WARUM WIR DIESES BUCH SCHREIBEN
Ungefähr zu jener Zeit, als wir versuchten, unseren Sohn vom Videospiel abzubringen, hörten wir wieder die Fanfare. Sie schrillt immer öfter. Ihr Ton ist uns gut vertraut, ihre Melodie eher schlicht, der Pegel aber immer am Anschlag. Gestoßen wird die Fanfare von den Herren der Wirtschaft und ihren Vertretern.
An jenem Tag im Sommer 2000, als die Fanfare wieder ertönte, war zufällig Dieter Hundt dran, der Arbeitgeberpräsident. Seine Forderung lautete: «Lehrer in die Wirtschaft.» Und: «Wirtschaft als Lehrfach an der Schule.» Die Arbeitgeber sind unzufrieden mit dem Personal, das die Schulen an die Unternehmen liefern. Seit Jahren klagen sie: zu viel Theorie, zu wenig Praxis, zu viel Zeit an der Schule und an der Uni verbracht, schlecht vorbereitet auf das Berufsleben, unselbständig, unmotiviert und so weiter und so weiter.
Wir haben nichts gegen Wirtschaft als Lehrfach an der Schule. Aber an diesem Tag ist uns die hundtsche Trompete besonders stark auf die Nerven gegangen, weil uns scheint, dass die Fanfaren der Standortkrieger seit etlichen Jahren alles übertönen, was in unserem Land sonst noch so gesagt und gespielt wird.
Der Versuch der Wirtschaft, Einfluss auf Schule und Hochschule zu nehmen, ist legitim. Und heute, ein Jahr später, sind wir Herrn Hundt sogar dankbar dafür, denn er hat mit seinen lautstark vorgetragenen Forderungen eine längst überfällige Debatte über unser Bildungssystem angestoßen. Aber es ist bezeichnend, dass diese Debatte erst in Gang kam, nachdem die Wirtschaft auf unsere Bildungsmisere aufmerksam gemacht hatte.
Lange zuvor schon hatten Schüler, Lehrer und Eltern gegen Unterrichtsausfall, Lehrermangel und schlechte Bildung und Ausbildung demonstriert und jahrelang auf die Reformbedürftigkeit unseres Bildungswesens hingewiesen. Ohne jegliches Echo. Mindestens zwanzig Jahre lang haben sich Politiker und die Öffentlichkeit nicht dafür interessiert, was eigentlich in den Schulen los ist. Erst als Herr Hundt trompetete, nahmen auch die Medien wahr, dass unser Bildungssystem marode ist.
Das lässt uns – bei aller Freude über die endlich begonnene Debatte – fürchten, dass die Politiker bei der Gestaltung notwendiger Reformen vor allem auf die Wirtschaft hören und sich von deren Interessen leiten lassen. Eltern, Lehrer und Schüler haben aber ebenfalls ein legitimes Interesse an der Gestaltung unseres Bildungssystems.
Von denen hören wir jedoch nichts. Entweder, weil ihre leisen Stimmen im Trommelfeuer der Wettbewerbs-Kreuzzügler untergehen, oder weil sie verstummt sind und es aufgegeben haben, gegen den Lärm der Standortkommandanten etwas auszurichten.
Deshalb schreiben wir dieses Buch. Wir wollen das Feld nicht den Arbeitgebern und deren Lobbyisten überlassen. Darum mischen wir uns ein – nicht als Erziehungswissenschaftler oder Bildungsforscher, sondern als «Laien», als Eltern, die sich um die Zukunft ihrer Kinder sorgen und fast täglich mit den Stärken und Schwächen, den Fehlern und Versäumnissen unseres Bildungssystems konfrontiert werden.
Dabei geht es uns nicht um die Frage, ob «daß» künftig «dass» geschrieben wird oder «aufwendig» mit ä. Ob die Schule zwölf oder dreizehn Jahre dauern soll, welche Fächer mehr Wochenstunden bekommen sollen, ob wir ein europäisches Abitur brauchen und ob die Richtlinien der Kultusministerkonferenz mit Weisheit getränkt sind oder eher mit Bürokratenverstand. Das sind Fragen, die uns keine schlaflosen Nächte bereiten. Was uns dagegen Sorgen macht, sind beängstigende Berichte aus unseren Kindergärten und Schulen – Meldungen über sprachgestörte Kinder, ausgebrannte Lehrer, verhaltensauffällige Schüler, disziplinlose Schulklassen und gewalttätige Jugendliche.
Und noch mehr sorgt uns, dass die Öffentlichkeit, die Verbandsfunktionäre der Wirtschaft und die Politiker nicht über diese Phänomene sprechen, sondern lieber die fehlenden Internetanschlüsse der Schulen beklagen. Es ist absurd, wenn einige besonders eifrige Ideologen und Pädagogen sich darüber streiten, ob man Kinder schon mit drei oder erst mit fünf Jahren an den Computer setzen sollte. Das «Surfen» genannte Herumgeklicke in einem Internetbrowser zu einer neuen «Kulturtechnik» hochzustilisieren, halten wir für gewagt. Die Angst vor Computer-Analphabetentum erscheint uns übertrieben – weil wir an unseren eigenen Kindern sehen, dass sie den Umgang mit dem Computer, wie das Radfahren, fast allein und wie von selbst erlernen.
Wir verstehen, dass alle im elektronischen Kommerz engagierten Unternehmer voller Ungeduld den Tag herbeisehnen, an dem endlich jeder Deutsche in der Lage ist, seine Bestellungen via Internet zu tätigen. Wir bitten aber auch um Verständnis, dass wir den Drang unserer Kinder ins Internet eher bremsen als beschleunigen. Nicht nur, weil wir fürchten, dass die Kleinen unsere Kreditkarte zu sehr belasten, sondern auch aus anderen Gründen, die jeder versteht, der das Internet kennt, und auf die wir im Kapitel «Schulen ans Netz?» noch zu sprechen kommen.
Mangelnde Wettbewerbsfähigkeit und fehlende Internetanschlüsse der Schulen scheinen für manche das wichtigste Bildungs- und Erziehungsproblem überhaupt zu sein – und die Bundesbildungsministerin sieht das offenbar genauso. Kaum hatte Herr Hundt sich geäußert, überraschte Frau Bulmahn uns mit dem Plan, jeden Schüler mit einem Laptop zu beglücken.
Wir sehen ein: Wirtschaft, Computer, Internet, die digitale Technik, das sind Realitäten, an denen niemand vorbeikommt, schon gar nicht die Schule. Wir befinden uns mitten in einem historischen Umbruch, dessen Basis Computer, Internet und Gentechnik sind. Das muss sich in der Schule und in unserem gesamten Bildungssystem niederschlagen.
Lehrer und Schüler werden sich künftig auseinander setzen müssen mit Begriffen wie New Economy, Globalisierung, digitaler Kapitalismus, Biotechnologie, Nanotechnologie, Wettbewerb, Markt und auch mit der Rolle demokratischer Nationalstaaten in einer globalen Wirtschaft.
Wir akzeptieren aber nicht, dass dieser Umbruch zu einem Problem der PC-Ausstattung unserer Schulen verkürzt und in der öffentlichen Diskussion der Eindruck erweckt wird, man müsse nur endlich alle Schulen ans Netz hängen und jedem Schüler seinen Laptop geben, und alles sei gut.
Wahrscheinlich werden sich unter dem Zauber der Laptops und dem Glanz des Internets die hässlichen Betonklötze, in die wir unsere Schüler zwängen, von selbst verschönern. Uns als Eltern zweier Schulkinder wäre zwar lieber, wenn die Kultusminister endlich mehr Lehrer einstellten und in den Schulen nicht dauernd der Unterricht ausfiele. Und für viele berufstätige Eltern wäre es eine große Hilfe, wenn ihre Kinder nachmittags an den Schulen betreut werden könnten. Aber vielleicht verkleinert ja der Zauberlaptop die Klassen von selbst und bringt aus dem Nichts zahlreiche bestens ausgebildete und motivierte Lehrer hervor, die sich auch noch am Nachmittag begeistert um ihre Schüler kümmern. Möglicherweise vergessen die Schüler aus lauter Begeisterung über ihre neuen Laptops das Dealen mit Drogen auf dem Schulhof.
Die Wirtschaft fordert – die Politik reagiert
Die PC-Ausstattung einer Schule ist wohl kaum das Kriterium für deren Qualität. Computer sind ein Nebenproblem. Wir fürchten, dass für die Lösung dieses Nebenproblems so viele Milliarden verpulvert werden, dass für den Kampf gegen den eigentlichen Notstand – Lehrermangel, Raumnot an den Schulen, veraltete Lehr- und Unterrichtsmethoden, Reformstau im Bildungssystem, Vernachlässigung der Erziehung aus Zeitmangel, aggressive, überforderte, verwöhnte, verwahrloste Kinder – keine Mark mehr übrig bleibt.
Es muss klar gesagt werden: Wir haben keinen Internet-Notstand, sondern einen Erziehungsnotstand.
Auf diesen Notstand hinzuweisen scheint uns auch deshalb geboten, weil ein schon lange zu beobachtender Trend nun auch unsere Schulen erreicht hat: der Trend zum Primat der Ökonomie. Unter diesem Primat wird das, was wir einmal unsere Heimat genannt haben, seit etlichen Jahren zum Industriestandort planiert, an dem alles unterbleibt, was sich erst nach langer Zeit oder gar nicht rechnet.
Unter diesem Primat verkümmert Politik zur möglichst schnellen und reibungslosen Anpassung an echte oder vermeintliche Erfordernisse des internationalen Wettbewerbs. Die Marketingstrategen der jeweils regierenden Politiker verkaufen uns die Vollstreckung angeblicher Sachzwänge und den Verzicht auf einen eigenen Gestaltungswillen als «Modernisierung». Unter dem Primat der Ökonomie verkommen unsere Universitäten zu bloßen Zulieferbetrieben der Wirtschaft. Der Zweck solcher Hoch- und Fachhochschulen erschöpft sich in der Lieferung von Personalnachwuchs, «Human Resources» – also Menschenmaterial für die Schlacht um Marktanteile, Technologietransfer und Know-how.
Wenn wir in Deutschland den Mangel an Experten für Informationstechnik «schneller beseitigen können als anderswo», dann «sind wir plötzlich ein rohstoffreiches Land», sagt Thomas Heilmann, den Direktor der Werbeagentur Scholz & Friends. Und der Rohstoff, der «ist da drin», sekundiert der Mathematik-Professor Josef Nietzsch, der mit dem Zeigefinger an seiner Schläfe bohrt.1
Rohstoffe, Know-how, Technologien, Computer, Internet, IT-Experten – das sind die Begriffe, die unsere Debatten dominieren. Von Bildungszielen ist nicht mehr die Rede, es sei denn, man lässt «Wettbewerbsfähigkeit» als Bildungsziel gelten. Es wäre dann das einzige, das wir noch haben, und unser...