2. Gedankenkraft
Anni Besant
Die Methode, nach der das Bewusstsein seinen Träger aufbaut, ist etwas, worüber wir uns möglichst klar werden sollten, denn jeder Tag, ja jede Stunde unseres Lebens gibt uns Gelegenheit, sie für hohe Ziele anzuwenden. Ob wir wachen oder schlafen, stets bauen wir an unserem Mentalkörper; denn sobald unser Bewusstsein schwingt, beeinflusst es die umgebende Mentalmaterie (Matrize), und selbst die leiseste Regung des Bewusstseins, die nur durch einen flüchtigen Gedanken entsteht, zieht etliche Partikel Mentalmaterie in den Mentalkörper hinein und treibt andere hinaus. Soweit dies die Hülle – den Körper – betrifft, beruht dies auf den Schwingungen. Aber es darf nicht vergessen werden, dass das Wesen des Bewusstseins darin besteht, dass es sich ständig mit dem Nicht-Selbst identifiziert und ebenso sich ständig wiederum selbst behauptet, indem es das Nicht-Selbst zurückweist. Bewusstsein besteht aus ständiger Bejahung und Verneinung: „Ich bin dies“, „ich bin dies nicht“. Seine Bewegung besteht also aus der Anziehung M und Abstoßung E, die in der Materie die von uns so benannten Schwingungen hervorrufen. Die umgebende Materie wird ebenfalls in Wellenbewegungen versetzt und dient dadurch als Medium, durch das das Bewusstsein anderer beeinflusst wird.
Die Feinheit oder Grobheit der so angezogenen Materie hängt von der Qualität der Schwingungen ab, die durch das Bewusstsein hervorgerufen werden. Reine und hohe Gedanken bestehen aus sehr raschen Schwingungen, in die nur die feineren und subtileren Mental Stoffpartikel versetzt werden können. Die gröberen Partikel bleiben davon unberührt, da sie nicht fähig sind, genügend schnell zu schwingen. Wenn ein derartiger Gedanke den Mentalkörper in Schwingung versetzt, werden gröbere Partikel aus dem Körper herausgetrieben, und ihr Platz wird durch feinere Partikel eingenommen, so dass auf diese Weise das Baumaterial des Mentalkörpers verbessert wird. Umgekehrt ziehen niedrige und schlechte Gedanken das zu ihrem Ausdruck geeignete gröbere Material in den Mentalkörper hinein, das dann das dort vorhandene feinere Material verdrängt und hinaustreibt. Auf solche Weise wird durch diese Schwingungen des Bewusstseins fortwährend bestimmte Materie aus dem Mentalkörper herausgeschüttelt und andere in ihn aufgenommen. Daraus folgt, dass unsere gegenwärtige Fähigkeit, auf Gedanken zu reagieren, die von außen auf uns zukommen, davon abhängt, welche Art von Materie wir in der Vergangenheit in unseren Mentalkörper eingebaut haben. Besteht dieser aus feinerem Material, dann wird er auf rohe und böse Gedanken nicht reagieren, und diese können auch keinen Schaden stiften. Besteht er dagegen aus grobem Material, dann wird er von jedem vorbeiziehenden bösen Gedanken beeinflusst werden, auf gute Gedanken aber nicht reagieren und von ihnen keinen Nutzen ziehen.
Wenn wir mit einem Menschen in Berührung kommen, dessen Gedanken sich in hohen Regionen bewegen, dann werden seine auf uns einwirkenden Gedankenschwingungen in unserem Mentalkörper jene Materie in Schwingung versetzen, die darauf zu reagieren fähig ist, und diese Schwingungen werden etliches von jener Materie aufrühren und vielleicht auch austreiben, die zu grob ist, um diese hohe Schwingungsfrequenz mitmachen zu können. Inwieweit die Begegnung mit einem solchen Menschen für uns wohltätig sein kann, hängt deshalb weitgehend von der Qualität unseres bisherigen Denkens ab; unser „Verständnis“ für ihn, unsere Empfänglichkeit, ist dadurch bedingt. Wir können nicht für einen anderen denken, er kann nur seine eigenen Gedanken denken. Dadurch erzeugt er in der ihn umgebenden Mentalmaterie Schwingungen, diese wirken auf uns ein und verursachen in unserem Mentalkörper gleichartige Schwingungen. Diese wiederum wirken auf unser Bewusstsein ein. Ein außenstehender Denker kann also auf unser Bewusstsein nur dadurch einwirken, dass er in unserem Mentalkörper solche Schwingungen hervorruft.
Aber auf die Erzeugung solcher von außen verursachter Schwingungen folgt nicht immer sofortiges Verstehen. Manchmal gleicht die Wirkung jener von Sonne, Regen und Erde auf einen im Boden eingegrabenen Samen. Zuerst ist von einer Reaktion auf die den Samen treffenden Schwingungen äußerlich nichts zu merken; innerlich aber beginnt das beseelende Leben leise zu schwingen, und dieses Schwingen nimmt von Tag zu Tag zu, bis endlich das sich entwickelnde Leben die Samenhülle sprengt und eine Wurzel und einen Keim hervortreibt. So verhält es sich auch mit dem Verstand. Das Bewusstsein vibriert schon eine Zeit lang leise in sich selbst, ehe es fähig wird, eine Antwort nach außen zu geben. Wenn wir auch noch nicht imstande sind; einen edel gesinnten Menschen zu verstehen, so beginnt doch in uns ein unbewusstes leises Vibrieren als Vorbote der kommenden Resonanz. Wenn wir aus der Gegenwart eines großen Denkers fortgehen, so sind wir dem ihm entströmenden reichen Gedankenleben etwas näher, als wir es beim Eintreten waren. In uns ruhende Keime von Gedanken wurden belebt, unserer intellektuellen Entwicklung wurde geholfen.
Manches kann also zur Bildung und Entwicklung unseres Verstandes von außen beigetragen werden, das meiste aber muss sich aus der Tätigkeit unseres eigenen Bewusstseins ergeben, und wenn wir einen Mentalkörper haben wollen, der kraftvoll, von Leben erfüllt, aktiv und für uns dargebotene höhere Gedanken aufnahmefähig sein soll, dann müssen wir stetig bestrebt sein, richtig zu denken; denn wir sind unsere eigenen Bildner und formen unseren Verstand selbst.
Viele Leute sind große Leser. Aber bloßes Lesen trägt nichts zum Aufbau des Verstandes bei, nur das Denken bildet ihn. Das Lesen ist nur insofern nützlich, als es Material zum Denken liefert. Ein Mensch mag viel lesen, aber sein mentales Wachstum wird von dem Ausmaß an Denkarbeit abhängen, die er für sein Lesen verwendet. Der Wert der Gedanken, die er liest, hängt für ihn von dem Gebrauch ab, den er davon macht. Wenn er die Gedanken nicht aufgreift und selbst durcharbeitet, wird ihr Wert für ihn nur gering und vorübergehend sein. „Lesen stopft den Menschen voll“, sagte Francis Bacon, und es verhält sich mit dem Verstand geradeso wie mit dem Körper. Essen füllt den Magen an; aber geradeso, wie das Essen für den Körper keinen Wert hat, wenn es nicht verdaut und assimiliert wird, so kann zwar auch der Verstand mit Lesen angefüllt werden, aber wenn er nicht darüber nachdenkt, erfolgt keine Verarbeitung des Gelesenen, und der Verstand wächst dadurch nicht, sondern wird unter einer solchen Überladung eher Schaden leiden und durch die Last unverarbeiteter Vorstellungen eher geschwächt als gestärkt werden.
Wir sollten darum weniger lesen und mehr denken, wenn wir das Wachstum unseres Verstandes und die Entwicklung unserer Intelligenz fördern möchten. Wenn wir den ernstlichen Wunsch hegen, unseren Verstand wirklich auszubilden, sollten wir täglich eine Stunde dem Studium irgendeines ernsten und bedeutenden Buches widmen, und wenn wir fünf Minuten darin gelesen haben, dann sollten wir zehn Minuten lang über das Gelesene nachdenken, und so fort die ganze Stunde hindurch. Die gewöhnliche Art zu lesen ist es, die ganze Stunde rasch weiter zu lesen und dann das Buch zur Seite zu legen, bis die nächste Zeit zum Lesen gekommen ist. Deshalb wächst auch die Gedankenkraft der Menschen so außerordentlich langsam.
Ein ernstlich nach Wachstum strebender Studierender sollte den Entschluss fassen, keinen Tag vorübergehen zu lassen, an dem er nicht wenigstens fünf Minuten lang gelesen und etwa zehn Minuten gründlich über das Gelesene nachgedacht hat. In der ersten Zeit wird er diese Bemühung ermüdend und anstrengend finden, und er wird merken, wie schwach seine Denkkraft ist. Diese Entdeckung kennzeichnet den ersten Schritt, den er zu machen hat; denn es ist schon viel, einzusehen, dass man außerstande ist, scharf und folgerichtig zu denken. Menschen, die nicht denken können, sich aber einbilden, sie könnten es, machen keine großen Fortschritte. Es ist besser, man kennt seine Schwäche, als man bildet sich ein, stark zu sein, während man schwach ist. Das Sich-Bewusstwerden einer Schwäche, wie jener des Herumwanderns der Gedanken oder der Erhitzung, Verwirrung und Ermüdung, die sich nach einer länger fortgesetzten intensiven Denkarbeit im Gehirn geltend macht, entspricht ganz den ähnlichen Empfindungen in den Muskeln nach einer starken Anstrengung. Durch regelmäßige und ausdauernde, aber nicht übertriebene Übungen wird die Gedankenkraft ebenso gefördert wie die Muskelkraft, und in dem Maße, wie die Gedankenkraft wächst, erlangt man auch Herrschaft darüber und vermag sie auf bestimmte Ziele hinzuleiten. Ohne solche Denkschulung bleibt der Mentalkörper ein Gebilde ohne Organisation, und ohne die Fähigkeit zur Konzentration – zur Fixierung der Gedanken auf einen Punkt – kann die Kraft der Gedanken nicht benützt werden.
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Weiters: Bei der zweiten Methode der Gedankenübertragung sendet der Denker, der in seiner...