FACHTEIL
DER HÄNDLER
Von Hofner@yahoo.net
Betreff: Ein paar Tipps für die kommenden Handelstage mit unserem Bambino …
Erhalten: Heute, 23:11 Uhr
Hallo Philip,
nachdem wir uns vorhin verabschiedet hatten, beschäftigte mich, unabhängig von unserem späteren Telefonat, mal wieder lange die Frage deiner emotionalen Achterbahnfahrten und warum diese vom Trading so unheimlich begünstigt wurden – und manchmal auch heute noch werden. Andererseits: Man kommt immer gerade dann einen gedanklichen Schritt vorwärts, wenn die Börse wieder einmal eine teure Lektion vom Konto abzieht. – Stimmt’s?
Von daher möchte ich dir, inspiriert von den heutigen Ereignissen, noch ein, zwei Anmerkungen für die kommenden Wochen mit unserem Bambino Stan auf den Weg geben.
Bei allem, was du sagst und tust, vergiss nie: Auch du warst zu Beginn wie Stan ein leidenschaftlicher Händler. Okay, man darf dabei unter Leidenschaft im Börsenhandel nicht das verstehen, was man sonst allgemein üblich »Leidenschaft« nennt. Es hat nichts mit Sex oder Liebe zu tun. Aber es muss bei dir, wie bei jedem anderen Trader, zu Beginn etwas gegeben haben, das dich immer wieder in jene Disziplinlosigkeit hineintrieb. Und vielleicht war das eine Leidenschaft – eine Art Sucht, ein heißes Verlangen nach dem Abenteuer Börse. Bemerkenswert war, dass im Zustand der Erregung eines laufenden Trades und des erregten Chartverlaufes selbst dein Verhalten zwar leidenschaftlich, aber zugleich auch teilnahmslos war. Denn während jeder Trade leidenschaftlich begann, endete er allzu oft teilnahmslos. Ich erinnere mich gut, wie du in den ersten Monaten so ziemlich jede Marktbewegung, die der Handelstag hergab, mit Trades bombardiert hast. Nach zehn Stunden Trading warst du dann zwar völlig ausgelaugt, hast dich aber trotzdem immer noch in weitere neue Trades hineingestürzt.
Mit ein wenig Übertreibung müsstest du darum von deinen ersten Trading-Monaten eigentlich sagen, dass sich alles darin so vollzogen hat, als ob die ganzen Trades mehr zueinander als zu dir gehörten. Auf Trade eins ist immer direkt Trade zwei gefolgt. Und zwar unabhängig davon, ob das nun aus Freude über den Gewinn aus Trade eins oder aus Frust über den Verlust daraus geschah. Oder anders: Du brachtest lieber die Leidenschaft für einen weiteren Trade auf als den Mut zur Langeweile und das geduldige Warten auf das Lieblingssetup.13
Und so wird unser Bambino Stan wohl aktuell auch glauben, dass sein an den Tag gelegtes Fehlverhalten und sein Aktionismus, der ihn dabei unterstützt, mehr zum Trading an sich als zu ihm selbst gehören. Aber jedes einzelne Fehlverhalten von ihm hat, wenn er sich genau überprüfen würde, mit ihm viel mehr zu tun, als er zu glauben bereit ist – genau wie bei jedem anderen Trading-Anfänger, der dieselben Symptome zeigt. Und ohne Zweifel wird er durch dieses Fehlverhalten als Trading-Anfänger bestimmt und besteht aus diesem – auch wenn ihm dies nicht bewusst ist, und so kommt er sich manchmal nach dem Trading genau so fremd vor wie während des Tradens.
Du weißt, wie es in der Regel ist: Die Verwandten und Freunde eines Trading-Anfängers – so also auch bei Stan – warten nur darauf, dass er einknickt, und das ist auch die erste Trainingseinheit, die einen auf das spätere Trading vorbereiten sollte. Für Stan gibt es momentan nur einen, der Recht hat, und das ist er selbst. Damit ist er eigentlich immer auf Irrwegen, das aber mit Höchstgeschwindigkeit. Nachgegeben wird nicht und zugegeben schon gar nicht. Also sitzt Stan, so wie du damals auch, jeden Trading-Tag da und würde so gerne zeigen, wie gut er die Börse vorhersagen kann, aber der Chart lässt es einfach nicht zu. Deshalb motzt er den ganzen Tag rum, und der Chart setzt ihn jedes Mal wieder neu vor die Tür. 1:0 für den Chart; nächster Trade zu früh rein, 2:0; nächster Trade zu früh raus, 3:0; nächster Trade kein Stopp, 4:0; nächster Trade kleiner Gewinn, 4:1; nächster Trade Monster-Loss, 5:1; nächster Trade super Signal, aber mangels Mut dieses nicht gehandelt, 6:1 für den Chart.
Während du also mittlerweile nahezu in Ruhe und Frieden jedes vorgesetzte Regelwerk der Welt nahtlos traden würdest, steht sich Stan vor dem Chart die Beine in den Bauch, und die Haare stehen ihm zu Berge. Seine Sprüche werden dieselben sein wie deine damals. Soweit ich mich erinnere, hier die Highlights: »Wie? Ich soll warten, bis ein eindeutiges Signal kommt? Was ist das für ein total bescheuertes Trading? Warum sollte ich so viele Punkte verschenken, wenn in jeder einzelnen Periode Hunderte von Euros ›herumliegen‹? Warum? Nur weil die Disziplin das verlangt? Niemals!« … Und was hast du gemacht? Du hast auch bereits in der nächsten Periode bewusst das Desinteresse an Disziplin heraushängen lassen. Wolltest uns zeigen, was da so geht. – Bums, Minustrades ...
So wie du damals wird auch Stan heute »keine Gefangenen machen« und schon gar keinen Kompromiss, besser man bleibt weiter auf Protestkurs. Stan wird weiter vor lauter Stolz seine Minustrades kassieren, später vor Wut fast heulen und von der Familie oder von Freunden später den Kommentar reingewürgt bekommen: »Siehst du, das mit der Börse hast du nicht drauf. Vergiss das Trading und mach was Anständiges.« So was tut natürlich weh. Vor allem, wenn man sich in seiner Freizeit mit nichts anderem mehr beschäftigt als mit Börsenhandel. Stan werden solche negativen Tage vorkommen wie ein herausgerissenes Kalenderblatt, zwar belebt von allerhand tollen Einfällen und heroischen Gedanken zum Chartverlauf, aber beim Anblick des für ihn noch unkontrollierbaren Eigenlebens des Charts auch geprägt von Hilflosigkeit und einem Gefühl der Lähmung.
So, nun gab’s damals für dich, wie es sie auch heute für Stan gibt, eine ganz einfache Entscheidung: Entweder man lernt oder – Rumsbums – macht man das Konto dem Erdboden gleich – und auch alle Konten danach. Okay, Stan gehört sicherlich auf längere Sicht nicht zu jenen Tradern, die klein beigeben und das tun, was die Börse zu erwarten scheint: nämlich zu Kreuze zu kriechen.
Wenn du mit Stan die kommenden Wochen zusammenarbeitest, solltest du ihn also zu geschicktem Verhandeln und einer Portion Diplomatie mit sich selbst drängen, damit er irgendwann im Einklang mit dem Chart leben und seine Plustrades kassieren kann.
Aber was ist Diplomatie? Was ist Reaktion auf sich selbst? Du wirst sehen, Stans Selbstbewusstsein ist in den ersten beiden Monaten im Büro Bangkok arg beschädigt worden. Stan hat sich verzettelt und ist unruhig, hat aber tief versteckt im Inneren das Bedürfnis nach jener Wiederinstandsetzung, die man möglicherweise Gewissenserforschung nennt. Dennoch, wenn Stan hier und jetzt erklären müsste, wie er als Trader eigentlich sein möchte, er würde in Verlegenheit geraten. Denn er hat, wie viele Trading-Anfänger, wahrscheinlich weder sich noch sein Verhältnis zur Börse richtig geprüft. Oder zumindest nicht oft oder tiefgreifend genug und eigentlich genau da drängt sich die Frage auf: Kann nur ein starker Mensch ein guter Trader sein? Sicher ist eines: Stan konnte in seinem bisherigen Leben, also bevor er mit dem Trading begonnen hat, seinem Können stets vertrauen. Er wusste, wie er in bestimmten Situationen reagieren oder agieren musste. Also wird er nicht daran zweifeln, dass der Unterschied zwischen seinen bisherigen Erlebnissen als Trading-Anfänger und den erforderlichen Eigenschaften eines Profi-Traders (und seine momentane Entferntheit davon) nur ein Haltungsunterschied ist. Daher, lieber Philip, ist es deine Pflicht und Aufgabe, Stan in diesem Zusammenhang zur Entwicklung und Anwendung eines gewissermaßen aktiven Willensbeschlusses zu bringen.
Und genau hierzu möchte ich dir ein paar kurze Tipps geben: Das momentane Problem von Stan ist, in der Unendlichkeit der Chart-Interpretationsmöglichkeiten einen Anhaltspunkt zu finden. Stan möchte momentan noch seine Fantasie beflügeln, seine freie Kreativität im Chart-Orakeln ausleben und gleichzeitig traden. Aber, Fakt ist eines: Das zusammen ist nun mal nicht machbar. Diese Eigenschaft müssen wir ihm abgewöhnen, sonst bleibt für ihn jeder verdammte Trading-Tag im Ergebnis ein intellektuelles Verwirrspiel mit Dimensionen und Perspektiven, das ihm die Gewohnheiten und Grenzen seiner Sinne und Gedanken vor Augen führt.
Daher ist es nun wichtig, dass du, wie es vor Ort John und Nick bereits tun, Stan nicht in seinen Ausflüchten bestätigst, sondern ihm immer wieder sanft den Hauptunterschied zwischen ihm und – in dem Fall – dir als gestandenem Trader vor Augen führst. Wie auch du damals, so träumt Stan heute davon, später einmal ein toller, unabhängiger Magier der Märkte zu werden. Damit ist zu jedem Zeitpunkt die Frage legitim: »Was unterscheidet das, was ich bin, von dem, was ich werden will?« So, und bei seinen Antworten musst du nun genau hinhören und geschickt und sanft einlenken. John und Nick stehen dir ja ohnehin zur Seite. Aber dennoch hier ein paar der klassischsten Antworten – die du ja auch ganz gut kennen müsstest:
»… ihr Profi-Händler habt ja den ganzen Tag Zeit und könnt außerdem mehrere Märkte gleichzeitig beobachten …«
Stan will damit sagen, dass die meisten privaten Trader nicht Vollzeit dem Handel nachgehen, also nur nebenbei ein paar Stunden traden und daher nur sehen, was die Märkte an Bewegung noch übrig lassen.
Dir brauche ich ja nicht zu erklären, dass dieser Punkt nicht das Entscheidende ist. Denn: Kein Trader ist mangels Zeit direkt im...