Auszug aus Hofners Tagebuch:
»Gelderwerben«, sagt man,
»zwingt uns zu einem Denken, das nicht immer vornehm ist.
Daher ist es wahrscheinlich, dass sich
so mancher Trader dazu berufen fühlen wird,
sich bei jedem Handelstag über seine eigene Vernunft zu erheben,
ohne zu wissen, ob er seelisch dazu überhaupt imstande ist!«
*
Eigentlich hatte Philip heute vorgehabt, ins Büro zu gehen, aber daraus war natürlich nichts geworden. Doch nicht heute – das fehlte noch! Bei diesem Wetter im Büro sitzen und Trades auf mittlerer Trendgröße anstarren! Wenn es regnet – na gut. Doch heute, unter diesem Himmel, der ihn hell und weich anzulachen schien? Nein, ab, Bangkok erkunden war angesagt! Erkunden! Sein Entschluss hatte Philip in eine wahrhaft rosige Laune versetzt. Fröhlich pfiff er vor sich hin, während er durch Straßen und Gassen schlenderte, mittels iPhone und iPad hatte er die Märkte auch ohne Büro, wann immer er wollte, im Blick und damit seine Orders notfalls im Griff. Oft blieb er stehen und atmete tief den typischen Duft von Koriander und Zitronengras ein. Mit diesen Gerüchen hatte er in den Wochen seines Aufenthaltes in Bangkok innige Freundschaft geschlossen … und wann immer ihm diese Düfte in die Nase stiegen, hielt Philip einen Moment inne, als ob er ein kurzes stummes Zwiegespräch mit ihnen führen würde.
Der Nachmittag versprach, in einen schönen Sommerabend überzugehen, und im Genuss einiger gut laufender Positionen, die ihm nach einigen Fehltrades – die übergeordneten Marktphasen seiner gehandelten mittleren Trendgrößen wechselten gerade – nun vergönnt waren, beschloss Philip, ins Oriental Hotel zurückzukehren und dort auf der hübsch geschmückten Terrasse zu Abend zu essen. Philip betrat das Hotel, plauderte einen Moment mit einem anderen Gast, der ebenfalls geschäftlich in Thailand weilte und dessen offenes Entgegenkommen ihrer Bekanntschaft rasch eine überraschende Herzlichkeit gegeben hatte. Nach einigen Worten wünschten sie einander einen schönen Abend, und Philip hob sein Arm zum Gruß und begab sich auf die Terrasse. – Welch Ausblick! Trat man dort an die Brüstung, so konnte man sich eines weiten Blickes über die Stadt und den entlangfließenden Chao Phraya erfreuen.
Seidene Kissen, vielfarbig von Hand bestickt, waren auf den Stühlen verteilt, denn die Gäste liebten es, weich zu sitzen, wusste das Personal. Die Terrasse war zu dieser frühen Abendstunde noch sehr verlassen, nur ein paar Gäste hatten sich bisher eingefunden: zwei ältere Engländerinnen, deren leise vegetative Existenz man kaum bemerkte, ferner ein gut aussehender Deutscher mit einer hübschen Begleiterin in einem hellen, kühn geschnittenen Kleid – von denen Philip kaum glauben mochte, dass sie ein Ehepaar sein könnten, schienen sie sich doch viel zu herzlich zugeneigt zu sein –, und schließlich ein älterer, sehr vornehmer und kultivierter Herr, der den Tag mit nichts anderem zu verbringen schien, als den sich langsam in der Luft auflösenden Rauch seiner Zigaretten sinnierend zu betrachten – wenn er nicht gerade in einem Buch blätterte. Es waren also noch genügend Plätze frei, und so konnte sich Philip sorglos und für sich allein an einem Tisch niederlassen, der einen besonders guten Ausblick über die Stadt bot.
Er gab einem der Kellner einen kurzen Wink und glich in der Wartezeit auf dem iPad rasch einige Kurse ab.
– Zwei Werte waren mittlerweile aus- und dafür fünf andere eingestoppt!
Philip, auf den Kellner wartend, klappte sein iPad zu und – er wusste nicht, wodurch ausgelöst – fragte sich in diesem Moment, wie viel Zeit er mit seinem »Schnell-mal-kurz-auf-das-iPad-schauen« wohl heute den Märkten gewidmet hatte. Er erschrak über das Ergebnis: Waren es wirklich nur etwa dreißig Minuten gewesen? Nur knapp eine halbe Stunde? Wenn es überhaupt so viele Minuten gewesen waren! Kurzum: Auf jeden Fall nur ein Bruchteil dessen, was zeitlich an den Märkten möglich ist.
– Darf ich mich da überhaupt noch »Händler« oder gar »aktiver« Händler nennen?
Rückblickend dachte Philip an jene Zeit zurück, als er sich selbst als Chartjäger gesehen und sich darin gesonnt hatte, wenn ihn andere ebenso bezeichneten. Wie viel beobachtete Wahrheit und gleichzeitig wie viel Leichtfertigkeit und wenig Achtenswertes in dieser Bezeichnung verborgen und versteinert lagen, war ihm erst sehr viel später aufgegangen. Er konnte sich noch sehr gut daran erinnern, dass tatsächlich die gesamte Leidenschaft der Jagd – die Vorfreude, die Erregung beim Aufspüren, das Verfolgen, die Genugtuung beim Erlegen – sein damaliges, rastloses Überwachen der Charts begleitet und bestimmt und ihn beständig auf Abstand gehalten hatte; immer bereit und entschlossen, der Spur eines, und sei es noch so sinnlosen, Chartabenteuers bis hart an den Abgrund zu folgen. Er war immer voller Leidenschaft, aber nicht der des Liebenden, sondern der des Spielers, aber nicht des kalt berechnenden, sondern des gefährlichen; der eines Hasardeurs.
»Sir, your order please …«, neigte sich der Kellner in seiner klassisch weißen Uniform zu ihm und unterbrach seine Gedanken. Philip teilte dem Mann seine Wünsche mit. Doch noch bevor der Kellner servierte, hatte Philip den Faden seiner Gedankengänge längst wieder aufgenommen, und mit einem Hauch von Wehmut erinnerte er sich an seine damalige Frische und Durchtriebenheit und den damit einhergegangenen, halb ernsten, halb spaßhaften Ehrgeiz in der Verfolgung von zugegeben eher wenig durchdachten Zielen und Idealen. Philip musste leise lächeln, als er sich auch an seine heiterskeptischen Kompromisse und geistreichen Halbheiten erinnerte. Aber war denn nicht genau diese »munterhitzige, fantasievolle Schwungkraft« seiner »Traderjugend« der Grund dafür, dass ihm das Traden damals wie spielerisch von der Hand gegangen war?
– Im Spiel zu traden und mit dem Traden zu spielen …
Aber genau jene »munterhitzige, fantasievolle Schwungkraft« seiner »Traderjugend« war irgendwie … dahin. Philip fühlte sich in Sachen Trading eher verstaubt, ja fast schon müde; aber noch bevor der Kellner mit seiner Bestellung zurückkam, hatte er die Antwort auf seine Ausgangsfrage gefunden: Ja, er konnte!
Ja, ich kann … – Nein, ich MUSS sogar! … mich »Händler« nennen!
Yep!
Warum? Nun: Das Leben als Trader bestand für Philip zwar nur noch aus Wiederholungen mit Variationen. Aber das Gleichbleibende überwog bei Weitem gegenüber den Veränderungen, die sich vor allem auf Zahlen beschränkten, und das Verständnis hierfür sowie die Genauigkeit und angestrebte »Sicherheit« dieses Denkens, die er nirgends bisher in seinem Leben erfahren hatte, waren der Vorteil seiner Tradingjahre, sodass er sich seiner Meisterschaft jeden Augenblick gelassen sicher sein konnte.
– Ich habe also heute nichts anderes gemacht, als einen kleinen Teil meiner vor Jahren geleisteten Überstunden vor den Monitoren »abzubummeln«!
Oder anders gesagt: Philips Leben als Trader hatte in dem Moment angefangen, sich zu einem glücklicheren Leben zu verändern, als er sich, eben weil er sich aktiv mit den Märkten auseinandersetzte, sozusagen einen Kodex auferlegt hatte, der alles, was er bedingt tun und unbedingt lassen musste, mit unzweifelhafter Bestimmtheit regelte. Der Kodex seiner Lebensregeln als Händler umfasste zwar nur einen sehr kleinen Kreis von Bestimmungen; dafür waren diese Regeln aber auch unantastbar, und Philip hatte diesen Kreis in den vergangenen Jahren noch nie überschritten und niemals auch nur einen Augenblick bei der Ausführung dessen geschwankt, was er sich an den Charts als zu tun oder zu lassen auferlegt hatte. Kraft dieser Regeln stand für ihn beispielsweise in unzweifelhafter Weise fest, dass er niemals innerhalb einer schlechten Marktphase der Großwetterlage gemäß oder gar dieser entgegengesetzt handelte; dass er niemals alle Eier in einen Korb legte, also all seine Trades immer unter dem Leitstern der Diversifikation durchführte; dass er den eigenen »Rumrutschfaktor«1 stets als Grundlage seines Handelns beachtete. Und dergleichen mehr. Alle diese Regeln waren zwar, soweit es einzelne Ein- oder Ausstiegssignale betraf, nicht wirklich konkret, aber wozu hätten sie dies auch sein müssen? Ein- und Ausstiege konnten – und das war über jeden Zweifel erhaben – bei durchdachtem und daher einsichtigem Geldmanagement, bewusst angestrebter Diversifikation und markttechnisch sauber bestimmten Großwetterlagen einer fachlichen Unschärfe weichen, und Philip folgte seinem durch Erfahrung gestärkten Gefühl, das ihm sagte, dass er, wenn er dieser Richtschnur folgte, ruhig leben und dennoch den Kopf zu Recht hoch tragen könne.
Mittlerweile war die Sonne über die Dächer gekrochen, und nach einem umfangreichen und genussvollen Essen faltete Philipp seine Serviette und legte sie beiseite. Flussaufwärts wehte ein weicher, qualmiger Duft her, grell waren die Farben geworden und brannten wie geschmolzenes Gold in den Augen. Die Dachterrasse hatte sich in der letzten halben Stunde merklich gefüllt, und als Philip, sein Glas in der Hand, seinen Blick über die anwesende Gesellschaft gleiten ließ, blieb er an einem Tisch schräg gegenüber von seinem hängen: Dort saß ein distinguiert wirkendes Pärchen, allen Anzeichen nach ein Ehepaar, und während die Frau ihrem Mann etwas ihr offensichtlich...