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Der grosse Stucki

Eine schweizerische Karriere von weltmännischem Format Minister Walter Stucki (1888-1963)

AutorKonrad Stamm
VerlagNZZ Libro
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl420 Seiten
ISBN9783038239789
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis33,10 EUR
Der Historiker und Journalist Konrad Stamm legt die erste Biografie von Minister Walter Stucki vor, der seinen Zeitgenossen auch als der 'achte Bundesrat' oder als der 'grosse Stucki' bekannt war. Dabei war es weniger seine beeindruckende Körpergrösse von 1,87 Metern, die ihm diese Bezeichnung eintrug, sondern die Art, wie er als Schweizer Unterhändler den Vertretern der Grossmächte entgegentrat: stets auf Augenhöhe mit ausländischen Präsidenten, Generälen und Ministern. Sein Erfolg machte ihn trotz selbstsicherer Auftritte populär. Er war Generalsekretär, Direktor, Minister, Gesandter, De legierter und Nationalrat, und er ging im Bundesratszimmer ein und aus, als wäre es sein eigenes Büro. Die Kandidatur für den Bundesrat wurde ihm auf silbernem Tablett angeboten - mindestens dreimal lehnte er ab. Im Krieg rettete er die Stadt Vichy vor der Zerstörung. Von der Regierung wurde er immer dann an die Verhandlungsfront geschickt, wenn die Lage für die Schweiz brenzlig war. Diese erste Biografie über den grossen Schweizer basiert auf erstmals ausgewerteten Quellen und ist reich illustriert mit teilweise bisher unbekannten Abbildungen.

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Leseprobe

1  Der Beste für einen unmöglichen Job

In Washington allein gegen die drei Westmächte

Über Neufundland tobte ein Schneesturm. Mühsam kämpfte sich die DC-4 der Trans World Airlines (TWA) Richtung Westen. Von heftigen Böen wurde sie wie ein Spielball hin und her, auf und ab geworfen. Weisse Vorhänge aus waagrecht vorbeirasenden Schneeflocken beschränkten die Sicht der Piloten auf wenige Meter. Im Gegenwind, der von Kanada her stürmte, wurden die vier Pratt & Whitney-Kolbenmotoren zu unersättlichen Treibstofffressern. Nach dem Start in Paris war die Maschine in Shannon im Südwesten Irlands nochmals gelandet und vollgetankt worden; ein Nordatlantik-Passagierflug war 1946 nur mit zwei Zwischenhalten zu machen. Die Piloten hätten, nachdem das längste Teilstück auf dem Flug nach New York jetzt zurückgelegt war, dringend Gander an der neufundländischen Ostküste anfliegen sollen. Doch an eine Landung war dort bei Sichtweite null nicht zu denken. Die nächste und letzte Möglichkeit zu einer Zwischenlandung bot der Militärflugplatz von Stephenville an der St. George‘s Bay im Südwesten Neufundlands. Von Passagierflugzeugen wurde er bloss im Notfall, das heisst sehr selten, angeflogen. Zivilpiloten waren nicht gewohnt, in Stephenville zu landen. Die Nerven der Cockpit-Besatzung waren deshalb aufs Äusserste angespannt. Der Funker sprach hektisch ins Mikrofon seines Geräts, das ihm jedoch nur mit Rauschen und Tosen antwortete. Es gab indessen keine Alternative mehr: auf der einzigen Piste von Stephenville musste die Maschine, koste es, was es wolle, zu Boden gebracht, gewartet und aufgetankt werden.

Die 50 Passagiere, auf ihren Sitzen eng angeschnallt, waren vom Kabinenpersonal frühzeitig darüber informiert worden, dass einige Turbulenzen bevorstünden; doch selbst hartgesottene Vielflieger unter ihnen hatten zuvor kaum je einen solchen Sturm auf 6000 Metern Höhe erlebt. Stucki, obwohl er nicht regelmässig im Flugzeug unterwegs war, verzog indessen keine Miene. In einem Bericht, den er einige Tage später an seinen Chef in Bern, Bundesrat Petitpierre, sandte, erwähnte er vor allem den Zeitverlust, den ihm der Sturm eingebracht habe: «Wir gingen dann an der Westküste dieser canadischen Insel auf einem Militärflugplatz nieder und mussten dort volle zwölf Stunden warten, da die Flugmannschaft nach einem amerikanischen Gesetz zwölf Stunden zu schlafen hatte, bevor sie weiterfliegen durfte.»[1] Noch etwas dürfte Stuckis Stimmung auf diesem abenteuerlichen Flug gedämpft haben: Er hatte Schmerzen. Er litt – und zwar an einer chronischen Kieferhöhlenentzündung. In seiner Tasche steckte ein medizinisches Zeugnis, ausgestellt von Professor Luzius Rüedi, Spezialarzt für Ohren-, Nasen- und Halskrankheiten am Lindenhofspital Bern, das ihm seine Arbeitsunfähigkeit bestätigte. Doch der Arzt war realistisch genug gewesen, um seinen Patienten richtig einzuschätzen: Der würde sich ganz sicher nicht zu Hause die Decke über die Ohren ziehen, wenn ihn der Bundesrat mit einer Spezialmission in die USA entsandte. Im Wissen um Stuckis Auftrag von nationaler Bedeutung und in Kenntnis von Stuckis Arbeitsdisziplin, die eine gesundheitsbedingte Vernachlässigung der Berufspflichten nicht zugelassen hätte, hatte sich der Professor am Schluss seines Gutachtens zur dringenden Empfehlung durchgerungen, «Herr Minister Stucki sollte sich deshalb in Washington ebenfalls sofort in spezialärztliche Betreuung begeben.»[2]

Während die meisten Leute eine allfällige Erkrankung als ihre Privatsache betrachten, war Stuckis Kieferhöhlenentzündung in der Schweiz schon seit Wochen Gegenstand öffentlichen Interesses. Am 12. Februar hatte die Neue Zürcher Zeitung – sonst nicht das Blatt, das mit Berichten aus dem Privatbereich Prominenter auftrumpft – gemeldet, Stucki habe sich in Spitalpflege begeben müssen. Später berichteten die Zeitungen, der wohl mit Abstand bestbekannte Chefbeamte der Bundesverwaltung habe einen Erholungsurlaub im Berner Oberland angetreten. Stuckis Kieferhöhlen rückten in den Mittelpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit, denn die Zeit drohte nun knapp zu werden: Am 4. März sollten die für die Zukunft der Schweiz entscheidenden Verhandlungen in Washington beginnen, und es war nie diskutiert worden, sondern jedermann von Anfang an klar gewesen, dass nur der «grosse Stucki» auf fremdem Territorium und in nicht nur ungewohnter, sondern auch ausgesprochen unfreundlicher Umgebung den Standpunkt der Schweiz mit Aussicht auf Erfolg vertreten konnte. Er war der Einzige, dem man zutraute, in den bevorstehenden Vertragsverhandlungen, zu denen die schweizerischen Unterhändler mit denkbar schlechten Karten antreten mussten, die nötige Standfestigkeit an den Tag zu legen und in den beinharten Auseinandersetzungen den westlichen Siegermächten des Zweiten Weltkriegs, USA, England und Frankreich, die Stirn zu bieten. Wenn Regierung und Bevölkerung der Schweiz deshalb im Februar 1946 in einer Frage mit Bestimmtheit gleicher Meinung waren, dann war es bei der Ernennung Stuckis zum Delegationschef für Washington. Aber Stucki kam immer noch krank und fiebrig aus dem vermeintlichen Erholungsurlaub zurück und gelangte mit der Bitte an den Bundesrat, ihn von seinem schwierigen Auftrag zu entbinden. Doch das war für die Regierung unvorstellbar. Man hatte keinen anderen als Minister Walter Stucki, den Mann für alle schwierigen und unmöglichen Fälle, und es war klar, dass sich kein anderer als Stucki in der verfügbaren Zeit auf die Aufgabe hätte vorbereiten und sich mit derselben auf Erfahrung und unterhändlerischer Begabung beruhenden Kompetenz an den Washingtoner Konferenztisch hätte setzen können. Der einzige Ausweg für die Schweizer Regierung bestand darin, den Verhandlungsbeginn zu verschieben. Dazu brauchte man allerdings die Zustimmung der Regierungen in Washington, London und Paris, von denen man in Bern nicht unbedingt freundliches Entgegenkommen erwarten durfte. Wohl nicht zuletzt Stuckis Name, der auf dem internationalen Parkett höchstes Ansehen genoss, dürfte entscheidend dafür gewesen sein, dass sich die grossen und mächtigen Widersacher der Schweiz mit einer Verschiebung der Gespräche um zwei Wochen einverstanden erklärten. Ob der Bundesrat einen Plan B aus der Schublade hätte ziehen können, der eine Schweizer Delegation ohne Stucki vorgesehen hätte, wurde nie bekannt, ist aus den Akten nicht ersichtlich und somit unwahrscheinlich. Tatsache bleibt, dass Minister Stucki den Flug nach Washington krank und von Schmerzen geplagt angetreten hat.

Gewöhnlich ging Stucki optimistisch in Bezug auf die Durchschlagskraft der eigenen Argumente und voll überzeugt von den guten Chancen, dem eigenen Standpunkt zum Erfolg verhelfen zu können, in Vertragsverhandlungen; und aus dieser positiven inneren Haltung heraus entsprangen auch seine Überzeugungskraft sowie die Ausdauer, mit der er sein Ziel verfolgte, und darauf gründete schliesslich sein sprichwörtlicher Erfolg. Doch diesmal hielt sich sein Enthusiasmus in engen Grenzen. In Washington muss sich der erfolgsverwöhnte Schweizer Unterhändler ähnlich wie ein vorverurteilter Angeklagter in einem Schauprozess vorgekommen sein, denn die Stimmung im Gastgeberland war der Schweiz gegenüber ausgesprochen schlecht. Die amerikanischen Behörden hatten die Presse in Washington unter der Hand mit einem ebenso reich bestückten wie einseitigen Argumentationskatalog ausgestattet, der die USA und ihre Verbündeten im Zweiten Weltkrieg als edle Retter der Zivilisation, die kleine Schweiz hingegen als eigennützigen Bösewicht und ihre Neutralität als verräterische Doktrin zur Unterstützung der Feinde der Demokratie darstellte. Damit war im Vorfeld der Verhandlungen in den USA eine eigentliche Hetzkampagne gegen die Schweiz entfacht worden. Das kleine Land im fernen Europa war in der öffentlichen Meinung bereits schuldig gesprochen, als Stucki am 18. März mit seinem Eintretensreferat die Verhandlungen eröffnete. Seine damalige Gemütslage schilderte er später wie folgt: «Als ich, sozusagen direkt aus dem Spital heraus, sehr gegen meinen Willen und den meiner Ärzte, gezwungen wurde, die Leitung der Delegation zu übernehmen, habe ich dem Herrn Bundespräsident gegenüber erklärt: Ich gäbe mich keinen Illusionen hin, in jedem Falle werde ich nachher an einem Baum aufgeknüpft, an einen Apfelbaum oder an einen Birnbaum. Ich ziehe indes den Apfelbaum – ein unbefriedigendes Abkommen – dem Birnbaum – gar kein Abkommen – vor.»[3]

Vielleicht war es die unverheilte Entzündung der Kieferhöhlen, die Stucki so ungewöhnlich reagieren liess, vielleicht der Druck, den der Bundesrat ausgeübt hatte, um ihn ohne seine Zustimmung zu den schwierigsten von der Schweiz je geführten Verhandlungen in die USA zu schicken. Möglicherweise pflegte Stucki im Vorfeld der Washingtoner Runde aber auch nur einen öffentlich zur Schau gestellten Zweckpessimismus zur Schonung der eigenen Person vor der zu erwartenden Kritik am Verhandlungsresultat, und wahrscheinlich wäre er beleidigt und in seinen Erwartungen enttäuscht gewesen, wenn an seiner Stelle ein anderer dieses, wie er sich ausdrückte, «Himmelfahrtskommando» übernommen hätte. Vor allem mag es ihm indessen darum gegangen sein, die hochgeschraubten Erwartungen zu dämpfen. Denn einerseits war man von ihm gewohnt, dass er von Verhandlungen mit fremden Staaten stets gute Ergebnisse mit nach Hause brachte, und andererseits war ihm sehr wohl bewusst, dass die Schweiz, oder besser gesagt: er als Chefdelegierter der Schweiz, für die bevorstehende Verhandlungsrunde mit einem schlechten Startplatz...

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