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Der Fall Sierra Leone. Sondergerichtshof, Amnestien, Wahrheits- und Versöhnungskommission

AutorCatharina Hübner
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl93 Seiten
ISBN9783640467921
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis27,99 EUR
Magisterarbeit aus dem Jahr 2009 im Fachbereich Jura - Europarecht, Völkerrecht, Internationales Privatrecht, Note: 14 Punkte, Universität Leipzig (Institut für Völkerrecht, Europarecht und ausländisches öffentliches Recht), Sprache: Deutsch, Abstract: Am 18.01.2002 wurde in Sierra Leone ein über zehn Jahre andauernder, mit extremer Brutalität geführter Bürgerkrieg offiziell für beendet erklärt. Er hinterließ ca. 50.000 Tote (andere Quellen gehen von bis zu 200.000 Toten aus), etwa 20.000 (anderen Angaben zufolge 400.000) verstümmelte Menschen, über 2 Millionen Flüchtlinge und Binnenvertriebene, verwüstete Dörfer und Städte sowie eine zerstörte Infrastruktur. Zukunftsweisende, für den dauerhaften Frieden und die Stabilität im Land elementare Fragen betrafen den Umgang mit den Geschehnissen des Bürgerkrieges. Wie sollten die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen aufgearbeitet und die Vergangenheit bewältigt werden? Auf welchem Weg konnten das Verlangen der Opfer nach Gerechtigkeit befriedigt und die Versöhnung innerhalb der Bevölkerung erreicht werden? Für die Gestaltung des Transitionsprozesses in Postkonfliktgesellschaften gibt es kein Patentrezept. Da jedoch viele afrikanische Staaten von Konflikten, Bürgerkriegen und Kriegen betroffen waren und es noch immer sind, kann konstatiert werden, dass gerade diese Staaten eine Vorreiterrolle bezüglich der Vergangenheitsbewältigung, des Umganges mit Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen sowie weiterer mit dem Übergangsprozess zusammenhängender Aspekte spielen. Die Besonderheit im Fall von Sierra Leone besteht darin, dass hier neben Amnestieregelungen für die Täter auch die Einrichtung eines Sondergerichtshofes und einer Wahrheits- und Versöhnungskommission beschlossen wurden. Ob bzw. wie sich diese unterschiedlichen Instrumente der Vergangenheitsbewältigung miteinander vereinbaren lassen, welche positiven und negativen Folgen der eingeschlagenen Weg mit sich bringt und vor allem welcher Beitrag zur Aufarbeitung des Bürgerkrieges, zu dauerhaftem Frieden sowie zur rechtsstaatlichen Entwicklung des Landes geleistet werden konnte, soll in der vorliegenden Arbeit untersucht werden. Hierfür wird zunächst auf die Geschichte Sierra Leones und den Verlauf des Bürgerkrieges eingegangen. Im Anschluss folgt eine ausführliche Darstellung des Sondergerichtshofes sowie der Vereinbarkeit seiner Tätigkeit mit den Amnestieregelungen. In einem nächsten Schritt soll auf die Arbeit der Wahrheits- und Versöhnungskommission eingegangen werden. Mit dem Verhältnis von Sondergerichtshof und Wahrheits- und Versöhnungskommission zueinander setzt sich das darauf folgende Kapitel auseinander. Abschließend sollen die eingangs aufgeworfenen Fragen beantwortet werden.

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Leseprobe

4. Der Sondergerichtshof für Sierra Leone


 

Für die Verfolgung von Straftaten und die Verurteilung der Täter sind in einem Rechtsstaat die nationalen Gerichte zuständig.[72] Es gibt jedoch Situationen in denen Staaten nicht in der Lage sind Justiz zu üben und Gerechtigkeit zu schaffen. Dies ist vor allem nach kriegerischen Auseinandersetzungen, die oftmals die Zerstörung der Infrastruktur und den Zusammenbruch des Justizwesens zur Folge haben, der Fall. Ein weiteres Problem besteht in manchen Ländern darin, dass die Gewaltenteilung gar nicht oder nur auf dem Papier existiert und daher die Unabhängigkeit der Judikative stark angezweifelt werden muss. Aus diesem Grund wird seit einiger Zeit auf internationale Gerichte[73], welche die Ahndung von Völkerrechtsverbrechen zur Aufgabe haben, zurückgegriffen.[74] Insoweit ist zwischen den ad-hoc Tribunalen und dem permanenten International Criminal Court (ICC) zu unterscheiden. Die ad-hoc Tribunale sind ihrerseits in die rein internationalen und die internationalisierten bzw. hybriden Gerichtshöfe zu unterteilen.[75] Zu den rein internationalen ad-hoc Strafgerichtshöfen, welche durch einen Beschluss des VN Sicherheitsrates[76] ins Leben gerufen und deren Ankläger und Richter durch Organe der VN ernannt bzw. gewählt werden, zählen das International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia (ICTY) mit Sitz in Den Haag (Niederlande) und das in in Arusha (Tansania) angesiedelte International Criminal Tribunal for Rwanda (ICTR). Internationalisierte bzw. hybride Gerichte, die in der Regel auf einer Übereinkunft zwischen den Vereinten Nationen und der jeweiligen Regierung beruhen und sich durch die gemischt nationale – internationale Besetzung sowie den Sitz am Ort des Geschehens auszeichnen, haben sich gerade in den letzten Jahren als Alternative zu den rein internationalen Strafgerichten etabliert.[77] Neben dem Special Tribunal for Cambodia und den Special Panels for Serious Crimes in Timor-Leste stellt auch der Special Court for Sierra Leone einen solchen hybriden Strafgerichtshof dar. In den nächsten Abschnitten findet eine Auseinandersetzung unter anderem mit der Entstehungsgeschichte, den Organen, der Zuständigkeit sowie der Rechtsprechung des letztgenannten statt. Dort wo es angebracht ist, wird auf die Besonderheiten im Vergleich zu den rein internationalen aber auch zu den anderen hybriden Gerichtshöfen eingegangen.

 

4.1 Rechtsgrundlage und Zielsetzungen des Sondergerichtshofes für Sierra Leone


 

Durch die im Abkommen von Lomé vereinbarten Amnestien schien eine strafrechtliche Aufarbeitung der im Bürgerkrieg begangenen Verbrechen zunächst unwahrscheinlich. Am 12.06.2000 jedoch wandte sich Präsident Kabbah in einem Brief an den damaligen VN Generalsekretär Kofi Annan und ersuchte die Vereinten Nationen um Unterstützung bei der Einrichtung eines Sondergerichtshofes für Sierra Leone.[78] Kabbah’s mutmaßlicher Grund für dieses Vorgehen war der Wunsch, durch die Verhaftung der zu diesem Zeitpunkt immer noch mächtigen Rebellenführer Stabilität und Frieden und nicht zuletzt die Sicherung seiner eigenen           politischen Position zu erreichen. Außerdem bot sich durch die Einsetzung eines internationalen Tribunals die Möglichkeit einer fairen, transparenten und unabhängigen Strafjustiz, wie sie Sierra Leone nicht hätte gewährleisten können.[79] In der Resolution 1315 vom 14.08.2000 stellte der VN Sicherheitsrat fest, dass die fehlende effektive Strafverfolgung der Verantwortlichen des Bürgerkrieges eine Friedensbedrohung gemäß Art. 39 VN Charta darstelle.[80] Anders als bei der einseitigen Errichtung von ICTY[81] und ICTR[82] machte der Sicherheitsrat aber nicht von seinen Kompetenzen nach Kapitel VII VN Charta Gebrauch, sondern ermächtigte den Generalsekretär einen bilateralen Vertrag zur Etablierung eines Sondergerichtshofes auszuhandeln.[83] Diese Entscheidung ist darauf zurückzuführen, dass ein weiteres reines VN Gericht auf Grund der weit verbreiteten Unzufriedenheit mit ICTY und ICTR und der absehbaren finanziellen Belastung der VN Mitgliedstaaten nicht durchsetzbar war. Durch einen auf vertraglicher Grundlage beruhenden Gerichtshof war es möglich, dem Bedürfnis der Sicherheitsratsmitglieder nach Befriedung der Region zu entsprechen, ohne dass diese dabei all zu viel Verantwortung übernehmen mussten. [84]

 

Nach Verhandlungen in New York und Freetown legte der Generalsekretär am 04.10.2000 seinen Bericht bezüglich der Gründung des Sondergerichtshofes für Sierra Leone sowie Entwürfe des Vertrages und des Statuts vor.[85] Da der Sicherheitsrat verschiedene Einwände gegen Bestimmungen der Entwürfe hatte, musste erneut verhandelt werden. Unter Berücksichtigung der Änderungsvorschläge wurde am 16.01.2002 der Vertrag zwischen den Vereinten Nationen und der Regierung Sierra Leones zur Errichtung des Sondergerichtshofes für Sierra Leone mit Sitz in Freetown, in dessen Annex sich das Statut des Gerichtshofes befindet, unterzeichnet.[86] Um in Kraft treten zu können, musste dieser völkerrechtliche Vertrag gemäß section 40 (4) der Verfassung Sierra Leones[87] durch das Parlament ratifiziert sowie in nationales Recht transformiert werden.[88] Mit dem vom Parlament im März 2002 verabschiedeten Special Court Agreement Ratification Act wurden diese beiden Vorgaben erfüllt und die Errichtung des Sondergerichtshofes konnte beginnen.[89]

 

In Art. 1 des Vertrages zur Gründung des SCSL sowie in Art.1 des SCSL Statuts heißt es, dass der Sondergerichtshof für die Anklage von Personen, „who bear the greatest responsibility for serious violations of international humanitarian law and Sierra Leonean law” zuständig ist. Neben diesem wichtigsten Anliegen, die Täter von schwersten Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung zu ziehen und damit der Straflosigkeit ein Ende zu setzen, existieren eine Reihe weiterer Ziele. Hierzu zählen die Abschreckung von potenziellen Tätern, Gerechtigkeit für die Opfer, die Aussöhnung innerhalb der Gesellschaft, die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in Sierra Leone sowie die Unterstützung beim Aufbau von juristischen Kapazitäten. Auf internationaler Ebene wird erwartet, dass der Sondergerichtshof einen Beitrag zur Ermittlung von Völkergewohnheitsrecht und zur Fortentwicklung des Völkerrechts leistet.[90] Ob diese Ziele und Erwartungen erfüllt werden konnten, wird sich im Verlauf dieser Arbeit zeigen.

 

4.2 Rechtsnatur und Status des Sondergerichtshofes für Sierra Leone


 

Wie soeben unter 4.1 erörtert, ist der Sondergerichtshof für Sierra Leone - anders als ICTY und ICTR – kein auf Grund einer Sicherheitsratsresolution nach Kapitel VII VN Charta errichtetes Organ der Vereinten Nationen. Ein entscheidender Unterschied zwischen den ad-hoc Tribunalen besteht also darin, dass der sierra-leonische Sondergerichtshof dem Staat nicht oktroyiert wurde, sondern ein auf Initiative der Regierung Sierra Leones zu Stande gekommener bilateraler Vertrag die rechtliche Grundlage bildet.[91] Das hat den Vorteil, dass der Vorwurf der „Fremdjustiz“ nicht gemacht werden kann und ein Eingriff in die staatliche Souveränität nicht stattfindet.[92] Zudem ist der Gerichtshof, trotz der Transformation des Vertrages in nationales Recht durch den Special Court Agreement Ratification Act, unabhängig von der Regierung und dem Justizwesen Sierra Leones.[93]

 

Der Generalsekretär beschrieb den SCSL daher als einen auf vertraglicher Grundlage beruhenden sui generis Gerichtshof, der in keinem der existierenden Systeme verankert ist.[94] Daran wird deutlich, dass eine eindeutige Bestimmung des Sondergerichtshofes als nationales oder internationales Strafgericht nicht möglich ist. Vielmehr handelt es sich um ein neues Modell der Strafverfolgung, das sowohl nationale als auch internationale Elemente vereint.   Auf diese, im Gründungsvertrag und Statut enthaltenen Besonderheiten, wird im Folgenden genauer eingegangen werden.[95]

 

Zunächst soll der Status des Special Court for Sierra Leone sowohl innerhalb als auch außerhalb der Grenzen Sierra Leones untersucht werden. Relevant ist dieser vor allem im Hinblick auf die in Betracht zu ziehende Strafverfolgung auch in den angrenzenden Staaten, sei es z.B. weil sie als Rückzugsgebiet für die Rebellen dienen oder weil mutmaßliche Hauptverantwortliche von Bürgerkriegsverbrechen nicht aus Sierra Leone, sondern aus den Nachbarstaaten stammen – zu denken wäre hier unter anderem an Charles Taylor/Liberia.  

 

Ausgestattet mit völkerrechtlicher Rechtspersönlichkeit[96] genießt der Sondergerichtshof im Rahmen seines Statuts Vorrang vor den nationalen Gerichten Sierra Leones[97]. In Bezug auf die Gerichte...

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