Kapitel II
Die militärische Niederlage der Mittelmächte
Wann war die militärische Niederlage des Deutschen Reiches und seiner Verbündeten klar absehbar? Oder etwas anders gefragt: Wann war klar, daß das militärische Potential der «Mittelmächte» (Deutschland, Österreich-Ungarn, Türkei, Bulgarien) nicht ausreichen würde, um der gegnerischen Allianz wenn nicht den Sieg, so doch einen Verhandlungsfrieden abzuringen? Auf diese Frage sind mehrere und durchaus unterschiedliche Antworten möglich und gegeben worden.
Nimmt man zunächst die wirtschaftlichen und demographischen Potentiale beider Seiten in den Blick, dann ist unbestreitbar, daß sich die Ententemächte schon bei Kriegsbeginn eindeutig im Vorteil befanden (und im Lauf des Krieges verschoben sich dann die Gewichte noch weiter zuungunsten der Mittelmächte). Im letzten Friedensjahr verfügten die Mächte der Entente über 28 Prozent aller Industriekapazitäten weltweit, die Mittelmächte nur über 19 Prozent. Die Gesamtbevölkerung Rußlands, Frankreichs, Großbritanniens, Belgiens, Serbiens und Montenegros belief sich auf 258 Millionen, während Deutschland und Österreich-Ungarn 118 Millionen Einwohner zählten. Infolgedessen standen 1914 den 6,323 Millionen Soldaten des Deutschen Reichs und Österreich-Ungarns rund 9,292 Millionen der Ententemächte gegenüber. Angesichts dieser Kräfteverhältnisse hätte die Entente den Krieg rasch für sich entscheiden müssen – wenn Heeresstärken und wirtschaftliche Ressourcen allein ausschlaggebend wären für die militärischen Möglichkeiten. Da dies aber nicht der Fall ist, war – trotz des ungleichen Potentials beider Seiten – Sieg oder Niederlage in diesem Krieg nicht von vornherein unzweideutig vorgezeichnet.
Unter diesen Umständen wurde der Ausgang der Marneschlacht Anfang September 1914 zu einem folgenschweren Ereignis: Weil ein schneller, kriegsentscheidender Sieg der deutschen Armeen verhindert wurde und seit Oktober 1914 die Westfront im Stellungskrieg erstarrte, gewannen die Alliierten Zeit, um ihre überlegenen Ressourcen für einen mit langem Atem zu führenden Zermürbungskrieg zu organisieren. Ende November 1914 sah sich der deutsche Generalstabschef von Falkenhayn veranlaßt, dem Reichskanzler einzugestehen, er sehe keine Möglichkeit, die Feindmächte derart zu besiegen, daß das Reich die Friedensbedingungen diktieren könne.
Ein Überblick über Kriegsverlauf und Wendepunkte im Kriegsgeschehen kann an dieser Stelle nicht gegeben werden. Es sei lediglich hervorgehoben, daß das Jahr 1917 weitreichende Veränderungen der politischen und militärischen Kräftekonstellation brachte. Zum einen: Durch den Kriegseintritt der USA erfuhr das Potential der Alliierten eine massive Steigerung – damit schrumpften die ohnehin zweifelhaften Siegeschancen der Mittelmächte noch mehr. Aber zum anderen: Im Gefolge der Oktoberrevolution schied Rußland aus dem Krieg aus – das bedeutete Wegfall der zweiten Front und eröffnete die Möglichkeit, nun mit Aufgebot aller Kräfte im Westen die Entscheidung zu suchen, noch ehe amerikanische Truppen maßgeblich auf diesem Kriegsschauplatz agieren konnten. Die politische und militärische Situation um die Jahreswende 1917/18 war daher durch eine gewisse Ambivalenz gekennzeichnet: Bei der Führung der Mittelmächte, insbesondere Deutschlands, die Entschlossenheit, dem Siegfrieden im Osten jetzt die Kriegsentscheidung im Westen folgen zu lassen; auf Seiten der Alliierten die unbedingte Zuversicht, trotz des Verlusts des russischen Bundesgenossen vermöge amerikanischer Unterstützung und eigener Ressourcenmobilisierung früher oder später den kriegsentscheidenden Sieg davonzutragen. Soviel ist sicher: Seit dem Kriegseintritt der USA arbeitete die Zeit gegen Deutschland und seine Verbündeten.
Gleichwohl sah es zu Beginn des Jahres 1918 für die Alliierten nicht allzu günstig aus. Nicht nur Rußland war aus dem Krieg ausgeschieden (am 22. Dezember 1917 begannen in Brest-Litowsk die Verhandlungen über einen Separatfrieden Rußlands mit den Mittelmächten), besiegt war auch Rumänien (das im August 1916 den Mittelmächten den Krieg erklärt hatte), und Ende Oktober 1917 war österreichischen und deutschen Truppen bei Caporetto an der Isonzofront ein großer Sieg über die Italiener gelungen. Es war einer der spektakulärsten operativen Erfolge in diesem Krieg: Die gesamte italienische Front brach ein und konnte erst zwei Wochen später und 110 Kilometer weiter zurück entlang der Piave mühsam wieder stabilisiert werden.
Auf der Habenseite der Alliierten stand der – vor allem durch die Einführung des Geleitzugsystems – gewonnene U-Boot-Krieg, so daß der amerikanische Nachschub nahezu unbehindert über den Atlantik gebracht werden konnte; amerikanische Truppen trafen allerdings erst nach und nach in Frankreich ein und mußten zunächst ausgebildet werden. Frankreich hatte 1917 krisenhafte Monate durchlebt: Streiks, Meutereien, Instabilität der Regierung, pazifistische Strömungen in der öffentlichen Meinung. Beendet wurde diese Krisensituation im November 1917 mit der Ernennung des 76jährigen Georges Clemenceau zum Ministerpräsidenten, der sofort seine äußerste Entschlossenheit demonstrierte, den Krieg unerbittlich weiterzuführen: «Keine pazifistischen Kampagnen, keine deutschen Intrigen mehr. Weder Verrat noch Halb-Verrat: Krieg, nur noch Krieg.» Und die große Mehrheit der Franzosen folgte ihm in dieser Haltung.
Die militärischen Aussichten der Alliierten waren jedoch um die Jahreswende 1917/18 eher düster. Der amerikanische Militärvertreter im Obersten Kriegsrat der Alliierten schrieb im Februar nach Washington: «Ich bezweifle, daß ich jemandem, der nicht bei der letzten Konferenz anwesend war … klarmachen kann, wie stark das Denken der politischen und militärischen Persönlichkeiten hier von Angst und Furcht durchdrungen ist.» Denn man erwartete jetzt eine große deutsche Offensive, weil nach Waffenstillstand und Beginn der Friedensverhandlungen mit Rußland die deutsche Führung starke Truppenverbände von der Ostfront abziehen und nach Westen verlegen konnte.
Tatsächlich begann die Oberste Heeresleitung Hindenburg-Ludendorff schon Ende 1917 mit der operativen Planung einer großangelegten Frühjahrsoffensive. Sie wurde als unbedingte militärische Notwendigkeit verstanden: Franzosen und Engländer sollten eine vernichtende Niederlage erleiden, ehe die amerikanischen Truppen voll einsatzfähig waren. Bei dieser Entscheidung durften sich Hindenburg und Ludendorff schon im Vorfeld der Offensive von einer hoffnungs- und erwartungsvollen Stimmung in Heer und Heimat getragen wähnen. Die Vorstellung, durch eine letzte große Kraftanstrengung dem Krieg mit einem deutschen Sieg ein Ende bereiten zu können, hatte offenbar im Feldheer und in der Heimat die bis dahin vorherrschende Resignation momentan überwunden. Die kommende Offensive im Westen wurde allgemein – wie auch die Auswertung von Soldatenbriefen ergibt – als «Königsweg zum baldigen Kriegsende» angesehen. In diesen Wochen wurde ein Höhepunkt des deutschen Machtgefühls erreicht, der fast dem hohen Stand der Hoffnungen vom August 1914 entsprach (was allerdings nicht mehr für alle Bevölkerungsschichten zutraf).
Vor dem Hintergrund eines solchen – in rückschauender Betrachtung schwer zu begreifenden – Stimmungshochs voller Siegeserwartungen zu Beginn des Jahres 1918 ist zu prüfen, ob der Entschluß zu einer Offensive, die sich zum «größten militärischen Einzelunternehmen der bisherigen Geschichte» (Dieter Storz) entwickeln sollte, militärisch und politisch sinnvoll und verantwortbar gewesen ist und ob es zu diesem Zeitpunkt realistische Alternativen zur offensiven Kriegführung gegeben hat. Es wird immer wieder die Ansicht vertreten, man hätte Anfang 1918 aus der Position einer gewissen Stärke heraus Friedensdiplomatie betreiben müssen; der militärischen Offensive hätte eine auf einen Verständigungsfrieden abzielende politische Offensive vorausgehen sollen. Derartige Überlegungen sind innerhalb der militärischen Führung nicht angestellt worden, und man darf beim heutigen Kenntnisstand bezweifeln, ob eine politische Offensive mit dem Ziel eines Kompromißfriedens eine realistische Alternative zur geplanten Frühjahrsoffensive dargestellt hätte. Die Chancen, den Krieg durch einen Verständigungsfrieden beenden zu können, waren nämlich während der Kriegsjahre und erst recht im Jahr 1918 sehr viel geringer, als dessen Befürworter glaubten, wenn solche Chancen denn überhaupt existierten.
Diese Behauptung bedarf einer kurzen Begründung. In der Forschung dominierte seit der Fischer-Kontroverse der 1960er Jahre die Auffassung, die exorbitanten deutschen Kriegsziele seien das entscheidende Hindernis gewesen auf dem Weg zu einem «Verständigungsfrieden», was immer man unter dem etwas unscharfen Begriff verstehen mag (Status-quo-Frieden oder «Kompromißfrieden» dieser oder jener Art?). Es besteht kein Zweifel, daß die Kriegszielforderungen, vertreten von...