VORWORT
von Reinhold Messner
Was ist es, was mich an Shackleton so fasziniert? Er ist so etwas wie ein Vorbild für mich, das, was die Amerikaner einen »Hero« nennen. Dabei ist er mit all seinen Vorhaben gescheitert! Trotzdem: Shackletons Endurance-Expedition, ein Schiffbruch ohnegleichen und die Rettung dazu, ist das kühnste Abenteuer des 20. Jahrhunderts.
350 Tonnen Holz und Stahl und Last schoben sich von der Insel South Georgia weiter nach Süden, immer weiter weg vom Krieg in Europa, von alten Gewohnheiten, von daheim. Es war 1915, mitten im antarktischen Packeis, als Shackletons Schiff Endurance in den Eispressungen barst und sank. 27 Mann – verstört und enttäuscht – blieben mit ihm auf dem Treibeis verschollen. Mit ein paar Rettungsbooten, einer hungrigen Hundemeute und einem Haufen Schrott. Mit dem Vorwärts war es vorbei!
Nie sah ein Heimweg trostloser aus.
Shackleton war wieder einmal gescheitert. Sein Traum aber, mit einer Hundeschlittenreise quer über den antarktischen Kontinent seinem toten Rivalen Scott und allen Briten vorzuführen, wer der für die Eishölle geborene Held war, hatte sich jäh in eine sinnvolle Aufgabe gewandelt: sich und seine Männer über das südliche Polarmeer nach Hause zu retten.
Endurance bedeutet Widerstandskraft, Ausdauer, Standhaftigkeit, Eigenschaften, die den Initiator der Expedition auszeichneten. Als hätte »Shack«, wie die Mannschaft ihren »Boss« liebevoll nannte, seinem Schiff seine Seele geliehen.
Die Mannschaft, junge Männer aus Oxford und Cambridge, hätte ursprünglich am Schelfeisrand geteilt werden sollen. Die eine Gruppe sollte dort eine Basis schaffen und mit fünf ausgewählten Männern wollte Shackleton dann die »schwierigste Landreise auf Erden« wagen, über den Südpol bis ins Rossmeer, wo das Schiff Aurora lag, von Neuseeland gekommen.
Inzwischen war die Expedition im Eis gefangen. In Nebel und Kälte und Schneesturm trieben zwei Dutzend Männer, ihre beiden Führer Shackleton und Wild, der Kapitän Worsley und Frank Hurley als Fotograf auf Eisschollen auf das Ende der Welt zu.
Monatelang schrien sie sich Mut zu, überzeugt davon, mit Gott und »Shack« Chaos und Treibeis zu meistern. Frank Hurley fotografierte dabei die äußerste Verlorenheit von Menschen im friedlichen Glanz der Eisberge und Eiskristalle.
Wie lange konnten sie hoffen, warten, treiben? Sie hatten ihren Alltag: regelmäßige Mahlzeiten, jeder seine Aufgabe, Gespräche. So vertrieb einer dem anderen die Angst, und alle vergaßen, wie hilflos sie waren.
Das Erste, was »Shack« zu ersetzen hatte, war das Symbol, das mit der Endurance gesunken war. Er tat es mit einem Ziel! 350 Meilen nordnordwestlich lag Paulet Island, wo der Schwede Otto Nordenskjöld 1902 eine kleine Hütte und Proviant zurückgelassen hatte. Dorthin mussten sie kommen. Vorerst! Trotzdem, der verlorene Haufen ergab ein trauriges Bild: Ausrüstung im Schnee verstreut, winselnde Hunde, über allem ein bleigrauer, tief liegender Himmel.
Alle schufteten fürs Überleben, aber mit Menschenhand allein schafften sie es nicht. »Aussichtslos«, tröstete der »Boss«. So entschieden sie sich zu bleiben, wo sie waren. Auf altem, dickem Eis richteten sie ihr Lager ein, das berühmte »Ocean Camp«.
In den Zelten krochen die besten Freunde zusammen; jeder baute mit Eisblöcken an oder um; alle hofften, dass die Drift sie langsam weiter nach Norden treiben würde. Das offene Wasser nur konnte ihre Rettung sein.
In Schüben kamen Einsamkeit und Kleinmut über die Mannschaft. Kein Zeichen von Zivilisation mehr, das Eismeer ohne Ende, die Heimat weiter weg denn je.
Innerhalb sechs Wochen driftete das »Ocean Camp« 120 Meilen weit. Die Verpflegung, angereichert mit Seehund- und Pinguinfleisch, war wieder gut, die Stimmung in der Mannschaft auch. Shackleton ließ nun die Hunde nach und nach erschießen, denn Hundepemmikan sollte für die Mannschaft aufgespart werden.
Seit 16 Monaten war die Mannschaft im südlichen Polarmeer unterwegs, seit 16 Monaten war keiner mehr auf Land gestanden, seit 16 Monaten hatte keiner einen Felsen, einen Berg, eine Insel gesehen.
Am 17. März 1916 lag Paulet Island 60 Meilen weiter im Westen als die Expedition. Das Wetter war winterlich, und immerzu diese Hilflosigkeit! Die Drift wurde stärker, trieb das Eis mit dem Camp aber einmal dahin, einmal dorthin.
Am 8. April riss die Eisscholle. Die Wachen, die Tag und Nacht patrouillierten, um bei Gefahr rechtzeitig zu warnen, schlugen plötzlich Alarm. Die Männer, immer angezogen, auch im Schlafsack, sprangen auf, zogen die kleinen Boote von der Eisscholle, die vom Camp wegdriftete.
Am 9. April trieb der starke Südwind die Eisflächen weiter auseinander. Das Lager musste abgebrochen werden. Die drei Boote, beladen mit dem Lebenswichtigen, wurden ins Wasser gelassen.
Nach 159 Tagen Hilflosigkeit auf den Eisschollen begann jetzt der Überlebenskampf zwischen den Eisbergen. Auch im nächtlichen Schneetreiben wirbelte das Eismeer die Boote dahin. Das Wasser gefror auf den Männern, der Sturm riss sie um, die See trieb sie hoch. Die Welt war jetzt ein Wirbel aus schaukelnden Eisbergen, Wasser, Wind, Kälte und Schmerz.
Noch einmal rettete sich die Expedition auf eine Eisscholle. Sogar ein Feuer konnte angezündet werden. Rast! Ein Hauch von Wärme. Nass bis auf die Haut, die Kleider eisesstarr, standen die Männer da, betend, vor Schrecken und Kälte schlotternd, aber immer bereit weiterzusegeln.
Wieder riss das Eis, und wieder trieben die Boote dahin, mit Männern, die sich aneinander klammerten, sich Hoffnung zuflüsterten. Die Grenze der Belastbarkeit war längst erreicht.
Jetzt lag Elephant Island 100 Meilen im Norden von ihnen. Also dorthin! Ein letzter Eisgürtel wurde passiert und der offene Ozean erreicht. Diese Anstrengung! Dieser Hunger! Diese Unterkühlung! Dieser Durst! Die Männer hatten weder Eis noch Süßwasser an Bord. Dazu waren sie seit Tagen ohne Schlaf und die meisten mit Frostbeulen geplagt. Während die sterbenden Bootsinsassen auf Elephant Island zutrieben, die fernen Eisgipfel anstarrten, wollten einige weinen. Sie konnten auch das nicht mehr. Die Lippen waren aufgerissen, die Zungen geschwollen, die Rachen blutende Wunden.
Plötzlich drehte die Strömung. Sie mussten rudern. Wie lange sollten sie es schaffen? Die Verzweiflung wuchs schneller als die Müdigkeit. Und dann kam die Lähmung.
Wieder drehte der Wind. Zum Glück. Das war die Rettung! Als dann plötzlich Mondlicht durch die Wolkendecke brach, lagen Meer, Berge und Gletscher phantomgleich vor ihnen. Als hätte es eine Eishölle nie gegeben.
An der Nordküste der Insel bauten sie ihr Lager auf. Kein Ende, kein Komfort. Sie nannten es Cape Wild.
Auf Elephant Island konnten sie nicht bleiben, und weil niemand sonst auf der Erde wusste, wo sie waren, galt es, selbst Rettung zu holen.
»Shack« war also entschlossen, mit fünf seiner besten Männer nach Südgeorgien zu segeln, 750 Seemeilen weit über die gefährlichsten Gewässer der Erde. Er musste um einen Eisbrecher der Walfänger bitten und zurückkommen. Frank Wild blieb mit den anderen zurück als ihr »Chef«.
Am 24. April, Ostermontag, stach Shackleton mit der James Caird, dem größten der drei Rettungsboote, in See. Der Abschied ging schnell.
Werden sie sich Wiedersehen? Nach 16 Tagen erreichten »Shack« und seine Männer wie durch ein Wunder die Felsenküste von Südgeorgien. Der schlimmste Hurrikan, den sie je in ihrem Leben erlebt hatten, ließ sie nicht anlegen. Mit ihrem sieben Meter langen Boot drohten sie, erfrierend, verhungernd, jede Hoffnung ausgelöscht, zwischen Eistrümmern und Felsen zu zerschellen.
Als sie ihr Boot endlich an Land zogen, in der König Haakon Bay auf South Georgia, wussten sie nicht, wo sie waren. Hilfe war noch weit. Shackleton saß mit seinen Männern auf der falschen Seite der Insel. Zwischen ihnen und der Menschheit lag das Inlandeis, unvermessene Berge und Gletscher, die als unbegehbar galten. Der Weg über das Meer, außen herum, war ausgeschlossen, weil die stürmische See zu gefährlich und das Boot beschädigt war. Nur der Marsch über die Berge versprach Rettung.
Nachdem sich die sechs Männer ein paar Tage lang in einer winzigen Höhle erholt hatten, wagten »Shack«, Crean und Worsley den Marsch über die Berge; ohne spezielle Ausrüstung, ohne viel Proviant, ohne Karte. 36 Kilometer weit marschierten sie durch die eisige Winternacht, über Pässe, Gletscherspalten und Eishänge. Und sie kamen an, auf der anderen Seite der Insel – trotz Nebel, Nacht und ohne Rast. »Shack« kam an, weil er ankommen musste. Das Leben von 25 Menschen hing auch ab von seinem Ankommen und Überleben!
In der Stromness-Walfangstation heuerte »Shack« ein Boot an und sie holten ihre drei Freunde in der König Haakon Bay ab. Dann, ohne Zeit zu verlieren, lief die »Southern Sky« aus, ein Eisbrecher unter Kapitän Thour, der Kurs auf Elephant Island nahm. Aber 70 Meilen vor dem Ziel musste das Rettungsschiff beidrehen. Packeis! Shackleton ließ sich zu den Falklandinseln bringen und nahm mit mehreren Regierungen Südamerikas Kontakt auf, um eine zweite Rettungsfahrt zu organisieren.
Was war mit den Gestrandeten auf...