Zweites Kapitel
Der Knabe
Inhaltsverzeichnis
Er war noch ein Kind, der kleine Ernst, und wußte nicht, was Leben und Sterben war.
Er fühlte nur, daß das Leben warm war wie die Sonne dort draußen; der kalte Hauch des Todes hatte ihn auch aus der Ferne noch nicht berührt.
Er sollte seine eisige Nähe früh kennen lernen.
– Er war noch nicht zwölf Jahre alt, als er die verlor, die seine Welt und ihr ganzer Inhalt gewesen war und ohne die er sich diese Welt nicht denken konnte.
Die Gesundheit der Mutter war in der Tat untergraben, und sie starb nach der langen und schweren Krankheit eines Winters. Sie starb schwer und kämpfte um ihr Leben bis zum letzten Atemzuge. Sie wußte, daß ihr Mann das Kind zurückfordern und daß er versuchen würde, zu biegen und zu beugen, was bis jetzt so schön und aufrecht gewachsen war; und sah keine Möglichkeit, es zu hindern.
Als sie begriff, daß der Tod der Stärkere war, nahm sie ihren Jungen an ihre Seite und sprach mit ihm. Sie sagte ihm alles und wollte ihn ermahnen, gut und folgsam zu sein. Aber als sie ihn so vor sich stehen sah, noch so klein, aber doch schon mit einem frühen Ernst in den offenen Zügen, sagte sie nur: »Du wirst dort manches anders finden ... Die Menschen sind nicht immer so, wie wir sie uns vorstellen und uns wünschen. Tue immer das, von dem dein Herz dir sagt, daß es das Rechte ist ...«
– Er war wie betäubt. Er ging umher, als suche er etwas, das er wiederfinden müsse. Die Menschen, die ins Haus kamen, floh er und sprach mit keinem. Er hatte nicht nur seine Mutter, er hatte seinen einzigen Freund verloren, den, mit dem allein er sprechen konnte, wie er wollte.
Dann, als er endlich begriff, was geschehen war, überkam ihn eine große Angst – die erste Angst seines Lebens. Was würden sie jetzt mit ihm tun? ...
»Ich will hierbleiben!« – rief er, als sie kamen, um ihn zu holen.
Er rief es immer wieder. Sie mußten ihn in den Wagen heben.
Zum ersten Male spürte er sie an seinem jungen Leibe – die Gewalt, die er hassen lernen und hassen sollte, sein Leben lang, wie nichts auf der Welt. Mit aufeinandergebissenen Zähnen und tränenlosen Augen ergab er sich, als er sah, daß er der Schwächere war.
Auf der Reise, während die anderen schliefen, die ihn geholt, saß er allein wach und aufrecht, und sah unablässig zum Fenster hinaus. Die Berge versanken, das Land wurde flacher und flacher, und schwer sein kleines Herz und schwerer.
War das die Welt? – Sie war nicht schön.
Auf dieser langen Fahrt, der ersten seines Lebens, nahm er Abschied von dem reinen und unbewußten Glück seiner Kindheit, ohne es zu ahnen, und mit ihr begann er den Kampf mir dem Leben.
Es sollte ein langer Kampf werden.
Fremd war ihm dieses große und laute Haus, das er betrat, und fremd die Menschen, die es bewohnten: seine Stiefgeschwister, die Kinder des Präsidenten aus erster Ehe, die, schon erwachsen, zum Teil im Begriff waren, es zu verlassen; fremd dessen Schwester, eine frühere Hofdame, die den Haushalt leitete; fremd der Mann selbst, den er Vater nennen sollte. Und fremd sollte es ihm bleiben, bis er ihm vier Jahre später, sechzehn und aus dem Kinde zum Knaben geworden, den Rücken kehren durfte.
Denn alles war hier anders. Alles ging hier seinen geregelten und vorbestimmten Gang. Prinzipien lebte man, nicht dem Leben zuliebe. Genau war vorgeschrieben, was man tun durfte und was nicht, und ein Maßstab wurde allein und an alles gelegt – der der »Anständigkeit«. Die gesellschaftliche Sitte gab den Ausschlag in allen Fragen, und gegen sie anzuhandeln wäre Verbrechen, ein Ding der Unmöglichkeit gewesen.
Man lebte von großen Einkünften gut und sicher, und der Junge hatte es in allem Äußerlichen besser, als bisher. Er bekam Sachen zu essen, die er nicht einmal dem Namen nach kannte, und trug Kleider, wie er sie kaum gesehen.
Aber ihm war nichts von dem allem lieb. Er hatte bisher nie darüber nachgedacht, was er aß, wenn er nur satt geworden war, und nie viel darauf geachtet, wie er gekleidet war. Bei der Mutter hatte er mit einem Loch im Ärmel heimkommen dürfen, und außer einem liebevollen Kopfschütteln hatte es nichts abgesetzt, während er jetzt seine Anzüge wie ein anvertrautes Gut behandeln und vor Fleck und Riß sorgfältig schonen mußte. Schmal waren die Bissen und niedrig die Stuben in dem Hause am See gewesen, aber satt war er immer geworden. Frohsinn und Heiterkeit hatten die Mahlzeiten gewürzt, und die engen Wände sich geweitet und bevölkert unter den phantasievollen Erzählungen der lieben Stimme. Hier mußte er steif und stumm am Ende einer langen Tafel sitzen, durfte nur sprechen, wenn er gefragt wurde, und die Speisen blieben ihm im Halse stecken unter dem strengen Blick des Vaters und vor der majestätischen Haltung der Hofdame.
Was er aber am schwersten empfand, war, daß es in dem ganzen, großen Hause keinen Raum gab, in dem er mit sich allein sein konnte. Immer war er bewacht und beaufsichtigt, bei der Arbeit für die Schule und im Schlafe, und nie hätte er gewagt, die lange Flucht der prächtigen Räume, in denen es sich doch herrlich hätte spielen lassen, unerlaubt zu betreten.
Er war und blieb ein Fremder unter Fremden.
Es wurde von vorneherein als feststehend angenommen, daß das Kind in den Händen »der Person, die ihrem Mann davongelaufen war, sittlich verwahrlost, und wenn das nicht, so doch gefährdet sein müsse« und auf alle Fälle einer strengen Zucht dringend bedurfte. Es mit Strenge, aber auch mit Gerechtigkeit zu einem ordentlichen Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu erziehen, war des Präsidenten ernstlicher Vorsatz. Er war erstaunt, es so ruhig, fast still zu finden. Aber als er dann den offenen und freimütigen Blick auf sich ruhen fühlte, der ihn so sehr an einen anderen, seltsam ähnlichen erinnerte, stieg die nie verwundene Bitterkeit tief verletzter Eitelkeit von neuem in ihm auf, und er nahm sich vor, die geheime Auflehnung und den versteckten Trotz, die er aus ihm herauszulesen vermeinte, zu brechen; das sollte seine Rache sein an der, die er haßte noch über das Grab hinaus.
– Er fand nur wenig Gelegenheit dazu.
Denn Ernst fügte sich scheinbar in alles. Er tat, was man ihm sagte, und nur im Anfang noch stellte er hin und wieder seine unbekümmerten Fragen. Als er dann sah, daß man sie als Unbescheidenheit und sein Zuhören als Neugierde auslegte, und ihm bedeutet wurde, daß Kinder nicht zu fragen, sondern zu gehorchen und sich nicht unaufgefordert in das Gespräch von Erwachsenen zu mischen hätten, verstummte er und wurde noch stiller.
Er fragte selten mehr.
Noch glaubte er, daß man ihm nicht antworten wolle. Der Gedanke, daß man ihm auf manche seiner Fragen, von denen einige bereits anfingen, unbequem zu werden, nicht antworten könne, kam ihm noch nicht. Wie hätten auch diese großen, erfahrenen und lebenssicheren Menschen nicht antworten können auf die Fragen eines Kindes!
Aber er wurde mißtrauisch, und bald gab er es ganz auf, zu fragen. Mehr und mehr zog er sich mit allem, was er auf dem Herzen hatte, zurück in sich.
Er hatte bis dahin gelebt, ohne sich Gedanken zu machen über die Menschen und die Dinge um sich her. Nun zwang ihn die große Veränderung der Verhältnisse zum Vergleich. Er verglich – und zugleich begann er zu denken, zu prüfen, zu wählen.
Er trauerte der sorglosen Fröhlichkeit seiner ersten Kinderjahre nach – ein kleiner Vogel, den man in einen Käfig gesetzt, an dessen Stäben er sich die Flügel zerschlägt.
Immer dachte er an seine Mutter.
Er hatte niemand, mit dem er von ihr sprechen konnte, und niemand sprach zu ihm von ihr.
Oft, wenn er allein war, saß er lange und sah hinaus. Dann stieg es in ihm auf, und er glaubte, wieder zurückzumüssen um jeden Preis.
Bitterer Kummer der einsamen Kinder – was wissen die Großen von ihm!
Einsame Tränen der jungen Augen – im Verborgenen geweint und nicht getrocknet von den Küssen der Liebe – wie glühende Tropfen fallen sie nach innen und hinterlassen in den zarten Herzen die Narben ihrer Wunden!
Als er größer wurde, weinte er nicht mehr. Aber ein früher Ernst nahm von ihm Besitz.
Er war mißtrauisch geworden und begann zu beobachten und nachzudenken.
So vieles verstand er nicht!
Diese Menschen hatten es doch so gut und alles, was sie sich wünschten, und doch klagten sie immer.
So klagten sie fortwährend über ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen gegenüber anderen Menschen. Aber warum gab man diese Gesellschaften und ging in sie, wenn man keine Lust dazu hatte? Als er das einmal aussprach, traf ihn ein vernichtender Blick: »Man muß vieles im Leben tun, weil man Pflichten gegen andere hat. Das wirst du auch noch lernen ...«
Man sprach unfreundlich, oft gehässig über andere Menschen, und wenn man sie sah, tat man, als seien es die besten Freunde.
Man sagte ihm, daß Lügen abscheulich und das unverzeihlichste aller Vergehen sei. Aber man log selbst: Wenn Besucher kamen, wurde den Dienstboten oft befohlen, zu sagen, man sei nicht zu Hause, wenn man es war. Weshalb tat man es? Man hätte doch einfach sagen können, man habe keine Zeit oder Lust, andere Menschen zu sehen.
Er verstand es nicht, aber sein wachgewecktes Mißtrauen empfand den Zwiespalt zwischen Wort und Handlung, und immer tiefer senkte sich dieser Zwiespalt in die junge Seele.
Er glaubte nicht mehr alles, was man ihm sagte; und er sagte selbst nicht mehr alles, was er glaubte.
Er war in die Schule...