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Der Geist bei der Arbeit

Historische Untersuchungen zur Hirnforschung

AutorMichael Hagner
VerlagWallstein Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl286 Seiten
ISBN9783835306677
FormatPDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
'Geist und Bewußtsein sind nicht vom Himmel gefallen, sondern haben sich in der Evolution der Nervensysteme allmählich herausgebildet' - dies manifestierten Hirnforscher im Jahr 2004. Auch diese Erkenntnis ist nicht vom Himmel gefallen, sondern das Ergebnis einer 200-jährigen Geschichte. Dabei waren die Theorien der Hirnforscher, mit denen sie versuchten, Sprache, Denken, Einbildungskraft, Moral und Gefühle im Gehirn zu lokalisieren, zu keinem Zeitpunkt unabhängig von den kulturellen, sozialen und politischen Umständen, unter denen sie ihre Forschungen betrieben. Die Cerebralisierung des Menschen ist ein unvollendetes und möglicherweise unvollendbares Projekt der Moderne. Neben faszinierenden Einsichten birgt es stets auch die Gefahr in sich, 'Gehirn' mit Symbolen, Deutungen und Werten zu überfrachten und dadurch überzogene Erwartungen zu wecken, die nicht zu erfüllen sind oder zu heiklen biopolitischen Forderungen führen. Anthropologische Ansprüche an die Hirnforschung bewegen sich eher an der Grenze zwischen Science und Fiction. Vor dem Hintergrund dieser Debatten plädiert Michael Hagner für einen gelassenen und (selbst-)kritischen Umgang mit ihren Ergebnissen.

Michael Hagner, geb. 1960, ist Professor für Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich. Veröffentlichungen: Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn (1997), Ansichten der Wissenschaftsgeschichte (Hg., 2001), Einstein on the Beach. Der Physiker als Phänomen (Hg., 2005).

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Leseprobe
Einleitung (S. 7)

Dem Geist bei der Arbeit zusehen – das ist eine Formulierung, die ein großes Versprechen enthält. Man hat sie in den letzten Jahren häufiger gehört, wenn von den neuen visuellen Untersuchungsmethoden der kognitiven Neurowissenschaften die Rede war. Mit Hilfe des Neuroimaging, so heißt es immer wieder, werden Stoffwechselprozesse und neuronale Aktivitätsmuster in Echtzeit abgebildet, die einen unmittelbaren Einblick geben in die Welt des Denkens und der Gefühle.

Man könnte daraus den Schluß ziehen, daß diese neuen Verfahren das Fenster zu den geistigen Prozessen geöffnet haben und daß sich Neurowissenschaftler überhaupt erst seit wenigen Jahren trauen, Phänomene wie Bewußtsein, Emotionen, Gedanken oder Vorstellungen zu ihrem Untersuchungsgegenstand zu machen. Eine solche Sichtweise, die durch manche euphorische Rhetorik über eine Revolution in den Neurowissenschaften und durch Online-Datenbanken genährt wird, die höchstens 10 Jahre alte Literatur enthalten, ist irreführend.

Hirnforscher haben sich schon lange vorher für den Geist bei der Arbeit interessiert. Sie verfügten nicht über die gleichen Technologien wie ihre Nachfolger heute, doch ihre theoretischen Annahmen, Hypothesen und Absichten waren kaum weniger ambitioniert. Auch sie betrachteten den Geist als ein biologisches Phänomen, das den quantitativen Verfahren der Naturwissenschaften zugänglich ist.

Wie lassen sich aus diesen Ähnlichkeiten, die noch keine unmittelbare Nachbarschaft bedeuten, Verbindungspfade finden zwischen der vergangenen und der heutigen Forschung?

Gewiß versteht man die Entstehung, Durchsetzung, Veränderung, Zirkulation und Verabschiedung einer Idee, eines Modellobjekts oder eines Verfahrens nur in einem jeweiligen historischen Kontext. Weder die computergestützte Technologie des Neuroimaging noch die molekularbiologische Untersuchung synaptischer Prozesse sind aus historischen Ereignissen herzuleiten, die länger als 30 bis 40 Jahre zurückliegen.

Auch die allgemeine gegenwärtige Faszination von der Hirnforschung ist nicht unmittelbar aus der Vergangenheit ableitbar, sondern kann nur aus Bedürfnissen und Interessen der Gegenwart heraus erklärt werden. Trotz dieses Umstands sollte das, was diese gegenwärtigen Forschungen inklusive ihres öffentlichen Zuspruchs ausmacht, nicht auf ihre technologischen Bedingungen und auch nicht auf wirkliche oder vermeintliche neue Entdeckungen und Erkenntnisse reduziert werden.

Auch heute noch sind Postulate, Theorien und Werte forschungsrelevant und öffentlichkeitswirksam, die weiter zurückreichen und bereits mehrere historische Konjunkturen hatten, dann zurückgedrängt wurden und nach einer gewissen Latenzzeit in etwas veränderter Gestalt wieder hervorgeholt wurden.

Daten, die mit den allerneuesten technologischen Verfahren erhoben werden, finden sich zum Teil in einem Interpretationshorizont wieder, der wesentlich älter ist. Wie sind solche Überlagerungen von verschiedenen Zeitschichten in einer Wissenschaft erklärbar? Am ehesten dadurch, daß man von längerfristigen Phänomenen ausgeht, die über ihre jeweilige historische Implementierung hinaus stabil bleiben, wobei Stabilität nicht bedeutet, daß sie zu jeder Zeit die gleiche erkenntnisleitende Funktion hätten.

Insofern unterscheiden sie sich von Naturgesetzen, Regeln oder Gleichungen, denen eine stärkere Robustheit bzw. Unveränderlichkeit zugesprochen wird. Mir geht es hier um bestimmte Annahmen, Sichtweisen, Deutungsangebote und Zukunftsvisionen, die nicht für die gesamte Hirnforschung verbindlich sind. Doch in den kognitiven Neurowissenschaften begründen und unterhalten sie Traditionen, und sie bewirken, daß Forschungsprojekte, selbst wenn sie in einem ganz anderen Zusammenhang entstanden sind, sich dieser Traditionen bewußt oder unbewußt bedienen.
Inhaltsverzeichnis
Inhalt5
Einleitung7
Brave Neuro Worlds17
Jahrhundert des Gehirns?17
Voraussagen: Mogelpackungen und Trojanische Pferde22
Die Uneinheitlichkeit des Wissens, oder: Das Gehirn als Fetisch26
Konstruktionen der Hirnforschung: Das Richtige im Falschen und das Falsche im Wahren?29
Revolutionen in den Neurowissenschaften34
Von stotternden Aufklärern und stockenden Sprachmaschinen38
Sprachen im Gehirn38
Berliner Sprachdebatte I (vor 1800)41
Gehirn und Sprache in Paris (1808/1861)49
Berliner Sprachdebatte II (vor 1900)53
Wandel und Beharrlichkeit in der Geschichte der Migräne59
Migräne als physisches und kulturelles Phänomen59
Eine sehr kurze Geschichte der Migräne von der Antike bis zum 19. Jahrhundert62
Wissenschaftlermigräne, oder: Die Experimentalisierung des eigenen Lebens69
Gelehrtenmigräne: Mythos, Metapher und Katharsis77
Gendermigräne80
Historische Diagnosen, subjektive Zickzackmuster und das Gehirn84
Kriegsgesichter, Kriegsgehirne. Zur Deformation des Kopfes im Ersten Weltkrieg94
Kriegsversehrte: Eine Ortsbestimmung94
Gesichtsschüsse100
Gehirnschüsse115
Vsevolod Pudovkins Mechanik des Gehirns – Film als psychophysiologisches Experiment124
Eine filmische Experimentalanordnung124
Aufmerksamkeit als Gegenstand der Psychophysiologie des Films128
Natur, Labor, Klinik, Filmstudio133
Reflexologie und Film138
Anthropologische Objekte. Die Wissenschaft vom Menschen im Museum143
Schädel in der Unterwelt143
Anthropologische Schädel145
Knocheninszenierung152
Bolschewistengehirne157
Was tun mit anthropologischen Objekten?160
Der Geist bei der Arbeit. Die visuelle Repräsentation cerebraler Prozesse164
Hirnbilder164
Morphologische und funktionale Visualisierungen des Gehirns170
Homunculus cerebri180
Neuroimaging als nach innen gewendete Physiognomik187
Bilder der Kybernetik: Diagramm und Anthropologie, Schaltung und Nervensystem195
Das Bild einer Wissenschaft der Modelle195
Kybernetik und Anthropologie201
Schaltung und Nervensystem205
Kybernetische Antiphysiognomik209
Anthropologie und Kybernetik216
Ikonophilie der Hirnbilder219
Gedankenlesen, Gehirnspiegel, Neuroimaging. Einblick ins Gehirn oder in den Geist?223
Das Unheimliche223
Hervorgezerrte Gedanken226
Das Regime der Optik228
Gedanken und Gehirnströme238
Gedankenlesen heute241
Epilog, oder: Willensfreie Menschen im Labor, Fallibilismus und die neue Biologie des Geistes246
Nachbemerkung und Drucknachweise261
Literaturverzeichnis263
Abbildungsnachweise280
Personenregister281

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