Von der Freiheit eines Christenmenschen
Wittenberg, 1520
1.
Damit wir die Gründe verstehen, die einen Christen zum Christen machen und damit wir erkennen, wie es um die Freiheit bestellt ist, die ihm Christus erworben und gegeben hat, worüber der Heilige Paulus ausführlich spricht, mache ich zunächst diese beiden Feststellungen:
Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan.
Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.
Diese zwei Aussagen sind offensichtlich: Paulus schreibt, 1. Korinther 9: „Ich bin frei in allen Dingen und habe mich für jedermann zum Knecht gemacht.“ Genauso sagt er im Römerbrief 13: „Ihr sollt niemandem zu etwas verpflichtet sein, außer dass ihr euch untereinander liebt.“ Liebe aber, die ist dienstbar und dem untertan, was sie liebt; also sagt er auch von Christus, Galater 4: „Gott hat seinen Sohn ausgesandt, von einem Weibe geboren, und dem Gesetz untertan gemacht.“
2.
Bei diesen sich widersprechenden Aussagen über Freiheit und Dienstbarkeit müssen wir wissen, dass jeder Christ aus zwei Naturen besteht, einer geistlichen und einer leiblichen. Mit Blick auf die Seele wird er ein geistlicher, neuer, innerlicher Mensch genannt, nach dem Fleisch und Blut wird er ein leiblicher, alter und äußerlicher Mensch genannt. Und wegen dieses Unterschiedes werden in der Bibel sich direkt widersprechende Aussagen über ihn getroffen, wie ich sie gerade von der Freiheit und Dienstbarkeit gesagt habe.
3.
Wenn wir den innerlichen, geistlichen Menschen betrachten, um zu verstehen, was ein gläubiger, freier Christenmensch ist, so ist es offensichtlich, dass ihn keine Äußerlichkeiten gläubig machen können, denn seine Frömmigkeit und Freiheit oder seine Bosheit und Gebundenheit sind weder leiblich noch äußerlich. Was hilft es schließlich der Seele, wenn der Leib frei, frisch und gesund ist, mag er essen, trinken, wie er will! Wiederum, was schadet es der Seele, wenn der Leib gefangen, krank und matt ist, hungert, dürstet und leidet! Keines dieser Dinge reicht bis an die Seele, um sie zu befreien oder zu fangen, um sie gottgefällig oder böse zu machen.
4.
Deshalb hilft es der Seele auch nicht, wenn der Leib heilige Kleider anlegt, wie es die Priester und Geistlichen tun. Es hilft einem Christen auch nicht, wenn er Kirchen und heilige Stätten besucht, auch nicht, wenn er mit heiligen Dingen umgeht, und auch nicht, wenn er leiblich betet, fastet, Wallfahrten unternimmt und alle guten Werke tut, die durch und in dem Leibe geschehen mögen. Es muss noch etwas ganz anderes geben, was der Seele Frömmigkeit und Freiheit bringt und gibt. Denn all diese erwähnten Dinge, Pflichten, Werke und Verhaltensweisen könnte auch ein böser Mensch und Heuchler besitzen, übernehmen und ausüben, womit nichts anderes als Heuchler entständen. Andererseits schadet es der Seele nichts, wenn der Leib unheilige Kleider trägt, und sich an unheiligen Orten aufhält, dort isst, trinkt, nicht betet und alle die Werke nicht ausführt, die die erwähnten Heuchler tun.
5.
Die Seele besitzt nichts anderes, weder im Himmel noch auf Erden, worin sie lebt, fromm, frei und Christ ist, als das heilige Evangelium, das Wort Gottes, das von Christus gepredigt wurde, wie er selbst sagt, Johannes 11: „Ich bin das Leben und die Auferstehung, wer an mich glaubt, der lebt ewiglich“ oder Matthäus 4: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von allen Worten, die da gehen von dem Mund Gottes.“ Deshalb ist es gewiss, dass die Seele alles außer dem Worte Gottes entbehren kann, und dass außer durch das Wort Gottes ihr mit nichts geholfen werden kann.
Wenn die Seele aber das Wort besitzt, braucht sie auch keine anderen Dingen mehr, sondern sie hat im Wort genug Speise, Freude, Friede, Licht, Kunst, Gerechtigkeit, Wahrheit, Weisheit, Freiheit und alle Dinge im Überfluss. Deshalb lesen wir in den Psalmen, besonders im 119. Psalm, dass der Prophet nur nach dem Gotteswort verlangt. Und in der Schrift wird es als die allerhöchste Plage und als Gotteszorn betrachtet, wenn Gott sein Wort von den Menschen wegnimmt. Andererseits wird es als keine größere Gnade angesehen, als wenn Gott sein Wort sendet, wie im Psalm 107 steht: „Er hat sein Wort ausgesandt, womit er ihnen geholfen hat.“ Und Christus ist auch mit keinem anderen Auftrag gekommen, als das Wort Gottes zu predigen. Auch sind alle Apostel, Bischöfe, Priester und der ganze geistliche Stand allein wegen des Wortes berufen und eingesetzt, obwohl es nun leider anders zugeht.
6.
Fragst du aber: „Welches ist denn das Wort, das diese große Gnade gewährt, und wie soll ich's gebrauchen?“ Dann lautet die Antwort: Es ist nichts anderes als die Predigt Christi, wie sie das Evangelium enthält. In ihm hörst du deinen Gott zu dir reden. Er sagt dir, dass dein ganzes Leben und deine Taten vor Gott nichts sind, sondern mit allem, was in dir ist, auf ewig verderben müssen. Wenn du also recht glaubst, dass du schuldig bist, so wirst du an dir selbst verzweifeln und bekennen, dass der Spruch Hoseas wahr ist: „O Israel, in dir ist nichts denn dein Verderben, allein aber in mir steht deine Hilfe!“
Damit du aber deinem Verderben entrinnen kannst, gibt Gott dir seinen Sohn Jesus Christus und lässt dir durch sein lebendiges und tröstliches Wort sagen: Du sollst diesem Wort mit festem Glauben folgen und einfach darauf vertrauen. So sollen dir durch diesen Glauben alle deine Sünden vergeben, dein Verderben überwunden und du gerecht, wahrhaftig, befriedet, fromm und alle Gebote erfüllt sein, und du sollst von allen Dingen frei sein, wie Paulus sagt, Römer 1: „Ein gerechtfertigter Christ lebt nur von seinem Glauben.“; und Römer 10: „Christus ist das Ende und die Fülle aller Gebote denen, die an ihn glauben.“
7.
Darum sollte es das einzige rechtfertigende Werk aller Christen sein, dass sie das Wort und Christus gut in sich ausbilden, diesen Glauben ständig üben und stärken. Denn kein anderes Werk kann einen Christen ausmachen, wie Christus, Johannes 6, zu den Juden sagt. Als sie ihn fragten, was sie für göttliche und christliche Werke tun sollten, sprach er: „Das ist das einzige göttliche Werk, dass ihr an den glaubt, den Gott gesandt hat“, welchen Gott, der Vater, allein damit beauftragt hat.
Darum ist ein echter Glaube an Christus ein sehr großer Reichtum. Denn er bringt mit sich alle Seligkeit und nimmt alle Unseligkeit weg, wie Markus am letzten sagt: „Wer da glaubt und getauft ist, der wird selig; wer nicht glaubt, der wird verdammt.“ Darum sah auch der Prophet Jesaja den Reichtum desselben Glaubens an und sprach: „Gott wird eine kurze Summe machen auf Erden, und die kurze Summe wird wie eine Sintflut die Gerechtigkeit einflößen“. Das ist der Glaube, in dem alle Gebote ihre Erfüllung finden, und er wird im Überfluss alle rechtfertigen, die ihn haben, so dass sie nichts mehr bedürfen, um gerecht und fromm zu sein. Deshalb sagt Paulus, Römer 10: „Dass man von Herzen glaubt, das macht einen gerecht und fromm.“
8.
Wie kommt es aber, dass der Glaube allein den Menschen gottgefällig und ohne alle Werke so reich machen, obwohl doch so viele Gesetze, Gebote, Werke und Weisen in der Schrift vorgeschrieben werden? Zunächst ist festzuhalten, dass allein der Glaube ohne alle Werke fromm, frei und selig macht, wovon wir später noch mehr hören werden. Man muss aber wissen, dass die ganze Heilige Schrift in zweierlei Worte aufgeteilt ist: die Gebote beziehungsweise Gesetze Gottes sowie seine Verheißungen beziehungsweise Zusagen. Die Gebote lehren und schreiben uns viele gute Taten vor, aber damit sind diese noch nicht geschehen. Sie weisen an, sie helfen aber nicht, sie lehren, was man tun soll, geben aber keine Stärke dazu. Darum sind sie nur dazu angeordnet worden, dass der Mensch durch sie sein Unvermögen zu dem Guten sehe und an sich selbst verzweifeln lerne. Und darum nennt man sie auch das Alte Testament und sie gehören alle ins Alte Testament. Wie das Gebot: „Du sollst nicht böse Begierde haben“ beweist, dass wir allesamt Sünder sind, da kein Mensch ohne böse Begierde zu sein vermag, tue er, was er will. Hierdurch lernt er, an sich selbst zu verzagen und anderswo Hilfe zu suchen, um ohne böse Begierde zu sein und er damit das Gebot durch einen anderen erfülle, was er aus sich selbst nicht vermag, und genauso können wir auch alle anderen Gebote unmöglich erfüllen.
9.
Wenn nun der Mensch aus den Geboten sein eigenes Unvermögen gelernt und empfunden hat, so wird ihm angst, wie er dem Gebot Genüge tun kann, weil ja das Gebot erfüllt sein muss, damit er nicht verdammt werde. Ist er also in seinen eigenen Augen zu Recht gedemütigt und zunichte geworden, so findet er nichts in sich, womit er fromm werden könne. Doch dann kommt das andere Wort, die göttliche Verheißung und Zusage, die spricht: „Willst du alle Gebote erfüllen, deine böse Begierde und Sünde loswerden, wie es die Gebote fordern, siehe da, glaube an Christus, in welchem ich dir alle Gnade, Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit zusage. Glaubst du, so hast du, glaubst du nicht, so hast du nicht. Denn die Befolgung der Gebote wird dir unmöglich gelingen, das wird dir aber durch den Glauben leicht und ohne Umwege gelingen. Denn ich habe alle Dinge einfach in den Glauben gestellt, so dass, wer ihn hat, alle Dinge haben und selig sein soll. Wer den Glauben nicht hat, soll nichts haben. Also geben die Zusagen Gottes, was die Gebote fordern, und die Zusagen...