II. Die Familie von Günderrode
Ein frühes Blatt, noch unveröffentlicht, hat sich erhalten, darauf in kindlich exakter Schrift ein kleines Gedicht, offenbar gedacht als ein Stammbuchblatt.
Edle Freundschaft nur verbindet
Seelen zu der schönsten Pflicht.
Und die Kränze, die sie windet
Modern selbst im Grabe nicht.
Einst beim Klang der Engellieder,
Unter Himmels-Amaranth,
Finden wir uns alle wieder
In der Tugend Vaterland.
Hanau den 13ten April 1797
Erinnere Dich an Deine Freundin Caroline v G.5
Freundschaft und Tod – es sind die Themen, die das Werk der Karoline von Günderrode von nun an durchziehen. Die Verfasserin war siebzehn Jahre alt. Sie lebte in Hanau inmitten einer großen Familie mit der Mutter, den vier Schwestern und einem jüngeren Bruder. Die Briefe der jungen Mädchen klingen sorglos und witzig. Sie handeln von der Ballsaison, von neuen Kleidern und Maskenkostümen, künstlichen Blumen, halben Perücken und braunen Toupets, Musselin zu hochgegürteten leichten Gewändern, von Unterröcken, Teetischchen, von Büchern, unerschwinglichen goldenen Ohrringen, unleidlichen Freundinnen wie der Apothekerstochter Sophie Blum, diversen Vettern und anderen Besuchern zum Abendbrot, über die man spötteln und albern kann.
Karoline von Günderrode wurde am 11. Februar 1780 in Karlsruhe geboren. Ihr Vater Hektor Wilhelm von Günderrode hatte mit vierundzwanzig Jahren eine Frau geheiratet, die den gleichen Namen trug, aber aus einem anderen Zweig der Familie stammte: Louise Sophie Victorine Auguste von Günderrode, zum Zeitpunkt der Eheschließung zwanzig Jahre alt. Sie war zart und feinsinnig gebildet, dichtete auch selbst, dafür besaß sie keine Kenntnisse in der Hauswirtschaft und war in Geldangelegenheiten so unerfahren, daß es darüber zwischen ihr und den Töchtern, wie sich noch zeigen wird, zu schweren Auseinandersetzungen kam.
Abb. 1?oben: Johann Maximilian von Günderrode, Karolines Großvater.
Stich von J. M. Bernigeroth nach einer Zeichnung von J. R. Reuling, 1742.
unten: Hektor Wilhelm von Günderrode, Karolines Vater.
Stich von J. C. Schleich nach einem Gemälde von Kisling.
Der Name des Geschlechts derer von Günderrode deutet auf die Herkunft aus Thüringen hin, möglicherweise aus dem Dorf Günterode im Eichsfeld. Tilemann Günterrode, Stammvater der hessischen Linie, erhielt schon 1549 Burg und Hofgut Schotten als Lehen, seither zählte die Familie, die drei Jahrhunderte hindurch Ratsherren und Bürgermeister, Diplomaten, Offiziere und Gelehrte hervorbrachte, zum hessischen Adel. Die urkundlich belegte Schreibweise des Namens ist Günderrode.6
Das junge Paar zog nach der Hochzeit in die Residenzstadt Karlsruhe, wo Louise von Günderrode Jahr für Jahr ein Kind zur Welt brachte:
1780 Karoline Friederike Louise Maximiliane
1781 Louise Henriette Wilhelmine
1782 Wilhelmine Louise Auguste Justine
1783 Charlotte Friederike Christiane Wilhelmine
1784 Amalie Karoline Louise Henriette
1786 Friedrich Karl Hektor Wilhelm von Günderrode
Als der einzige Sohn zur Welt kam, lebte der Vater schon nicht mehr. Er war einer fiebrigen Erkrankung erlegen, erst dreißig Jahre alt. Hektor von Günderrode, Sohn des Juristen Johann Maximilian von Günderrode, hatte früh Karriere gemacht und die Stelle eines Regierungsassessors, schließlich Regierungsrats beim Markgrafen von Baden bekleidet. Außerdem war er als Verfasser historischer Biographien und »Idyllen« hervorgetreten, die zu Hause vorgelesen wurden. Das Porträt des eleganten Kammerherrn blieb bis heute im Privatbesitz seiner Nachkommen erhalten. Karoline muß mit Verehrung am Vater gehangen haben. Entsetzlich der Tag, an dem die hölzerne Lade mit seiner Leiche aus dem Haus gebracht wurde, ein Vorgang, der auf das sechsjährige Kind traumatisch gewirkt haben muß: es hatte den Tod gesehen.
Das hochbegabte Mädchen hatte sich gewiß zu diesem klugen, überlegenen Vater besonders hingezogen gefühlt. Sein früher Tod bedeutete einen radikalen Einschnitt in Karolines Leben, eine Trennung, die sie nie verwand. Es blieb die Sehnsucht, ihn wiederzusehen – vielleicht auch eine Ursache ihres immer wieder aufsteigenden Todeswunsches. Von der Mutter, die Jahr für Jahr schwanger war und sich um das jeweils jüngste Kind kümmern mußte, konnte sie die nötige Zuwendung nicht erwarten. Für die fünf heranwachsenden Töchter war wechselndes Hauspersonal zuständig.
Nach des Vaters Tod fehlte das bisherige Einkommen; von Sorgen war die Rede, das Kind wird die soziale Veränderung gespürt haben. Die Witwe erhielt als Pension 300 Gulden im Monat, was immerhin dem Jahresgehalt eines Kammerherrn entsprach, doch mit sechs Kindern nicht gerade glänzend war. Sie verließ Karlsruhe und zog in die Residenzstadt Hanau, wo sie bei der Prinzessin Auguste von Hessen-Kassel, einer Schwester des Königs von Preußen, eine Stelle als Gesellschafterin zu erlangen hoffte, zumal sie sich nicht nur als Vorleserin, sondern auch selbst literarisch betätigte, Gedichte und Erzählungen schrieb. Es hieß, die poetische Begabung beider Eltern habe sich auf ihre Tochter Karoline vererbt, ein hochbegabtes und liebenswürdiges, schönes Mädchen von weichem, träumerischem Wesen, aber tiefinnerlichem, reizbarem Gefühlsleben …7
Karoline: die Älteste, die Ernste, die Zuverlässige. Die Mutter, die als Gesellschaftsdame viel Zeit bei Hofe verbringen mußte, war häufig abwesend. Bei ihr fand Karoline auch nie die Geborgenheit und den Zuspruch, den sie nötig gehabt hätte. Daß das Verhältnis nicht von Zuneigung getragen, sondern im Gegenteil von früh an gestört war, geht aus einem unveröffentlichten Brief hervor, worin die Mutter ihre Tochter »in recht kühlen und distanzierten Wendungen zu Wohlverhalten« auffordert, auch daraus, daß sie sie unverhältnismäßig jung in ein Stift gab.8 Karolines Beziehung zu ihrer Mutter verschlechterte sich im Lauf der Jahre erheblich, so daß der Kontakt – wie sich zeigen wird – schließlich völlig abbrach.
Die Kinderkrankheiten – dazu zählten damals Masern, Typhus und der Scharlach, an dem Clemens Brentano zwei kleine Kinder verlor – hat Karoline wohl recht und schlecht überlebt. Kindersterben war an der Tagesordnung. Fünf Schwestern der Mutter waren als Säuglinge gestorben. In einem Brief der Schwester Wilhelmine ist von drei Nachbarskindern die Rede, die alle am gleichen Tag an der noch unerprobten Pockenimpfung starben. Daß auch Karoline schwere Krankheiten durchmachte, bezeugen ihre lebenslangen Beschwerden, die vielen Kopfschmerzen, der Druck auf der Brust, die schwachen Augen, die durchsichtige Blässe und Zartheit.
Die Residenzstadt Hanau als neuer Wohnort der Familie lag auch deshalb günstig, weil im nahen Butzbach die Eltern der Mutter lebten: der Jurist Christian Maximilian von Günderrode (1730-1813) und seine energische Ehefrau Louise Dorothea Agathe, geborene von Drachstedt (1736-1799). Bei ihnen war die älteste Enkelin häufig zu Gast, und es stammen die ersten erhaltenen Briefe von den Butzbacher Großeltern, Briefe, die in einer spätbarocken, geradezu abenteuerlichen Schreibweise die Enkelin ermahnen und ihr frisch gestrickte, leider zu große Strümpfe ankündigen. Ein Schreiben stammt aus dem Jahr 1794, als die dreizehnjährige Louise qualvoll gestorben war. Man hatte die vierzehnjährige Karoline, wohl um sie abzulenken, nach Butzbach geschickt, das erklärt ihre Zuneigung zu den Großeltern, besonders zum Großvater, bei dem sie später wochenlang ausharrte, um ihm die Einsamkeit zu erleichtern. Insgesamt blieben elf Briefe der Großeltern an Karoline erhalten.9
Großmutter Louise sandte gutgemeinte Ratschläge an ihre Lina und mahnte an, was Großmütter in berechtigter Sorge um das sittliche Wohl ihrer Enkelinnen schon immer anmahnten. Daß nächtliche laufen bringt Keine Ehre, weil sich alsdann hier und da Etwas anfedelt, wo durch ich nichts gewönne. Nein, vielmehr meine Ehre, Wo doch ein Megden, und Jeder Vernünftige alles aufsetzen mus ins Spiel setzen. Ach Gott regiere dich mit dem heiligen Geist, werde und Sey eine recht Schaftene Christin, so würst du dich auch bestreben eine Tugendhafte Person Zusein, und daß gehet über alles. Hast du noch Liebe vor mich, so verwürf meine Ermahnung nicht und denke daran, wenn ich schon lang Erkald bin, Gott seegne dich.10
Es war den Großeltern also zu Ohren gekommen, daß die Enkelin nachts zu lange aufblieb, abends noch auf der Straße gesehen wurde und womöglich im Begriff stand, sich mit einem nicht standesgemäßen Freund zu versehen – es sollte sich nämlich nichts anfedeln, und sie sollte um Gottes willen »das nächtliche Laufen« unterlassen, sich nicht herumtreiben, sondern ihr Betragen so einrichten, daß du uns alle Ehre machst. Der großmütterliche Brief stammt vom 1. August 1797 und enthält die Ermahnungen, durch die man bei Töchtern lebenslange Schuldgefühle bewirken konnte: der Familie »um Gottes willen« keine Schande zu machen. Frühe Restriktionen, frühe Drohungen, sich sittsam zu verhalten und die erwachende Weiblichkeit zu unterdrücken. Darum sei es sehr zu begrüßen,...