»Ich fühlte, daß sie mir nicht
gleichgültig war.«
Sie kannten sich seit ihrer Kindheit. Als der elfjährige Wilhelm, Sohn des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. und der Königin Luise, Elisa im Sommer 1808 zum ersten Mal sah, war sie fünf Jahre alt, ein hübsches Kind von gewinnender Zutraulichkeit, »gehüllt in ihren Mantel von goldenen Haaren«, wie Freundin Hedwig poetisch sagte. Sie stand im Hof des Königsberger Schlosses neben der Kutsche und winkte.
Bis in den äußersten Osten des Landes hatte der König fliehen müssen, um sich vor den nachrückenden französischen Truppen in Sicherheit zu bringen. Gemeinsam mit dem Königspaar und seinen Kindern war, wie der gesamte Hof, auch die Fürstenfamilie Radziwill von Berlin nach Königsberg geflohen. Fürstin Luise Radziwill war durch ihre nahe Verwandtschaft zum König – sie war eine geborene Prinzessin von Preußen – ebenso gefährdet wie alle Mitglieder der königlichen Familie. Verheiratet war sie mit Fürst Anton Radziwill, einem kultivierten polnischen Magnaten, Diplomat in preußischen Diensten, der als Musiker, Cellist und Komponist Szenen zu Goethes Faust vertonte und Beethoven wie Chopin mäzenatisch unterstützte.
Prinzessin Elisa, geboren in Berlin am 28. Oktober 1803 und getauft auf die Namen Elisabeth Friederike Louise Martha, war nach zwei Söhnen und zwei Töchtern, von denen die ältere als Säugling gestorben war, das fünfte Kind des Fürstenpaares. Zierlich und grazil, quicklebendig und von fröhlichem Wesen, sang und tanzte sie, wo sie ging und stand. Wenn sie erschien, wurde mit Attributen wie »anmutig und lieblich« nicht gespart. Die befreundete Gräfin Bernstorff, selber Mutter von drei Töchtern, schrieb, Prinzessin Elisa habe durch das Zusammenklingen von zärtlicher Sanftheit und feurigem Temperament einen Zauber ausgestrahlt, dem niemand widerstehen konnte.
Prinz Wilhelm jedenfalls, als zweiter Sohn des Königs und der Königin Luise am 22. März 1797 geboren, war von ihrer »unbeschreiblichen Freundlichkeit« schon früh angezogen. Als Zwanzigjähriger würde er ihren Eltern beteuern: »Elisa ist meinem Lebensglück unentbehrlich geworden.« Im späteren Rückblick, mittlerweile König von Preußen und Kaiser Wilhelm I., versuchte er zu erklären, wieso Elisa Radziwill ihn mit solcher Macht fesseln konnte: Durch ihre Schönheit und ihr beispielhaftes Gottvertrauen sei sie zum Leitstern seines Lebens geworden. »Ein edler Charakter und die unbeschreibliche Anmut im ganzen äußeren Erscheinen«, versicherte er, »die nur der Abglanz einer so schönen Seele und eines so herrlichen Gemüts sein können.« Doch nicht nur der »edle Charakter« war es, der ihn fesselte, sondern vor allem Elisas Liebreiz. Sie sei »zum Niederknien schön«, schrieb er wörtlich an seine Schwester. Er fand sie einzigartig, so daß neben ihr alle anderen Frauen, denen er begegnen würde, später auch seine Ehefrau Augusta, verblassen mußten.
Kinderjahre am Ende der Welt, geographisch das Ende des preußischen Territoriums, Ostpreußen. Napoleon hatte 1805 die Österreicher bei Ulm und die Russen bei Austerlitz besiegt, hatte das alte Römische Reich Deutscher Nation aufgelöst und 1806 die preußische Armee bei Jena und Auerstedt geschlagen. »Der König hat eine Bataille verloren. Jetzt ist Ruhe die erste Bürgerpflicht«, mit diesen Worten hatte der Gouverneur von Berlin, Graf Schulenburg, die Bewohner zur Besonnenheit aufgefordert. Während die Kinder des Königs, der vom Schlachtfeld nicht nach Berlin zurückgekehrt war, vorsorglich nach Schwedt in Sicherheit gebracht wurden, hatte die verzweifelte Königin Luise, in einer Fensternische des Schlosses verborgen, mit der Fürstin Radziwill die Flucht geplant. Napoleon würde in Berlin einmarschieren und mit seinen Truppen die Stadt besetzen. Sie mußten fort! Leibarzt Hufeland wurde gerufen, man packte in größter Eile und fand nach angstvoller Fahrt in Richtung Osten Zuflucht im alten Königsberger Schloß, dessen Giebel im Sturm einer wilden Nacht herabgestürzt und zum Entsetzen der Bewohner in den Schloßteich gekracht war.
In ihren Erinnerungen schildert Luise Radziwill ihr Erschrecken, als sie alle nach der Niederlage bei Preußisch-Eylau aus Angst vor den herannahenden feindlichen Truppen auch Königsberg wieder verlassen mußten. Sie beschreibt »die traurige Pilgerfahrt« über das zugefrorene, von gefährlichen Eisspalten durchzogene Haff nach Memel, wo das Königspaar in einem einfachen Kaufmannshaus Unterkunft fand.
Nie im Leben vergaß der damals elfjährige Wilhelm, wie seine Mutter »in großer Schwäche nach überstandenem Nervenfieber, in dem fürchterlichsten Sturm und Schneegestöber« drei Tage und Nächte über die Kurische Nehrung gebracht wurde. Das Unglück des Vaters, die Enttäuschung der Mutter über ihre vergebliche Unterredung mit Napoleon im Jahre 1807 und der heldenhafte Einsatz seiner Landsleute in den Befreiungskriegen prägten sich ihm ein und machten ihn für immer zu einem unbeirrbaren Patrioten.
Für den König, der um die Existenz seines Landes bangte, war das Exil die tiefste Demütigung – für die Kinder eine eher unbeschwerte Zeit. Man erlebte den Sommer an der Bernsteinküste, den Winter auf den Schlittenbahnen, es gab Spielplätze vor dem Steindammer Tor »auf den Huben« und im alten Schloß – für alle Kinder, für die des Königs wie für die der Radziwills, war es eine Zeit großer Ungebundenheit. Elisa konnte mit ihren Geschwistern Wilhelm, Ferdinand und Luise spielen, Prinz Wilhelm mit dem zwei Jahre älteren Kronprinzen und seiner Lieblingsschwester Charlotte. Bei gutem Wetter fuhr man zu den Dönhoffs aufs Land oder in den weiten Park der Lehndorffs, rannte lärmend durch Hippels Garten und versteckte sich in den Scheunen – es wurde nachsichtig geduldet. Die alte Oberhofmeisterin Voß verlor erst dann ihre gewohnte Toleranz, als sie die königlichen Kinder auch noch halsbrecherisch auf Stelzen laufen sah!
1?Königin Luise von Preußen,
Gemälde von Joseph Grassi, 1802
Die Kinder trafen hier Leute, denen sie sonst wohl kaum begegnet wären, den witzigen Herrn von Humboldt, den brummigen Freiherrn vom Stein und den schiefen Herrn von Staegemann, sogar den Dichter Achim von Arnim, der bei der Zeitung arbeitete und einen Bart trug. In jedem Leben sind es die Kindheitserinnerungen, die am längsten haften und am meisten bedeuten. Fern von zu Hause entstanden dauerhafte Freundschaften. Prinz Wilhelm fand im ältesten Sohn der Radziwills, der ebenfalls Wilhelm hieß und im selben Jahr und Monat geboren war wie er, einen Freund fürs Leben. Als er sich später im Königsberger Dom krönen ließ, war es dieser Fürst Radziwill, inzwischen preußischer General, der ihm die Krone zum Altar vorantrug. Eine ähnlich enge Freundschaft verband seit damals seine Schwester Charlotte, die spätere Zarin von Rußland, mit Prinzessin Elisa Radziwill.
Auch wenn sich der Erzieher Friedrich Delbrück und die gestrenge Gräfin Voß Mühe gaben, die Disziplin einigermaßen zu erhalten und den Unterricht geregelt durchzuführen, war die Freiheit groß. Elisas Freundin Hedwig, Tochter des Staatsministers von Staegemann, sah auf den Treppenstufen des Königsberger Schlosses den eleganten Fürsten Radziwill, von groß und klein umringt, wie er sein Cello zwischen den Knien hielt, und alle hörten zu, wie er »mit seinem Gesang, Violoncellspiel und seinen Kompositionen die Menschen in einen Zauberbann versetzte«. Sie berichtet in ihrem Tagebuch, wie der vornehme Fürst bei Geburtstagsfeiern die kleine Gesellschaft zu amüsieren versuchte. »Fürst Radziwill sprang auf einem Fuß herum und teilte Plumpsäcke aus«, notierte sie amüsiert, »er hatte die kleine Elisa mitgebracht, die ein wahrer Engel ist.«
Die damals neunjährige Hedwig bemerkte aber auch, daß ihnen als Kindern der Gegensatz zwischen der bedrückten Stimmung der Erwachsenen, die den Untergang Preußens vor Augen hatten, und ihrer eigenen Sorglosigkeit nicht verborgen blieb; auch für sie herrschte nicht immer eitel Sonnenschein. Das wurde besonders deutlich, als sich im Haus der Radziwills 1809 eine Katastrophe ereignete. Elisas drei Jahre ältere Schwester Luise wurde mit heißem Wasser verbrüht, »als plötzlich der auf dem Teetisch stehende Samowar umgestoßen wurde und das kochende Wasser sich über die arme Lulu ergoß, die besinnungslos zu Boden stürzte«, wie ihre Mutter schreibt. Nach schrecklichem Leiden starb das neunjährige Mädchen an den schweren Verbrennungen.
Derjenige, der das Unglück aus nächster Nähe miterlebte, war Prinz Wilhelm. Über ihn äußerte seine Mutter: »Unser Sohn Wilhelm wird, wenn mich nicht alles trügt, wie sein Vater, einfach, bieder und verständig. Auch in seinem Äußeren hat er die meiste Ähnlichkeit mit ihm, nur wird er, glaube ich, nicht so schön.«1 Der Zwölfjährige hatte blaue Augen und dickes blondes Haar wie sie, besaß ein weiches Herz, war anhänglich und verständig. Was Pflichterfüllung, Gewissenhaftigkeit und militärische Disziplin betraf, war er tatsächlich dem Vater ähnlich.
Während der Kronprinz Anlaß zu Klagen gab, weil er rechthaberisch, vorlaut und streitsüchtig war, avancierte Wilhelm, der schon als Siebenjähriger Uniform und Säbel erhielt, zum Lieblingssohn des Königs. Es stellte sich heraus, daß er alles Militärische weit mehr schätzte als sein Bruder, der zwar intelligent, aber mehr an Kunst und Architektur als am Soldatentum interessiert war, während der hoch aufgeschossene Wilhelm »große Freude an allen militärischen...