rücktritt veranlasst, ist der Konflikt zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit auf der einen und seiner absolutistischen Vorstellung von der Stellung des Monarchen andererseits. Von hier aus führt eine direkte Linie zu seinem Enkel Ludwig II.
Dessen Vater, König Maximilian II. (1848–1864), stellt die wirtschaftlichen, sozialen und außenpolitischen Zukunftsperspektiven Bayerns in den Mittelpunkt seines politischen Handelns. Am Anfang steht eine breite Reformgesetzgebung als Reaktion auf die Revolution von 1848. Agrarreform und Bauernbefreiung, zu Beginn des Jahrhunderts eingeleitet, bringt er zu einem vorläufigen Abschluss. Eine Parlamentsreform stärkt die Stellung der beiden Kammern der Volksvertretung, also der Kammer der Reichsräte und der Kammer der Abgeordneten, und verbessert das Wahlrecht. Mit seiner Justizreform gelingt dem Königreich Bayern ein großer Schritt auf dem Weg zum modernen Rechtsstaat.
Eine beispiellose Förderung der Geistes-, Natur- und Ingenieurwissenschaften ist Ausdruck seiner Überzeugung, dass der «Rohstoff Geist» für die weitere gewerbliche, technische, industrielle und mentale Entwicklung des Königreichs von zentraler Bedeutung sei. Bei seinem «Kampf um die besten Köpfe» und einer Exzellenzpolitik, der unter anderem die Stiftung Maximilianeum ihre Entstehung verdankt, geht es ihm darum, den kulturellen und wissenschaftlichen Standard Bayerns auf die Höhe des Jahrhunderts zu heben. Das Land soll dadurch eine Stärke erhalten, die auf dem machtpolitischen oder militärischen Sektor nicht zu erreichen war. Bayerns Glanz wird Preußens Gloria entgegengestellt.
Wie beim Königtum Ludwigs I. die Kunst, sind bei Maximilian II. Geist und Wissenschaft auch Instrumente der gesamtbayerischen Integration. Die wittelsbachische Kulturnation Bayern soll von den Altbayern, Franken, Schwaben und Pfälzern als gemeinsame Heimat empfunden werden. Den außenpolitischen Herausforderungen in einem zunehmend von preußisch-österreichischen Spannungen geprägten Deutschen Bund begegnet der König mit der so genannten Triaspolitik, als deren zentrales Element er sich ein starkes und stabilisierendes «Drittes Deutschland» mit Bayern an der Spitze vorstellt, eine selbständige Kraft zwischen und neben dem Königreich Preußen und dem österreichischen Kaiserreich.
Dass diese Außenpolitik nicht die nötige Resonanz bei den beiden großen Mächten, aber auch bei den deutschen Mittel- und Kleinstaaten findet und letztlich scheitert, mehrt unmittelbar die umfangreiche politische Problemliste, die die Regierungszeit König Ludwigs II. bestimmt. Die «deutsche Frage» steht auf dieser Liste neben der auch in Bayern drängender werdenden «sozialen Frage», dem spannungsreichen Verhältnis von Staat und Kirche und der von den gerade entstehenden politischen Parteien gewünschten Fortentwicklung der parlamentarischen Mitwirkungsmöglichkeiten ganz oben. In der Weise, wie das mächtige Königreich Preußen und dessen führender politischer Kopf, Otto von Bismarck, die so genannte kleindeutsche, also Österreich ausschließende nationalstaatliche Lösung vorantreibt, geht es bei der «deutschen Frage» auch und wieder einmal um die Existenz des souveränen Königreichs Bayern. Es ist nicht weniger als die nach der napoleonischen Zeit schwierigste Phase der bayerischen Geschichte, in der Ludwig II. an der Spitze des Königreichs steht.
Wie bei jedem seiner drei Vorgänger sind es hohe Erwartungen, die die Bevölkerung dem am 10. März 1864 proklamierten neuen Herrscher entgegenbringt. Die politischen Leistungen von Urgroßvater, Großvater und Vater, die hier nur kurz skizziert werden konnten, und die die jeweilige Regierungszeit prägenden unterschiedlichen Schwerpunkte des monarchischen Handelns seiner Vorgänger kennt der junge König, und sie verstärken den auf ihm lastenden Erwartungsdruck.
Nach allem, was wir wissen, nimmt Ludwig II. im März 1864 bereitwillig die Herausforderung an, die mit der Regierungsübernahme verbunden ist, eine Herausforderung, die sogar seinem abgedankten Großvater Ludwig I. Sorgen bereitet: «… armer Ludwig auch. Dessen Jugend hin ist, mit 18 Jahren schon auf den Thron kommt, in welchem Alter er keine Erfahrung haben kann, keine Geschäftskenntnis und das in welcher Zeit.» Die konkrete Regierungstätigkeit und deren Ergebnisse, die Rahmenbedingungen der konstitutionellen Monarchie des...