2 Ravenmaster
Meinen Beruf halten viele für den sonderbarsten im ganzen Königreich.
Sonderbar? Vielleicht.
Der schönste auf der Welt? Keine Frage.
Mein Name ist Chris Skaife. Ich bin der Rabenmeister im Londoner Tower.
Mein offizieller Titel lautet: Yeoman Warder Christopher Skaife, of Her Majesty’s Royal Palace and Fortress the Tower of London. Ich gehöre damit der Sovereign’s Body Guard of the Yeoman Guard Extraordinary an, die allgemein als die älteste noch aktive Truppe der Welt gilt, gegründet unter König Heinrich VII. nach der Schlacht bei Bosworth Field im Jahr 1485. Wir Yeoman Warders[1] sind durchweg ehemalige Soldaten mit mindestens 22 unbescholtenen Dienstjahren. Wir stellen die Ehrenwache für den Londoner Tower. Theoretisch sind wir für die Bewachung der Kronjuwelen sowie etwaiger Gefangener in der Festung zuständig, doch in der Praxis betätigen wir uns als Fremdenführer und pflegen das Tower-Zeremoniell. Wir wohnen sogar im Tower. Wir können mit Fug und Recht sagen: »My home is my castle«, denn unser Zuhause ist ja wirklich eine Burg!
Und mit deren Geschichte fangen wir am besten an. Von Anfang an diente der Tower als Festung, Königspalast, Gefängnis und Arsenal. Er war Sitz der Königlichen Münze und Waffenkammer. John Stow, der nur einen knappen Kilometer vom Tower entfernt aufwuchs und später einer der ersten englischen Historiker war, fasste all das 1598 in seinem Survey of London zusammen: »Dieser Turm ist eine Zitadelle zur Verteidigung und Befehligung der Stadt; ein Königspalast für Versammlungen oder Vertragsschlüsse; ein Staatsgefängnis für die gefährlichsten Übeltäter; derzeit die einzige Münzstätte in ganz England; die Waffenkammer für die Kriegsvorräte; die Schatzkammer für die Kronjuwelen und das Archiv für die meisten Akten der königlichen Gerichtshöfe in Westminster.« Das deckt so ziemlich alles ab.
Heutzutage empfangen wir im Tower pro Jahr rund drei Millionen Besucher.
Für Touristen und Einheimische gibt es in London viel zu besichtigen: Westminster Abbey, die Houses of Parliament, Buckingham Palace, Kensington Palace, Kew Gardens, Hampton Court Palace, das British Museum, das Victoria and Albert Museum, das Science Museum, das Natural History Museum oder die Imperial War Museums. Die Liste ist ellenlang. Wer barocken Prunk mag, schaut sich eine von Nicholas Hawksmoors Kirchen an, Liebhaber des Nachkriegs-Brutalismus eher die Royal Festival Hall. Eine schöne Aussicht auf die Stadt genießt man von den Parkhügeln Hampstead Heath und Primrose Hill oder The Shard aus, der »Scherbe«, einem weiteren der modernen Wolkenkratzer. Es gibt Theater und Konzerthäuser, Restaurants und Cafés. Trotz allem ist der Tower meiner bescheidenen Ansicht nach zweifellos noch immer eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten Londons.
Warum? Nun ja, zum einen sind wir natürlich eine der ältesten. Nachdem der Normanne Wilhelm der Eroberer 1066 den letzten angelsächsischen König Harald II. bei Hastings geschlagen hatte, wollte er seinen Triumph in Stein meißeln. In den späten 1070er-Jahren begann er also mit dem Bau des White Tower, der seine Macht und Stärke demonstrieren sollte. Es wurde das bis dato größte und kühnste Bauwerk Englands, ein perfektes Symbol königlicher Macht. Das ist bis heute so, und ich finde, er ist das schönste Prunkgebäude im ganzen Land. Die Stadt verändert sich ständig, doch der Tower trotzt allem Wandel. Das alte London fiel weitenteils dem Großen Brand von 1666 zum Opfer. Seither verschwanden das berüchtigte historische Newgate-Gefängnis, die alte London Bridge und die riesigen Lagerhallen an den St. Katharine Docks von der Bildfläche. Allein in meinen gut zehn Jahren im Tower hat sich das Antlitz Londons weiter deutlich gewandelt, seien es The Shard, Gherkin oder Walkie-Talkie, der Bau des 120 Kilometer langen S-Bahn-Projekts Crossrail, die Hoch- und U-Bahn Docklands Light Railway im alten Hafengebiet oder die Gentrifizierung des sozial schwachen und von Einwanderern geprägten East End. Doch wie ein Fels in der Brandung steht mittendrin der Tower. Er hat alles gesehen, alles erlebt, alles mitgemacht, bezeugt eine blutige Geschichte von Mord und Folter. Er ist einzigartig. Schierer Protz. Und – nicht zu vergessen – hier sind die Raben zu Hause.
Zurzeit wohnen sieben Kolkraben im Tower. Als Rabenmeister bin ich für ihre Sicherheit und ihr Wohlbefinden verantwortlich. Ich kümmere mich um sie, und sie kümmern sich um uns. Ohne die Raben, so heißt es von alters her, wird der Tower zu Staub zerfallen, und großes Unglück wird über das Königreich hereinbrechen.
In diesem Buch bemühe ich mich, Fragen zu den Raben zu beantworten, die mir am häufigsten gestellt werden. Warum gibt es sie überhaupt im Tower? Worauf fußen unsere Mythen und unser Aberglaube im Zusammenhang mit Raben? Wie betreue ich sie? Womit füttere ich sie? Wer denkt sich ihre Namen aus? Was geschieht mit ihnen, wenn sie sterben? Warum fliegen sie eigentlich nicht weg?
Dieses Buch ist jedoch keine naturwissenschaftliche Studie, das sage ich gleich zu Anfang in aller Deutlichkeit. Ich bin kein Forscher, auch wenn ich im Laufe der Jahre viele Wissenschaftler kennenlernen und unterstützen durfte, die unsere Raben erforschten und über sie Aufsätze für Wissenschaftszeitschriften schrieben. Obwohl ich in vielen Jahren eine Menge Erfahrung im Umgang mit den Raben gesammelt habe, besitze ich keinerlei ornithologische Qualifikation. Ich bin kein Vogelkundler, sondern ein ganz gewöhnlicher Mensch, der das außergewöhnliche Glück hat, einen Großteil seines Lebens mit einigen der berühmtesten Vögeln der Welt zu verbringen und ihren Alltag zu begleiten. Dieses Buch schildert mein Leben und meine Arbeit mit den Raben im Londoner Tower und erklärt, was man als Rabenmeister zu beachten hat.
Geboren und aufgewachsen bin ich in Dover in der Grafschaft Kent, ganz im Südosten von England. In meiner frühesten Erinnerung habe ich es als Kleinkind im Wohnzimmer auf die Fensterbank geschafft und bin fast schon draußen, als mich jemand schnappt und meinem Freiheitsdrang ein jähes Ende bereitet. Ein paar Jahre später kletterte ich auf einen knorrigen alten Baum, bis ich direkt über dem Gewächshaus unseres Nachbarn war, und ließ mich fallen. Ich wollte einfach mal sehen, was passierte. Ich plumpste mitten durch das Glasdach. Die Narben habe ich heute noch.
Mit 15 schwänzte ich ständig die Schule und stromerte mit ein paar anderen Kids durch die nahen Wälder und Hügel. Wir hockten am Lagerfeuer, tranken Cider, klauten und machten allen möglichen anderen Unfug. Mit unseren Fahrtenmessern bauten wir Hütten und schnitzten Pfeile. Wir brachen alte Lagerräume und Garagen auf, bloß um zu sehen, was drin war, kauften Feuerwerkskörper und schoben Autos Böller in den Auspuff oder feuerten sie aus alten Rohren ab. Wir stibitzen zwei Motorräder und bretterten damit die Hügel rauf und runter, aber als wir versuchten, einen Ford Anglia zu stehlen, war die Batterie leer, und im Nullkommanichts hatte uns die Polizei am Schlafittchen. Ich weiß noch, dass es dafür Ohrfeigen hagelte.
Ich war kein missratenes Kind, aber auch kein besonders braves.
All das war 1981. Das Fernsehen berichtete über den Yorkshire Ripper genannten Serienmörder, alle möglichen Hungerstreiks im Zusammenhang mit dem Nordirlandkonflikt, die sozialen Unruhen in Brixton und Toxteth. Die rechtsextreme National Front ging auf die Straße, und der konservative Politiker Enoch Powell beschwor einen Rassenkrieg herauf. AIDS entwickelte sich zur weltweiten Pandemie, und die Arbeitslosenzahlen stiegen ins Astronomische. Margaret Thatcher war an der Macht. Die IRA legte Bomben und tötete Soldaten und Zivilisten. Es war gewiss nicht die allereinfachste Zeit in der Geschichte Großbritanniens!
Und unsere Generation stand zu Beginn dieses neuen Jahrzehnts kurz vor dem Schulabschluss und war begierig auf eigene Abenteuer. Meine Eltern machten sich allmählich Sorgen. Ich trank, rauchte, ging zu Partys, schlich im Dunkeln aus dem Haus und übernachtete irgendwo auf den Hügeln. Wenn meine Gang sich mit anderen Gangs prügelte, war ich dabei. Was sollte nur aus mir werden?
Eines Tages kam ein Militär-Berufsberater in unsere Klasse, zum Glück an einem der Tage, an denen ich die Schule mit meiner Anwesenheit beehrte. Wie viele meiner Altersgenossen hatte ich einen Großteil meiner Kindheit mit Kriegsspielen verbracht. Mit unseren Zinnsoldaten stellten wir Schlachten des Zweiten Weltkriegs nach und schickten die Alliierten gegen die Nazis ins Feld. Wir lasen die alten Kriegscomics aus den Siebzigerjahren, und im Fernsehen sahen wir natürlich die Sitcom Dad’s Army, die von der Heimwehr im Zweiten Weltkrieg handelte, Kung Fu und Planet der Affen – überall ging es um die Guten und die Bösen, um knallharte Burschen und Kämpfer. Als der Berufsberater uns die Laufbahnen in der Armee schilderte und Broschüren verteilte, in denen das Militärleben wie ein großes Abenteuer für genau solche knallharten Burschen wirkte, als Kampf zwischen Gut und Böse, war ich Feuer und Flamme. Ich nahm die Broschüren mit und sprach zu Hause mit meinen Eltern. Die dachten vermutlich: Immer noch besser Soldat als irgendwann im Knast!
Also ging ich mit meiner Mutter zum damaligen Army Careers Information Office in Dover. In dem roten Backsteinhäuschen am Fuß der Klippen nahe der östlichen Mole und dem Fährhafen saß ein korpulenter alter Rekrutierungsoffizier, der sich sichtlich zu Tode langweilte. Man brauchte nur einen simplen Schreib- und Rechentest...