„Eine neue geschichtliche Epoche begann für die Welt und (…) für das deutsche Volk mit dem August 1914.“[92]
Derart äußerte sich Friedrich Meinecke 1916 rückblickend zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Dass „die große Urkatastrophe (des Zwanzigsten Jahrhunderts)“[93] in der Tat in vielerlei Hinsicht eine Zäsur im Sinne einer historischen Epochenscheide darstellt, ist weitgehend Konsens in der Geschichtsschreibung.[94]
Nicht nur gesellschaftliche Prozesse wie der Niedergang des Bürgertums als führende gesellschaftliche Schicht in Europa nehmen hier ihren Ausgangspunkt. Der ‚Große Krieg‘ bedeutet auch das Ende der traditionellen Hegemonie des europäischen Kontinents in der Welt und kann überdies – indem es nach dem Zusammenbruch des noch das 19. Jahrhundert bestimmenden europäischen Mächtesystems durch den Ersten Weltkrieg nicht gelingt, eine stabile politische Ordnung zu etablieren – als Eröffnung des „Zeitalter(s) der Extreme“[95] gelten, wobei er mit seinen Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft der verschiedenen Staaten bereits den Keim des Zweiten Weltkrieges und des Kalten Krieges in sich zu tragen scheint.[96]
Ausgehend von der Annahme, dass die Nation als kulturell geformtes Ideengebilde im Wesentlichen als „vorgestellte politische Gemeinschaft“[97] verstanden werden kann, die durch „erfundene Tradition(en)“[98] zum scheinbar objektiven und naturgegebenen Tatbestand stilisiert wird, wird sich diese Arbeit dem Ersten Weltkrieg hinsichtlich seiner Qualität als „Nationalismus-geschichtliche Zäsur“[99] widmen.
Mit dem Fokus auf das Deutsche Kaiserreich sollen dabei weniger die innen- und außenpolitischen Ereignisse der Jahre 1914 bis 1918 im Zentrum der Darstellung stehen. Vielmehr werden die Rechtfertigung des Krieges, die sinnstiftende Deutung des ‚Sinnlosen‘ vonseiten der Intellektuellen im ‚Krieg der Geister‘ und die damit verbundenen Konstruktionen von nationalen Selbst- und Fremdbildern das Thema dieser Arbeit bilden. So soll dabei verdeutlicht werden, dass der ‚Große Krieg‘ nicht nur aufgrund der bislang unbekannten Dimension der Inanspruchnahme der Opferbereitschaft von militärischen und zivilen Kräften und neuen Formen der Massenvernichtung, sondern auch aufgrund der „Totalisierung von Legitimation und Loyalität im Namen der Nation“[100] in die Nähe eines ‚totalen Krieges‘ rückt:[101] Mit Blick auf die spontane Selbstmobilisierung der kulturellen Eliten des Kaiserreiches – Akademikern, Schriftstellern, Künstlern und Geistlichen – soll dabei zunächst vor allem mit Blick auf die Jahre 1914 bis 1916, also der Zeit, in der die nationale Euphorie in diesen Kreisen noch weitgehend erhalten ist, gezeigt werden, in welchem Maße sich die damit verbundene Ideologisierung des Ersten Weltkrieg, der die Bevölkerung als „Nationsbildungskrieg“[102] erstmals zu einer einheitlichen Willensgemeinschaft zusammenfügen scheint, von der Deutung vorheriger Nationalkriege unterscheidet.[103] In einer Art Überblick werden dabei sowohl die Ursachen für die Kriegsbegeisterung der gebildeten Schichten als auch wesentliche Formen und Tendenzen des intellektuellen Engagements berücksichtigt werden. Nach der Erläuterung der Polarisierung und Desillusionierung der Intellektuellen im weiteren Kriegsverlauf wird abschließend die langfristige Wirkungsmächtigkeit der im Zuge der ‚intellektuellen Mobilmachung‘ entwickelten Deutungen des Ersten Weltkrieg besprochen werden – unter der besonderen Berücksichtigung von deren verheerenden Auswirkungen auf die Nachkriegszeit.
„Niemand mehr erlaubt die Stunde, irgendetwas anderes zu sein als einzig und gar nur national, (...), er ist nicht mehr länger sein eigenes Zentrum, er ist ein kleinstes Stück von einem sehr geliebten Ganzen. Die Masse weiß das nicht, aber sie fühlt es unter der Schwelle des Bewusstseins.“[104]
Lange Zeit hielt sich der Topos von der einhelligen Begeisterung der deutschen Bevölkerung bei Kriegsausbruch mit den heraufbeschworenen Bildern von jubelnden, von patriotischer Gesinnung erfüllten Menschenmassen und im Zuge der am 2. August 1914 begonnenen Mobilmachung freudig in den Kampf ziehenden Soldaten in der historischen Forschung.[105] Durch neuere Auswertungen von zeitgenössischen Quellen in einzelnen Regionalstudien und neuerdings auch umfassenderen Untersuchungen wurde diese Vorstellung allerdings weitgehend relativiert und die Notwendigkeit sozialer und räumlicher Differenzierungen deutlich gemacht: Während vor allem die ländliche Bevölkerung und die Arbeiterschaft in den Städten auf den Kriegsausbruch eher verhalten und zum Teil auch durchaus mit Sorge oder Verzweiflung angesichts des Kommenden reagierten, ergeben neuere Forschungen eindeutig, dass wirklicher Enthusiasmus nur beim städtischen Bildungsbürgertum und der Aristokratie vorhanden war.[106] Dennoch kann vor allem angesichts der kaum vorhandenen Proteste gegen den anstehenden Krieg von einer allgemeinen Kriegsentschlossenheit ausgegangen werden, die sich auch durch die Annahme, das Deutsche Reich führe einen aufgezwungenen Verteidigungskrieg, konstituiert.[107]
In Bezug auf die weitere Erklärung der zumindest allgemein vorhandenen Kriegsakzeptanz, die auch durch die große Zahl der Freiwilligenmeldungen bestätigt wird,[108] müssen für die unterschiedlichen sozialen und politischen Gruppierungen im Kaiserreich sicher verschiedene Faktoren berücksichtigt werden: Neben dem im Kaiserreich weitverbreiteten Gesinnungsmilitarismus lässt sich dabei sicher auch die Verkennung der tatsächlichen Realität eines zukünftigen Weltkrieges anführen: Ein Großteil hat noch Erwartungen an den Krieg, die aus den Erfahrungen von 1870/71 hervorgehen. Der Gedanke an einen kurzen Krieg herrschte nicht nur in der Militärplanung, sondern auch bei vielen Soldaten zu Beginn des Krieges 1914 vor. Wichtig ist auch, dass die waffentechnischen Entwicklungen seit 1870/71 und die mögliche Qualität eines zukünftigen modernen, technischen, tendenziell totalen Kriegs von vielen nicht genügend berücksichtigt oder einfach ausgeblendet wurden. Symptomatisch dafür ist, dass ein Großteil der bürgerlichen Jugendlichen der Krieg fälschlicherweise als ein großes Abenteuer betrachtet, bei dem sie ihre Männlichkeit und Tapferkeit unter Beweis stellen möchten – was sich insgesamt als eine sehr große Fehleinschätzung der Situation erweisen wird.[109]
Dass sich schließlich Vorstellungen von einem einheitlichen ‚Geist von 1914‘, der die Bevölkerung jenseits aller Klassen, Konfessionen und Parteien in einer „gewaltige(n) Woge der Kriegsbegeisterung“[110] vereint, herausbilden, erklärt sich dabei vor allem durch das weitgehende Fehlen kriegskritischer Stimmen in der Öffentlichkeit – von deren gänzlichem Fehlen auch obiges Zitat aus dem ‚Berliner Tageblatt‘ zeugt:[111] Ob durch den sozialdemokratischen Burgfriedensschluss am 4. 8. 1914, mit dem die bislang in der Opposition befindliche sozialdemokratische Partei als stärkste Fraktion im Reichstag den Kriegskrediten zustimmt und der Regierungspolitik für die Dauer des Krieges Unterstützung zusagt[112] oder ähnliche Affirmationen von bisher gesellschaftlich marginalisierten Gruppen wie der katholischen Kirche oder dem ‚Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens‘:[113] Bei vielen Zeitgenossen entsteht zumindest der Eindruck, dass „das ganze deutsche Volk einig bis auf den letzten Mann!“[114] hinter den Truppen stehe – wie dies Reichskanzler Bethmann Hollweg in einer Rede vor dem Reichstag am 4. 8. 1914 behauptet. Bedeutsam für die Fragestellung der Seminararbeit ist das ‚Augusterlebnis‘ auch deshalb, weil dieses den Ausgangspunkt für die ‚Sinndeutung des Sinnlosen‘, also der sinnstiftenden Ideologisierung des Krieges bietet, die im Folgenden besprochen werden soll.
„Propaganda, die Zerstörung bestimmter Überzeugungen und die Schöpfung anderer“:[115] Darin liegt für den englischen Schriftsteller H. G. Wells in seiner 1914 verfassten Schrift The War That Will End War geradezu der eigentliche Sinn des Ersten Weltkrieges. In der Tat gewann die Meinungslenkung und damit die Ideologisierung des Krieges von 1914 bis 1918 – auch da die Stimmung der...