FACHTEIL DER HÄNDLER
Brief TEIL I
E-MAIL: hofner@yahoo.de
Heute, 09.15 Uhr MEZ
Betreff: Ausführliche Herleitung des diversifikativen Tradings
Hallo Philip,
da ich genügend Zeit neben dem Handel habe, anbei einige Zeilen zu unserem letzten Telefonat.
Stan, emsig damit beschäftigt, sich die Hörner abzulaufen, hat die letzten Tage einmal mehr gezeigt, wie weit er von der Vollendung dieses Geschäftes noch entfernt ist. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, denn: Seine Begierden sind noch zügellos, ohne Skrupel gibt er sich zu vielen unüberlegten Befriedigungen hin, und die neugierige Lasterhaftigkeit seines Tradings verbindet sich aufs Unangenehmste mit jenem »großen« Idealismus, endlich ein Trader zu sein.
John, der gewusst hat, dass die fehlenden Bindeglieder, die so oft angesprochene Beständigkeit und Duplizierbarkeit, bei Stan ohnehin zum Thema werden würden, hat Stans desaströse Tage dankend als geeigneten Anlass benutzt, um hierfür den radikalsten, dafür aber auch lehrreichsten Weg einzuschlagen. Dieser geht aber nur über die Erfahrung, und da beißt sich die Katze in den Schwanz; und da in den Schwanz gebissen zu werden, für gewöhnlich wehtut, musste es wohl so sein, dass auch für Stan die letzten Tage schmerzhaft waren: John ließ unseren Bambino drei Tage unbeaufsichtigt traden – 72 Stunden, in denen Stan mit einem Minus konfrontiert wurde, das seinen bisherigen Horizont bei Weitem überstieg. John ließ Stan, wenn auch von diesem unbemerkt, kontrolliert machen, was er wollte, und Stan erlebte in kürzester Zeit seine ganz persönliche Sinn- und Wertekrise, die mit den Worten: »Ich mach nie wieder einen Trade …« ihren Höhepunkt fand.
Aber damit nicht genug: Wider alles, was Stan erwartet hatte, wurden diese drei Tage nicht mit erhobenem Zeigefinger gerügt und verteufelt, sondern mit einem weiteren Handelstag unter Johns Aufsicht »belohnt«. Wie mir John am Telefon erzählt hat, lautete sein Plan, Stan unwissentlich den Marktverlauf seines ersten Desastertages einzuspielen und ihn jetzt aber mit geringerer Kontraktgröße traden zu lassen – Respekt!
Dann sollte Stan ohne Erklärung, mithin ohne Auflösung dieses »wiederholten« Handelstages, die beiden Fragestellungen »Hinweise für einen Trading-Anfänger« sowie sein »Wunsch-Trading-Setup« auf getrennten Zetteln beantworten, um anschließend und weiterhin ohne klärende Worte zum ganzen Geschehen – schließlich soll er Fehler und Lösungen selbst erkunden – in eine Art »Trading-Kur«, eine auf der Vernunft beruhenden, mit dem Entwirren vermengter gedanklicher »Assoziationen« befassten Auszeit geschickt zu werden – Klasse! Nun kann und wird sich zeigen, ob es Stan nicht genau da der Kräfte ermangelt, wo er sie am nötigsten braucht, sprich: ob er das Bedürfnis verspürt und die Klugheit besitzt, gleichsam damit ein Fenster aufzustoßen, indem er mit geraden und brutalen Gedanken das als ungerecht und beunruhigend Empfundene seiner erlebten Sinn- und Wertekrise ins Reich der Nichtigkeit verweist und damit beginnt, das Kostüm des Trading-Blödmanns abzulegen, um anschließend mit aufrechtem Gang zu den Charts zurückzukehren. Ich bin gespannt …
… Sinn des Schreibens
Jetzt, da Stan bereits wieder in Deutschland ist, hat sich dir die Frage aufgedrängt: Was könnte Stan, kannst aber auch du, aus diesen letzten Tagen ableiten? Sicher ist, lieber Philip, sollte Stan zurückkommen, wird deine Aufgabe sein, ihn ganz vorsichtig neben der weiteren Entwicklung seines persönlichen Handelsstils zur Entwicklung und Anwendung eines Arbeitsstils anzuregen. Und genau hierzu möchte ich dir ein paar kurze und praktische Tipps an die Hand geben.
Untersuchen wir dazu zunächst Stans Ausgangslage nach einem wichtigen Anhaltspunkt, genau genommen einer elementaren Fragestellung, um uns hieraus in kleinen konzentrischen Kreisen und dich als Beispiel nehmend zu einer Übersicht der drei »Phasen« eines Traderlebens vorzuarbeiten und aus den sich hierbei ergebenden Frage- und Feststellungen schlussendlich zum Gipfelthema vorzudringen: dem Arbeitsstil, dessen Höhepunkt sich unter anderem im diversifikativen Trading widerspiegelt.
Eine ganze Menge Inhalt und Arbeit liegt vor uns – ich sehe zu, dass ich dich nicht langweile …
… die Ausgangslage: Es waren einmal ein Merk- und ein Wunschzettel
Als Ausgangspunkt meiner gedanklichen Reise dient mir jene letzte Bitte Johns, Stan solle vor seinem Abflug zwei Zettel ausfüllen: Es galt zum einen, für einen Stan nahestehenden Verwandten, der den Wunsch verspürt, hier und jetzt mit dem Trading sein mühsam erspartes Geld zu vermehren, die wichtigsten Tipps niederzuschreiben; auf den anderen Zettel sollte Stan kurz und knapp seine Lieblingschartkonstellation notieren. Diese beiden Aufgabenstellungen werden Stan nicht allzu schwer gefallen sein, verfügt er doch neben den vielen Tagen, Wochen und Monaten vor den Charts bereits über ein gerüttelt Maß an Fachwissen. Der Inhalt der beiden Zettel ist uns zwar unbekannt, da Stan diese mit sich nehmen sollte, aber du erinnerst dich bestimmt noch, lieber Philip: Auch du musstest einst diese Merkzettel ausfüllen …
Damals hast du das erst als »Spielerei« bezeichnet, später dann, als der wahre Grund bekannt war, hochtrabend eine »psychologische Operation« genannt – welch interessanter Vergleich! Kurz, ich habe nach unserem Telefonat deine Zettel von einst herausgesucht, in der Gewissheit, dass deren Inhalte sich von denen Stans nicht allzu sehr unterscheiden werden:
Symbolisch an deine damalige Freundin gerichtet, stand auf dem ersten Zettel essenziell deine gesamte bis dahin mit dem Trading gemachte Erfahrung:
Oh Gott, du willst mit dem Trading beginnen? Wenn du dich schon nicht davon abbringen lässt,
dann bitte, bitte, vertrau mir und halte dich an folgende Punkte:
Sammle erst Fachwissen, bevor du loslegst … Bitte! Bitte!
Halte dich um alles in der Welt an deine Stopps!
Weniger ist mehr!!!
Morgen ist auch noch ein Tag …
Denk an andere Marktteilnehmer – du bist nicht allein!
Geduld, Geduld, Geduld …
Lass mich diesen Zettel in den weiteren Zeilen als Merkzettel umschreiben. Auf deinem zweiten Zettel, nachfolgend von mir als Wunschzettel bezeichnet, stand essenziell dein bis dahin angesammeltes Fachwissen zusammengefasst:
Ach, wenn ich mir den Chartverlauf vor jedem Trade wirklich wünschen könnte, dann so …
Der Chart müsste innerhalb eines bestehenden, aber korrigierenden Trends einen beginnenden untergeordneten Trend aufweisen. Eine Positionierung würde den straffen Zug, diese »Rutsche« vom kleinen Punkt 2 in Richtung des neuen, übergeordneten Punktes 2 und ein Stück darüber hinaus ausnutzen … Ich würde sogar mehrere Anläufe locker in Kauf nehmen!
… eine elementare Frage drängt sich auf!
Wie wird es Stan in seinen letzten Nächten ergangen sein? Ähnlich wie dir damals, nehme ich an: Das Wissen um deinen Merk- und Wunschzettel und damit die Idealvorstellung deines Tradings vor Augen lagst du, nach eigenen Erzählungen, nach so manchem Trading-Tag abends mit bleischwerer Müdigkeit, die Decke weit über den Kopf gezogen, im Bett und fragtest dich: Ist dies tatsächlich dieses ach sooo tolle Leben als Trader? Irgendwas schien an dieser Welt nicht in Ordnung zu sein, denn was die von dir anerkannten »Experten« so erzählten, schrieben und herumfaselten, reimte sich mit deiner momentanen inneren Gemütsfassung gleich überhaupt nicht, denn: Dachtest du an die beiden ausgefüllten Zettel und hieltest diese gedanklich nebeneinander, war nicht klar, was es wohl war, was dich jedes Mal, während du vor dem Chart saßest, von deinem Willen, dich so und so zu verhalten, abbrachte. Und während du dich noch tiefer unter die Decke verkrochst, keimte in dir das Gefühl auf, dass es doch noch ein Unglück gibt, das größer ist als jeder monetäre Trading-Verlust: den Gefallen an seinem Selbstbild als Trader einzubüßen. Sich selbst nicht mehr zu gefallen, das ist wahrlich das Unglück: Diese Zwietracht mit sich selbst, die einem einen kläglichen und widerwärtigen Anblick verschafft und mit schlechtem Gewissen darüber staunen lässt, wie wenig man von dem getan hat, was man eigentlich vorgehabt hatte.
In diesem »Wabbelzustand« eingeschlafen, dachtest, ahntest, fühltest du dich dennoch am nächsten Tag jedes Mal schnell wieder fit und fandest im neuen Handelstag dahingehend Trost, dass du trotz dieses, bei allem, was du tatest, deutlich auftretenden Gefühls der Unsicherheit ein verflucht tüchtiger, braver Kerl in Sachen Trading seiest – auch wenn nicht jeder Trade im Einzelnen zu rechtfertigen war. Aber da ja auch die ganze Welt nicht so war, wie sie sein sollte, beruhigtest du dich vor deinen Monitoren damit, dass das eigene Trading-Verhalten somit irgendwie normal war. Aber so vollständig alles während des Handelstages verständlich und in sich irgendwie geschlossen erschien, wurdest du am Abend im Bett, unter deiner Decke … na, du weißt schon, erneut von dem dunklen Gefühl befallen, dein Trading sei bloß etwas Halbes; und bei all deinen Überlegungen, diesen kurzen Filmeinblendungen und Gedankensplittern...