Kurs 210 Grad
Von Kapstadt aus ins Eis
Den Roaring Forties geht die Puste aus +++ Polarfront überquert +++ Erster Eisberg mit Pinguinkolonie backbord +++ Eisige Luft aus Südost +++ Die Bordwetterwarte kündigt Temperaturen unter –25 °C an +++ Zwei Buckelwale ziehen an uns vorüber
Der südafrikanische Agent empfiehlt das »Panama Jack«. Eigentlich nur eine Bretterbude im Hafen, aber das Essen sei dort exzellent. Jonni Jonas, Peter Grewe und all die anderen POLARSTERN-Kapitäne seien dort gewesen, bevor sie zu ihrer Fahrt in den Süden aufbrachen oder nach wochenlanger Eisfahrt wieder in Kapstadt festmachten. Als Zeichen der Freundschaft und engen Verbundenheit der deutschen POLARSTERN-Fahrer mit der Kapmetropole hänge auch eine Flagge des Eisbrechers an der Wand des Lokals.
Für ein Essen unter der POLARSTERN-Flagge fehlt uns die Zeit. Wir werden sie in den nächsten neun Wochen ohnehin oft heftig genug im Wind wehen sehen, denn das Südpolarmeer gilt als das stürmischste aller Weltmeere. Schon der Weg ins Eis führt durch die berüchtigtsten Sturmgebiete unseres Planeten. Die Roaring Forties, Furious Fifties und Screaming Sixties erwarten uns. Weitgehend ungehindert von Landmassen fegen hier Winde aus westlicher Richtung um den Planeten, laufen unerbittlich zu Sturmstärke auf, toben häufig als Orkan über den Ozean – hoher Seegang garantiert. Auf der 1992er Winterexpedition, deren Route wir nach 21 Jahren erstmals wieder im antarktischen Winter fahren wollen, hielt ein Orkantief Schiffsbesatzung und Wissenschaftler mehrere Tage lang in Atem. Bei Windstärke 11 bis 12 und Wellenhöhen von über 20 Metern musste POLARSTERN beidrehen, um wieder in eine stabile Lage zu kommen. Also den Bug in den Wind und langsame Fahrt voraus, etwa 100 Seemeilen kam das Schiff damals vom eigentlichen Kurs ab.
Wir hoffen für unsere Fahrt auf günstigere Winde. Noch zwei Tage bis Expeditionsstart. POLARSTERN liegt im Hafen und wird für den antarktischen Winter gerüstet. 70 Tonnen Proviant und Ausrüstung, 12 Tonnen Stückgut und 8,5 Tonnen Gefahrengut müssen geladen werden. Im Notfall könnten wir mehrere Monate im Eis überwintern. Kapitän Uwe Pahl ist jedoch zuversichtlich, dass dieser Notfall auch auf unserer Fahrt nicht eintreten wird. Er weiß allerdings sehr wohl, dass Winterexpeditionen in der Antarktis immer eine besondere Herausforderung sind. Die doppelte Querung des Weddellmeeres von Nord nach Süd zum antarktischen Kontinent und von dort nach Nordwest zur Spitze der Antarktischen Halbinsel ist im Winter bisher nur zweimal erfolgreich gelungen: 1992 ebenfalls in der Polarnacht im Juni und Juli sowie 1989 im September und Oktober. Beide Expeditionen wurden von POLARSTERN unternommen. Kein anderes Schiff hat bis heute solch eine Expedition durchgeführt.
Erstes Treffen an Bord: Kapitän und Fahrtleiter gehen die Vorbereitungen für die Expedition durch. Alle Reparatur- und Ladungsarbeiten liegen gut im Zeitplan. »Auslaufen werden wir aber nicht vor 18 Uhr. Wenn wir mit dem Bunkern noch nicht fertig sein sollten, erst gegen 20 Uhr«, sagt Pahl und macht damit unsere Hoffnung, beim Auslaufen den Tafelberg noch in seiner ganzen Pracht zu sehen, zunichte. So nutzen wir die verbleibende Zeit an Land, um den Tafelberg bei Tageslicht zu erkunden.
Polarstern liegt im Hafen und wird für den antarktischen Winter gerüstet.
Für den Fußweg vom Tal auf das Felsplateau, das sich majestätisch über Kapstadt erhebt, bräuchten wir einige Stunden. Wir entscheiden uns für die Seilbahn, die uns in wenigen Minuten auf das Wahrzeichen der Stadt bringt. Oben angekommen bietet sich eine atemberaubende Aussicht. Das Panorama erstreckt sich von der Table Bay bis hin zur False Bay. Mehrere Hundert Meter tief fallen die Steilwände nach Norden und Osten ab. Im Westen stürzen die Klippen fast senkrecht ins Meer. Der 1.086 Meter hohe Tafelberg ist etwa 430 Millionen Jahre alt und gehört zu den ältesten Bergketten der Welt. Er besteht hauptsächlich aus Sandstein, der auf einem Granit-Schiefer-Unterbau liegt. Erosionen durch Wind und Wasser haben dem Berg seine heutige Form gegeben. Durch Spalten und Risse ist Wasser in das Innere eingedrungen und hat dabei die größten Sandsteinhöhlen der Welt geschaffen.
Kapitän Uwe Pahl und Fahrtleiter Peter Lemke besprechen den Zeitplan.
Von einem der Aussichtspunkte beobachten wir das Treiben im Hafen. Wie ein Spielzeugschiffchen liegt POLARSTERN an der Kaimauer. Doch natürlich wissen wir, wie viel Kraft dieses einzigartige Schiff hat. Der doppelwandige Eisbrecher ist eines der leistungsfähigsten Polarforschungsschiffe der Welt.
Bevor wir endgültig an Bord gehen, noch ein kurzer Abstecher zum »Kap der Guten Hoffnung«. 45 Kilometer südlich von Kapstadt erstreckt sich die bizarre und unendlich weit erscheinende Felsenlandschaft. Wir steigen auf das steile Kliff. Im Jahr 1488 entdeckte der portugiesische Seefahrer Bartolomeu Diaz als erster Europäer das Kap und nannte es »Cabo Tormentoso« – »Kap der Stürme«, denn mit seinen beiden Karavellen war er hier in einen heftigen Sturm geraten.
Die tosende Brandung lässt an diesem sonnigen Nachmittag nur erahnen, welche Kraft das Meer hier entfachen kann. Seeleute fürchteten das oft im Nebel verhüllte und sturmanfällige Kap. Die Felsen ragen weit ins Meer hinein und sind bei Flut fast vollständig verborgen. Viele Schiffe zerschellten an den heimtückischen Klippen. 3.000 Wracks sollen hier auf dem Meeresgrund liegen. Doch wer in früheren Zeiten das Kap erfolgreich umrundet hatte, war guter Hoffnung, weil er glaubte, das Schlimmste auf dem Seeweg nach Indien bewältigt zu haben. Die eigentliche Südspitze Afrikas, das Kap Agulhas, wartet jedoch mit ähnlichen Gefahren auf die Seeleute. Südlich von hier am Schelfabhang fließt der Agulhasstrom aus dem Indischen Ozean einige 100 Kilometer nach Westen in den Atlantik, bevor er eine abrupte Kehrtwendung vollzieht. Der Agulhasstrom ist von Wirbelströmungen begleitet, die an der Küste eine ostwärts gerichtete Komponente aufweisen, auf der sich früher Schiffe gerne nach Indien tragen ließen. Sie kamen dabei aber den Klippen an der Küste sehr nahe. Dieses komplexe Muster der Meeresströmungen am Treffpunkt zweier Ozeane erzeugt oft einen enorm hohen Wellengang, sodass die Gewässer mit den Felsen und Riffen rund um das Kap noch heute als gefährlich gelten.
Am »Kap der Guten Hoffnung« lassen wir vor Expeditionsstart unsere Gedanken Richtung Süden treiben.
Während wir über die Gefahren der alten Seeleute reden und uns vorstellen, wie es gewesen sein muss, in einem der hölzernen Boote den Naturgewalten hier ausgesetzt zu sein, steigen wir zum Felsstrand hinunter. Ein Hinweisschild weist die Koordinaten des Kaps auf: »18° 28’ 26’’ East, 34° 21’ 25’’ South« steht in gelber Schrift auf den braunen Holzlatten. Wir blicken auf die Wellen und lassen unsere Gedanken nach Süden treiben, in die eisigen Gefilde, die in den nächsten zwei Monaten unser Zuhause sein werden. Am »Kap der Guten Hoffnung« mit uns und dem Meer allein, in einem intensiven Gespräch ohne Worte. Ein erstes Ankommen nach Jahren der Planung.
Vor sieben Jahren, auf der letzten Winterexpedition im September und Oktober 2006, wurde die Idee zu unserer nun anstehenden Fahrt geboren. Damals waren wir im nordwestlichen Weddellmeer an der Antarktischen Halbinsel unterwegs und wollten das Erwachen des Ökosystems am Ende des Winters untersuchen. Wir kamen ein wenig zu spät, denn zu unserer Überraschung war das Leben im Meereis bereits voll erwacht, trotz der tiefen, mittwinterlichen Temperaturen. Mit der Kälte kommen die Lebewesen im gefrorenen Ozean gut zurecht, im Laufe der Evolution haben sie einen effektiven Gefrierschutz entwickelt. Was sie aber, wie fast alle Organismen zum Leben brauchen, ist Licht, und das während unserer Fahrt 2006 schon vorhandene Tageslicht, genügte offensichtlich, um die Fotosynthese anzuregen. Deswegen entschieden wir, bei der nächsten Winterexpedition auf jeden Fall früher, also noch in der Polarnacht, soweit wie möglich nach Süden in das Meereis zu fahren, um dann nach Norden hin mit der aufgehenden Sonne das Leben im Eis aufzuspüren.
Im großen Nasslabor stapelt sich unsere Ausrüstung. Solange das Schiff ruhig im Hafen liegt, werden die Labore eingeräumt.
Nach einigen internen Besprechungen wurde im Herbst 2009 ein Fahrtantrag für 50 Wissenschaftler gestellt. Anfang 2010 bekam er eine positive Bewertung, und es hieß für die Logistikabteilung des Alfred-Wegener-Instituts, unsere Winterexpedition in die POLARSTERN-Langzeitplanung einzubauen. Für den Zeitraum vom 8. Juni bis 12. August 2013 war die Fahrt schließlich terminiert. Die detaillierten Vorbereitungen gingen etwa ein Jahr vor Expeditionsbeginn in die heiße Phase: Welche Arbeitsgruppen brauchen wir an Bord? Welche Wissenschaftler von welchen Instituten sollen teilnehmen? Müssen Messgeräte neu beschafft werden? Welche Genehmigungen müssen in den jeweiligen Hoheitsgewässern der verschiedenen Staaten beantragt werden, und welche Forschungsarbeiten bedürfen hinsichtlich des Antarktisvertrages einer zusätzlichen Genehmigung durch das Umweltbundesamt?
Die Vorbereitungen einer jeden Expedition sind umfangreich und nur im Zusammenspiel von Wissenschaft, Logistik und der Reederei zu bewältigen. Die Reederei F. Laeisz, die sich aus der reichen Historie der »Flying-P-Line« seit 190 Jahren dynamisch entwickelt, ist seit 18 Jahren auch in der Forschungsschifffahrt tätig. Gerade durch ihre Arbeit in der Arktis und Antarktis, die enge Zusammenarbeit mit der...