Einleitung
Die Nähe und Ferne des Dreißigjährigen Krieges
Ist ein Buch über den gewaltigen Dreißigjährigen Krieg erst dann dem Gegenstand wirklich angemessen, wenn es ebenfalls monumental und episch angelegt ist? Bis heute und gerade im 400. Jahr seines Beginns ist dieser Krieg in zahlreichen voluminösen Gesamtdarstellungen zu Buche geschlagen. Es wird Zeit, die Perspektive zu wechseln. Ein großer Krieg kann auch ausgehend von kleineren Szenen, Schlüsselereignissen, Episoden und Wahrnehmungsfragmenten zur Darstellung gebracht werden – wie es in diesem Buch anhand von Dokumenten, Selbstzeugnissen und Medien der Zeit unternommen wird. Schließlich kommt es darauf an, was an diesem langen und großen Krieg überhaupt zur Darstellung gebracht werden soll. Sind es die Schlachten, die großen Gipfelereignisse von kriegerischen Zuspitzungen, von Herrscherpolitik und endlichem diplomatischen Friedensschluss? Oder sind es nicht auch, ja hauptsächlich die vielen Gewalt-Ereignisse, die den Alltag durchziehen, und die anhaltenden Versuche, in und mit ihnen zu überleben? Machten nicht erst diese alltäglichen Herausforderungen den komplexen Ereignis-, Wahrnehmungs- und Erfahrungszusammenhang des »Großen Kriegs in Teutschland« aus, als der er von den Zeitgenossen bereits nach seinem ersten Jahrzehnt verstanden wurde, noch bevor später vom Dreißigjährigen Krieg die Rede war.
Die alternative Perspektive dieses Buches ist deutlich: mit Blick auf zeitgenössische Selbstzeugnis- und Zeitzeugnisdokumente[1] wird im Folgenden der Versuch einer andersartigen Gesamtdarstellung des Dreißigjährigen Krieges unternommen. Die Darstellung bleibt dabei aber nicht auf den Rahmen einer Quellendokumentation beschränkt. Sie macht Selbstzeugnisse in einem umfassenderen Repertoire weiterer Zeitzeugnisse fruchtbar: als analytische und darstellerische Ausgangspunkte einer dokumentarischen Mikrogeschichte. Dabei werden auch die besonderen Formen der Verarbeitung von Kriegserfahrung aus dem Blickwinkel der zeitgenössischen Medien zur Geltung gebracht. Denn an ihnen wird, wie an Selbstzeugnissen auch, eine Wahrnehmungsgeschichte des Dreißigjährigen Krieges ablesbar, deren erheblicher Erkenntniswert bisher nicht ausreichend berücksichtigt worden ist.
So ist die hier gebotene Darstellung zwar quellen- und dokumentenbasiert, aber sie verfolgt das Ziel einer Gesamtdarstellung auf der Basis einer analytisch erzählenden Präsentation einer Vielzahl von Episoden, »Zeugnissen und ihren Geschichten«,[2] die zu Miniaturen geformt wurden. »Sternstunden der Menschheit«[3] sind solche Miniaturen wahrlich nicht; weit davon entfernt sind doch diese markanten Alltagsszenen, in denen sich eine andauernde Gefahr verdichtet: die ständige Bedrohung durch militärische Gewalt, denen das Leben auch in seiner zivilen Alltäglichkeit ausgesetzt ist. Auf der Seite der militärischen Täter galt es dagegen, von der Ausübung von Zwang und Gewalt zu leben. Die »Lebenswelten« beider Seiten überschnitten sich im Alltag des Krieges auf vielfältige Weise, vor allem aber verschränkten sie sich in der Einquartierungssituation der Militärangehörigen in den Zivilhaushalten. Dieser andauernde Rückgriff auf eine äußerst prekäre Form von »Gastfreundschaft« war, mehr noch als das Leben im Feldlager, für das Überleben wie die Regeneration der Armeen und Gewaltapparate des Dreißigjährigen Krieges von zentraler Bedeutung.
Aus dieser Einsicht ergibt sich eine der zentralen Thesen dieses Buches. Der Dreißigjährige Krieg fand nicht nur, vielleicht nicht einmal in erster Linie, auf den Schlachtfeldern statt. Er war ganz wesentlich auch ein Krieg, der »im Hause« vor sich ging, d. h. in den Einquartierungssituationen der Zivilbevölkerung. Hier waren die prekären Verhältnisse von Gewalt, aber auch vom Zwang zum Zusammenleben gewissermaßen »zu Hause«, die den Krieg und seinen Verlauf bis an den Rand der Erschöpfung und das heißt dann auch bis an das Ende seiner Kriegsmaschinen und deren Ressourcen wesentlich prägten.
Die eher epischen Darstellungen des Dreißigjährigen Krieges entlang bekannter »master narratives«, wie wir sie in den anlässlich des Zentenar-Jubiläums bereits erschienenen, voluminösen und teilweise forschungsintensiven Bänden von Herfried Münkler,[4] Georg Schmidt[5] und im Werk von Peter Wilson[6] kennenlernen, widmen diesem zentralen Moment der Alltäglichkeit des Dreißigjährigen Krieges vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit. Mit diesem Buch wird ihnen eine alternative historische Perspektive in Form einer dokumentarischen Mikrogeschichte des Dreißigjährigen Krieges zur Seite gestellt. Hier wird der Versuch einer »Histoire à part entière’« (Lucien Febvre)[7] gewagt, einer »Detailgeschichte des Ganzen«. Dabei ist sich dieses Unternehmen seiner Grenzen doch zugleich bewusst. Seiner Anlage nach ist es der problemoffene und unabgeschlossene Versuch einer kleineren »histoire totale« eines gewaltigen und vielschichtigen kriegerischen Ereigniszusammenhangs.
Es stellt sich aber die Frage, ob die in diesem Buch gewählte Darstellungsform eine angemessenere »Repräsentation« des Dreißigjährigen Krieges ist, die gerade auch dem entgrenzenden, amorphen und häufig unkontrollierbaren Gewaltverlauf dieses Krieges gerecht wird. Schon ein Zeitgenosse, der Textautor von Matthaeus Merians großem zeit- und weltgeschichtlichen Serienwerk Theatrum Europaeum, Johann Philipp Abelin,[8] hat seine dichten dokumentarischen Beschreibungen, wie es Nicolaus Detering jüngst herausgestellt hat,[9] mit einer Verlaufsform des Krieges im Sinn einer »politischen ›Brandtheorie‹« verknüpft: immer wieder und immer weiter habe sich der Krieg wie ein Lauffeuer, mal untergründig, mal oberirdisch auch an nicht vorhersehbaren Stellen unkontrollierbar über Europa ausgebreitet. Schon diese zeitgenössische Auffassung legt ein »nichtlineares Narrativ« nahe, um es mit den Worten des amerikanischen Literaturtheoretikers Fredric Jameson auszudrücken, der die Darstellungsprobleme von Kriegen – auch die des Dreißigjährigen Krieges – beleuchtet hat.[10] Eine epische Großerzählung dagegen, die zentral auf die militärischen und fürstlichen Akteure bezogen bleibt, ginge mit ihrem langen Atem über Wichtiges hinweg. Den »unheimlichen«, kraken- und rhizomhaften, eben unvorhersehbaren Verlauf dieses Krieges könne sie gerade nicht erfassen.[11]
Wenn hier also die Darstellungsform einer episodischen dokumentarischen Mikrogeschichte gewählt wird, dann soll nicht nur die Vielfalt der Wahrnehmungen und Erzählungen der Zeitgenossen in möglichst direkter Weise zur Darstellung gebracht werden. Die einzelnen Episoden und Ereignisse sind in diesem Buch stets auf eine umfassendere analytische Dimension einer vertiefenden Kontextualisierung bezogen. Ein solch größerer Darstellungsbogen wird jeweils durch die ausführlicheren Einleitungen zu den Einzelkapiteln geschaffen. Hier ist auch der Ort, an dem die eindrückliche Vergegenwärtigung der Einzelszenen durchbrochen wird, um die hineinwirkenden, wahrnehmungsleitenden Rahmungen der Zeitgenossen freizulegen. Eine dieser Rahmungen, um ein Beispiel zu bringen, ist die schon erwähnte zeitgenössische »Brandtheorie« des Krieges. Zum einen ist da der englische Höfling, Diplomat und spätere Sekretär des königlichen Privy Council in London, James Howell, der schon im Jahr 1621 ahnungsvoll an seinen Vater schrieb: »There is nothing in comparison of those hideous fires that are kindled in Germany, blown first by the Bohemians, which is like[y] to be a war without end.«[12] Zum andern ist es die Nonne Maria Anna Junius, die sich ebenfalls die Feuervorstellung vom Kriegsbrand zu Herzen nahm, vor allem seit ein Feuersturm Magdeburg, die Metropole des norddeutschen Protestantismus, im Mai 1631 vernichtet hatte. Als schwedische Truppen die Stadt Bamberg wenig später besetzten, vor deren Toren ihr Kloster lag, und sie selbst in der Nähe Feuer-Rauch aufsteigen sah, überfiel sie die Angst vor dem »Magdeburgisieren« ihres eigenen Klosters. Sie notierte in schreckhafter Wahrnehmung der eigenen Lage: »Da [seit] Magdeburg gebrennet, hat es kaum einen solchen Rauch gegeben. Da erschrecken wir [zu] erst noch mehr, und der Rauch und das Feuer wird noch grösser«.[13] Schließlich wurde auch für den thüringischen Amtmann und Hofrat Volkmar Happe das Feuer als Zeichen wie als Realität zum Inbegriff für die Schrecken des Krieges. Auf einem Gipfelpunkt der vielen hundert von ihm notierten Gewalterfahrungen aus der Nähe, die er in seinem Chronik-Tagebuch auf fast zweitausend Seiten festgehalten hat, bemerkt er gegen Ende des Jahres 1634 von seinem Amtsort Ebeleben aus einen Feuerschein am Nachthimmel über dem Nachbardorf, der ihm durch das Läuten einer Sturmglocke noch bestätigt wird. Zunächst erreicht ihn daraufhin die Nachricht von einer Weltuntergangspanik in diesem Dorf: »Indem alles Volk in großem Zittern und Zagen nicht anders gemeynet, als dass der jüngste Tag kommen würde«. Doch auch für Happe selbst wird das Feuer zum Wahrzeichen für ein mögliches Weltende: »Das sind ja gewiss Zeichen, dass unsere Erlösung durch die Zukunft Jesu Christi nahe sey.«
Die Bemerkungen des thüringischen Amtmanns können aber nicht nur als Ausdruck des Erwartungshorizonts eines nahen Weltendes gelesen werden. Sie sind vielmehr auch Indizien seiner Verzweiflung in einer unglücklichen Situation der Zuspitzung alltäglicher Kriegsgewalt, in der sich angesichts der Vielzahl von Truppendurchzügen und Gewaltaktionen in seiner Nähe...