Einleitung
„Unter den Dingen, die uns heute bewegen, scheint es nicht viele zu geben, die nicht auf eine sehr genaue Weise mit der Gerechtigkeit zu tun haben.“ Das schrieb der deutsche Soziologe und Philosoph Josef Pieper im Jahr 1953 in seinem Büchlein Über die Gerechtigkeit. Wenn wir heute Umschau halten, drängt sich der gleiche Befund auf, nur dass die „Dinge“, die uns bewegen, andere sind als nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust, als die Menschenrechte selbst fast tödlich versehrt waren.
Die massenhafte Flucht- und Wirtschaftsmigration, an der sich Pflichtethik (dem Mitmenschen in Not helfen zu müssen) und Verantwortungsethik (Sorge tragen zu müssen, dass nicht zerstörerische Unordnung importiert wird) in endloser Dialektik abarbeiten, nimmt hier momentan unweigerlich den ersten Rang ein. Die globale Verteilungsungerechtigkeit, die sich immer heftiger an der absurden Konzentration des Wohlstands auf ein paar Hundert Millionen Menschen entzündet – mit ein paar Individuen, die überhaupt große Anteile des gesamten Weltvermögens in ihrer Verfügung halten –, nimmt wohl den zweiten Rang ein.
Grundlegender als alle anderen Fragen des gerechten Verhaltens der Menschen scheint die ökologische Herausforderung zu sein: Gleicht der „Umgang des Menschen mit dem Planeten (tatsächlich) einem Katastrophenfilm, in dem rivalisierende Mafiagruppen sich an Bord eines Flugzeugs in 12.000 Meter Höhe ein Feuergefecht mit großkalibrigen Waffen liefern“?1 Oder auf den Ausgang hin gefragt: Gelingt es der Menschheit doch noch, die Biosphäre durch Zurückhaltung unter Zuhilfenahme der hinzugekommenen Technosphäre so weit zu schonen, dass nicht bald gleichsam „alles“ im sozialen und natürlichen Gefüge aus dem Ruder läuft?
In dem vorliegenden Buch gehen wir es bescheidener an und wenden uns dem Phänomen der Arbeitslosigkeit zu. Denn auch die Arbeitslosigkeit ist eine schwelende Wunde für die Idee der Gerechtigkeit, weil Arbeit für die überwiegende Mehrheit der Menschen die Nabelschnur zur Teilhabe an der Welt ist. Selbst die Arbeitslosigkeit im modernen Sozialstaat ist für viele Betroffene eine veritable persönliche Katastrophe. Zugleich ist sie ein prädestiniertes Exerzierfeld für das gesellschaftliche Ringen um soziale Gerechtigkeit.
Aktuelle Entwicklungen am Arbeitsmarkt deuten darauf hin, dass mehr arbeitslosen Menschen, die staatliche Leistungen beziehen, mehr abverlangt werden muss, als das bislang der Fall ist. Wer heute im Hinblick auf das faktische Stellenangebot zu wählerisch ist, läuft Gefahr, länger oder dauerhaft von der Teilhabe am Erwerbsleben ausgeschlossen zu bleiben. Wer als Arbeitsloser nicht bereit oder in der Lage ist, Eigenverantwortung zu übernehmen, zum Beispiel für eine neue berufliche Ausbildung, bleibt länger vom Sozialsystem abhängig, als das für seine Selbstachtung gut sein kann.
Der Ruf nach mehr Härte und Strenge in der Arbeitsmarktpolitik ist jedoch kontraproduktiv, wenn er tief verankerte Grundsätze sozialer Gerechtigkeit missachtet. Ein Hauptanliegen dieses Buches ist es, den Blick dafür zu öffnen, dass Gerechtigkeit vielschichtig ist und nicht nur eine moralische Dimension hat. Auf bestimmte Weise ist sie auch zweckmäßig im wirtschaftlichen Sinne, denn die Dimension der Nützlichkeit gehört seit jeher zu ihr wie das Streiten um die richtigen Werte und Tugenden. So verstanden ist Gerechtigkeit ein wesentlicher Faktor im Immunsystem eines Gemeinwesens.
Der Ursprung aller Gerechtigkeitsvorstellungen liegt darin, dass der Mensch dem Menschen das zukommen lässt, was ihm als das Seine jeweils zusteht. Daraus ergibt sich für den gesellschaftlichen Umgang mit Arbeitslosen der Auftrag, dass sowohl die Betreuung als auch die finanziellen Leistungen möglichst exakt auf die Person und ihre jeweilige Lage abgestimmt werden müssen.
Seit rund zehn Jahren steigt in Österreich2 die Beschäftigung bei einem gleichzeitigen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Selbst unter den Bedingungen der Hochkonjunktur wie in den letzten zwei Jahren können die Arbeitslosen am Beschäftigungswachstum nur zu knapp einem Drittel teilhaben. In Deutschland ist zwar die Arbeitslosenquote in den letzten Jahren deutlich gesunken. Der Sockel an Langzeitarbeitslosigkeit erweist sich jedoch als störrisch hoch und die Gesamtzahl der Grundsicherungsbezieher verändert sich wenig.
Die „schöpferische Zerstörung“ im Wirtschaftsprozess, die sich heute für die Arbeitskräfte vor allem als unablässiges Hinaufschrauben der Qualifikationserfordernisse in vielen Berufen offenbart, droht diejenigen, die weniger Begabung und Übung im Können und Wollen an den Tag legen, dauerhaft zu isolieren. Der Fachkräftemangel wird zur kollektiven Irritation, weil ihn viele beklagen und zugleich die Abwertung der manuellen Arbeit unaufhaltsam zu sein scheint.
Die großen regionalen Ungleichgewichte bei der Arbeitslosigkeit – in Österreich zum Beispiel konzentrieren sich 40 % der Arbeitslosigkeit auf Wien, mehr als 80 % aller gemeldeten offenen Stellen finden sich jedoch außerhalb von Wien – zeigen nicht nur die unzureichende Mobilität der Arbeitskräfte, sondern weiten die Frage der Zumutbarkeit von Arbeit auf die Frage der Zumutbarkeit eines staatlich eingeforderten Wohnortwechsels aus.
Die Migration führt auch am Arbeitsmarkt zunehmend zu Erschütterungen: Die Konkurrenz von zukunftshungrigen Arbeitskräften aus den neuen, ärmeren EU-Nachbarstaaten, oft ganz profan motiviert vom Kaufkraftvorteil des Grenzgängertums, lässt viele Einheimische und früher Zugezogene gedemütigt und arbeitslos zurück. Dazu kommt, dass Flucht, Migration und Familiennachzug zu einer Zunahme des (zunächst) unqualifizierten Arbeitskräfteangebots führen, mit der Folge von Funktionsstörungen am Arbeitsmarkt und Legitimitätsverlusten im Sozialsystem.
Schon schüren die unzureichende Teilhabe der Arbeitslosen am Beschäftigungsaufbau und der hohe Sockel an Langzeitarbeitslosen in breiten Teilen der Bevölkerung tiefe Zweifel am Arbeits- und Ausbildungsethos vieler Leistungsbezieher. Die ideologische Debatte darüber spielt sich zwischen zwei Polen ab: Auf der einen Seite stehen diejenigen, die arbeitslosen Menschen keinesfalls (noch) mehr zumuten wollen und die Ursachen für die Probleme am Arbeitsmarkt letztlich in einem ungerechten Wirtschaftssystem oder in bedauernswerten persönlichen und sozialen Schicksalen verorten. Auf der anderen Seite stehen jene, die ihre Verachtung für die „unwilligen“ Arbeitslosen – insbesondere aus den unteren Schichten und aus Migrantenmilieus – kaum mehr verbergen wollen und ohne Unterlass mehr Kontrolle und rigidere Regeln fordern.
Die Arbeitslosigkeit wird in der Öffentlichkeit vorwiegend ideologisch oder ökonomisch interpretiert. Philosophisch-praktisch, also im Hinblick auf grundlegende Fragen der Gerechtigkeit, die sich in den konkreten Erfahrungen und in den Handlungsmotiven der betroffenen Menschen widerspiegeln, kommt das Thema kaum in den Blick.
Wir, Georg Grund-Groiss, Leiter einer Regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice in Österreich und gelernter Philosoph, und Philipp Hacker-Walton, Journalist und Buchautor, haben uns genau das vorgenommen und befassen uns anhand von fiktiven, aber typischen Fallgeschichten auf ungewohnte Weise mit dem Phänomen der Arbeitslosigkeit.
Wir fragen unter anderem: Würde Aristoteles es für gerecht halten, wenn Langzeitarbeitslose auf offene Stellen außerhalb ihres angestammten Berufsbereichs vermittelt würden?
Was würde Immanuel Kant meinen, wenn ein Mensch verzweifelt ist, weil er sich im falschen Beruf eingesperrt fühlt und um die Förderung einer Umschulung ansucht? Hat die Allgemeinheit vor dem Hintergrund des kategorischen Imperativs die Pflicht zu helfen?
Wäre der amerikanische Philosoph John Rawls einverstanden, wenn Arbeitslose in Jobs vermittelt würden, in denen sie nur mehr halb so viel verdienten wie zuvor? Was würde er zur schlechten Entlohnung von angeblich moralisch hoch angesehenen Berufen wie der Krankenpflege sagen? Würde er sein berühmtes Differenzprinzip verletzt sehen?
Diese spekulativen Erkundigungen bei anerkannten Philosophen, ob sie denn unser System der Betreuung und Vermittlung von arbeitslosen Menschen für gerecht hielten, laufen – in gängiger philosophischer Terminologie – auf die Frage hinaus: Wie utilitaristisch darf ein System der Arbeitsmarktpolitik in einer demokratischen Gesellschaft sein und wie liberal und individuell anwendbar muss es sein?
Zumindest ein Aspekt der Thematik ist von direkter politischer Brisanz, weil in Deutschland Hartz IV seit der Einführung im Jahr 2005 für viele ein wunder Punkt im Gerechtigkeitsempfinden ist und weil in Österreich für das Jahr 2019 von der Regierung eine Reform der Arbeitslosenversicherung geplant ist, die ebenfalls markant in die moralische Ordnung eingreifen wird.
Wir nehmen das zum Anlass, anhand der konkreten...