Gerd Baur erinnert sich noch sehr gut an die Worte Reinhold Messners vor seinem Aufbruch. Reinhold bat eindringlich, dass sie – sein Bruder Günther und Gerd – unbedingt warten sollten, bis er wieder zurückkäme.
Horst Höfler
Da sah Reinhold Messner zu seiner Überraschung Günther, getrieben von Sorge um den Bruder, allein nachkommen. Das war nicht vorgesehen und löste in der Folge die Kettenreaktion aus.
Hias Rebitsch
Gerhard Baur, der die Merkl-Rinne ja nicht alleine versichern konnte, stieg zurück zum Lager IV.
Hans Saler
Dr. Herrligkoffer bringt Reinhold Messner wie einen verlorenen Sohn wieder. Nun wird unsere Vermutung zur traurigen Gewissheit: Sein Bruder Günther hat am Nanga Parbat den Tod gefunden. Reinhold selbst ist ebenfalls am Ende seiner Kräfte, er kann kaum sprechen und gehen und hat an Händen und Füßen starke Erfrierungen erlitten. Er ist über den Mummery-Sporn auf der Diamirseite abgestiegen, wo vermutlich eine Eislawine Günther erschlagen hat. Als es passierte, war Reinhold ein gutes Stück voraus.
Felix Kuen
Der Schrecken des Todes
Die Deutschen und ihr Schicksalsberg! Kein Ende der Toten und Gedächtnis-Expeditionen? 1962 stirbt Sigi Löw in der Bhazinmulde am Nanga Parbat – das 32. Opfer am Nackten Berg. Zwischen 1963 und 1970 erkundet Herrligkoffer die steilste Seite des Nanga Parbat, auch die allerschwierigste, die Rupalwand. Sie verkörpert den gewaltigsten Höhenunterschied des gesamten Himalaja.
Das Basislager steht auf 3600 Meter Höhe. Bis zum Gipfel sind es etwa zehn Kilometer Kletterstrecke – Lawinenhänge, Eisabbrüche, Felsrinnen – 4500 Meter Höhenunterschied. Der Neigungswinkel nimmt nach oben hin zu. Niemand kann sich vorstellen, dass eine derartige Problemstellung lösbar ist. Wir – zur Mannschaft gehören auch mein Bruder Günther und ich – wollen das Wagnis eingehen.
Nach der Rupal-Erkundungsexpedition 1963, einer Winterexpedition 1964 und der Toni-Kinshofer-Gedächtnis-Expedition 1968 gelingt es Karl M. Herrligkoffer, für seine Sigi-Löw-Gedächtnis-Expedition eine starke Mannschaft zu verpflichten. Erfahrene deutsche und österreichische Bergsteiger gehören zum Team. Dazu ein paar Helfer und Gäste.
Aus der 1968er-Mannschaft ist Peter Scholz dabei, ein ruhiger, sympathischer Spitzenbergsteiger. Felix Kuen und Werner Haim, die bekannten Tiroler Heeresbergführer, sind eine starke Seilschaft. Gerd Baur, Kletterer und Bergfilmer aus Friedrichshafen, gilt als verwegener Alpinist. Die Münchner Hans Saler und Gerd Mändl, der Ulmer Günter Kroh sowie der Allgäuer Peter Vogler gehören zum kleinen Kreis der Extrembergsteiger. Auch Hermann Kühn aus Heidelberg ist dabei, der »Lehrmeister« von Reinhard Karl, der seinerseits auf die Expedition nur verzichtet, weil ihm das Abitur wichtiger ist. Ursprünglich bin ich als einziger Südtiroler im Team. Weil aber der Zillertaler Peter Habeler und der Osttiroler Sepp Mayerl ihre Teilnahme absagen, kommt auch mein Bruder Günther dazu.
Unsere Begeisterung, unser ganzer Wille gilt dieser Wand. Ja, auch Günther und ich wollen zum Gipfel. Und hinter diesem Wunsch steht natürlich eine gute Portion Egoismus. Auch wenn unsere Chancen klein sind, wir geben unsere Hoffnungen nie auf.
Weitere Teilnehmer sind Elmar Raab, Jürgen Winkler, Michl Anderl, Wolf Bitterling, Alice von Hobe, Max von Kienlin. Nein, ohne die Unterstützung dieser ausgezeichneten Mannschaft würden wir nicht weit kommen. Jedenfalls nicht bis unter die Merkl-Rinne, die Schlüsselstelle der Wand.
Während der sechs Wochen, die wir beim Anmarsch, im Basislager und in der Wand zusammen sind, werden Sympathien und Abneigungen deutlich. Seilschaften bilden sich und Rivalitäten entstehen. Max von Kienlin, ein wohlhabender schwäbischer Landadeliger, besitzt Äcker, Schloss und Wälder, aber keine Erfahrung als Bergsteiger. Dafür ist er mutig. Mutig genug, auch gegen den Kleingeist eines Expeditionsleiters, der alle entweder im blinden Gehorsam vor sich oder im Gänsemarsch hinter sich sehen will, Wege zu gehen, die nicht erlaubt sind. So ist er mir von Anfang an sympathisch. Wir machen ein paar Ausflüge zusammen und trösten uns gegenseitig über die miserable Leitung der Expedition.
Felix Kuen und Werner Haim sind neben Günther und mir eine nach vielen gemeinsamen Touren eingespielte Seilschaft. Trotzdem gelingt es Herrligkoffer, die beiden Freunde zu trennen. Er versucht es auch mit uns Brüdern. Schon vor dem Aufstieg ins erste Hochlager. Nach Herrligkoffers Anweisungen sollen Günther und ich in getrennten Seilschaften klettern. Warum? Ganz einfach, er will nicht, dass wir zusammenbleiben. Wir aber wollen weder seine Argumente verstehen noch seinen Befehlen folgen. Also widersprechen wir und gehen ohne die Hunza-Träger, denen er den Transport unserer Lasten verbietet. Wir tragen unsere Ausrüstung selbst.
Günther und Reinhold Messner bleiben gegen den Willen des Expeditionsleiters eine Seilschaft
Günther und ich setzen uns damit gegen Herrligkoffer durch und bleiben zusammen. Während der gesamten Dauer der Expedition. Wir sind Kletterpartner und Brüder, keine Rivalen.
Und Gerhard Baur wird unser Komplize. Oft sind wir in den Hochlagern im Zelt zusammen. In unserer Begeisterung gehen wir so weit, uns auszumalen, auch dann in der Wand zu bleiben, wenn Herrligkoffer die Expedition abbrechen sollte. Wir wollen Proviant horten und weitermachen. Auch in Eigenregie, falls die anderen aufgeben. Wer sollte uns schon vom Berg holen! Irgendwie würden wir schon bis zum Gipfel kommen. Wir sprechen sogar davon, den Nanga Parbat zu überschreiten. Schließlich haben Amerikaner 1963 den höchsten Berg der Welt, den Mount Everest, überschritten. Aufstieg über den Westgrat, Abstieg über die Hillary-Route. Diese Visionen – kühne Gedankenspiele – sind ziemlich naiv. Es fehlt uns die Erfahrung, wie der Mensch in 8000 und mehr Metern über dem Meeresspiegel reagiert. Solche Tagträume werden von der Mannschaft belächelt und bleiben so vage, dass die Umsetzung niemand ernst nimmt. Eine Überschreitung des Nanga Parbat wird angedacht – mehr nicht.
Nach 40 Tagen Vorarbeit in der Wand erlaubt Herrligkoffer während eines Schönwetterfensters mehreren von uns einen letzten Versuch zum Gipfelsturm. Niemand weiß, wie lange das Wetter hält und welcher Logistik wir folgen. Herrligkoffer organisiert vom Basislager aus den Nachschub, wir graben Lager um Lager aus dem Schnee und kommen rasch höher. Einen Plan aber, wer wann und mit wem zum Gipfel gehen soll, gibt es nicht. Nachdem ein erster Plan aufgegeben worden ist, ist kein zweiter mit mir besprochen worden. Wir errichten ein viertes Lager. Als Sprungbrett zum Gipfel. Ein fünftes, das letzte Lager, ist nur notdürftig ausgerüstet. Weil die gesamte Mannschaft harmonisch zusammenarbeitet, scheint oben der letzte Schritt möglich zu werden.
Obwohl Herrligkoffer die Seilschaft aus Felix Kuen, einem Österreicher, und Peter Scholz, einem Deutschen, als erste Gipfelmannschaft zu favorisieren scheint, schlage ich am 26.Juni einen vorgezogenen Aufstieg vor. Alles nur, weil sich das Wetter zum Schlechteren wendet.
Kuen: »Das Wetter ist noch immer sehr schön, doch stehen wir wegen der herannahenden Wolkenbänke unter gewaltigem Zeitdruck.«
Über Funk kündige ich dem Expeditionsleiter im Basislager an, dass ich mit dem Aufstieg zum Gipfel beginnen werde, bevor das Wetter schlecht wird. Einverständnis. Herrligkoffer verspricht, am Abend mittels Rakete – rot bedeutet schlechtes, blau gutes Wetter – das Ergebnis des Wetterberichtes zu signalisieren, der im Basislager über Radio täglich zu empfangen ist. Bei gutem Wetter würde der Gipfel nach mehrtägiger Vorarbeit zu zweit oder zu dritt bestiegen werden. Lager V soll ausgebaut, ein Fixseil in der Merkl-Rinne verankert werden. Andere Seilschaften könnten folgen. Bei schlechtem Wetterbericht will ich mit einem schnellen Alleingang reagieren. Gilt es jetzt doch, dem Schlechtwettereinbruch zuvorzukommen. Vor der zu erwartenden Lawinengefahr ins Basislager absteigen zu können. Es geht um unsere letzte Chance. Allein kann ich den Gipfel schneller erreichen als im Team, denke ich. Im Notfall kann ich aufgeben, rasch wieder absteigen, wenn die Schlüsselstelle in der Gipfelwand nicht kletterbar ist.
Am Abend steigen Günther, Gerhard und ich bis unter die Merkl-Rinne. Über uns nur noch die Schlüsselstelle der Wand. Eine rote Rakete kündigt Schlechtwetter an.
Am 27.6.1970 starte ich zum Alleingang. Um drei Uhr früh verlasse ich das Biwak. Ohne Rucksack. Schnell hinauf und wieder zurück ist mein Vorsatz. Jedes zusätzliche Gewicht würde mich in meiner Schnelligkeit bremsen. Es ist sehr kalt beim Einstieg in die Merkl-Rinne. Schneewehen. Mondschein. Langsam steige ich die Merkl-Rinne aufwärts. Zuerst über Schneehänge, dann in einen senkrechten Risskamin, später durch eine Art Schlucht. Auf 8000 Metern Höhe, wegen des Sauerstoffmangels langsamer werdend, quere ich nach rechts in die offene Wand, die 4500m senkrecht unter mir abbricht. Jetzt erst merke ich, dass jemand mir nachkommt. Der Bruder?
Günther hat doch versprochen, die schwierigsten Passagen der Merkl-Rinne hinter mir abzusichern. Mit Gerhard zusammen. Um mir den Abstieg zu erleichtern. Ist er mir nachgestiegen? Aus eigenem Entschluss? Trotzdem, als er mich einholt, gehen wir gemeinsam weiter. Ein Fehler. Nicht nur, weil wir beide ohne Seil klettern. Es ist spät. Wäre es nicht vernünftig, umzukehren? Ja, gewiss, wir handeln aber nicht vernünftig. In unserer jugendlichen Unbekümmertheit denken wir nicht an Nacht und Tod. Die größten...