A1. Diagnose (depressiv – aggressiv)
(Herbst 1979 / 38 Jahre) Interessiert es Sie, wie es zu einer falschen Diagnose kommen konnte, deren Folgen letztlich in einer Psychose endeten? Psychose ist Wahnsinn. Und wie die ungeplante Hinwendung zum Evangelium alle Weichen stellte für meine Heilung auf psychoanalytischem Weg?1 Unwahrscheinlich? Doch, so war es, genau so!
Welcher Normalpatient weiß schon, dass es in einer Psychotherapie neben allem anderen darauf ankommt, ob der / die Patient / in ein depressiver(sich zurücknehmender) oder ein aggressiver (sich durchsetzender) Charaktertyp ist?2 Unabhängig vom Ausprägungsgrad wird aus entgegengesetzter Richtung therapiert. Vereinfacht ausgedrückt: Entweder es wird gestützt, gestärkt, Verstehen signalisiert, oder es wird eher reserviert auf Distanz gegangen, herausgefordert. Ich wurde über diese Unterschiede später zufällig so belehrt. Welcher Normalbürger würde die angebliche Neigung zu Geltungsbedürfnis als Kennzeichen eines aggressiv gepolten Menschen einordnen und daraufhin demselben mit permanentem Frust begegnen? Welcher Normalbürger weiß schon – vorausgesetzt, er würde versuchen, einen Menschen in dieser Weise zu charakterisieren -, dass sowohl depressiv als auch aggressiv gepolte Menschen eine depressive Verstimmung haben können, die sich allerdings unterscheidet? Dasselbe gilt für aggressive Anwandlungen. Ich als Normalbürger wusste nichts dergleichen. Ich wusste lediglich, dass ich Hilfe benötigte und Abstand brauchte von allem, was ich nicht mehr aushielt. Ich weiß heute, ich war mein gesamtes Leben lang ein depressiver Grund-Typ. Ich habe kein Geltungsbedürfnis, sondern litt am Gegenteil, nämlich starker Verunsicherung im Selbstwertgefühl, hatte Scheu vor Öffentlichkeit. Regelmäßiges Arbeiten in der Kindheit und späterer Beruf hatten mich – entgegen meiner schüchternen Veranlagung – gelehrt, manches zu tun, was ich eigentlich nicht mochte, nämlich eine Art Durchsetzungsfähigkeit wider Willen. Ich war seit 15 Jahren in einem Beruf tätig, in dem ich viel mit Menschen zu tun hatte, in dem ich Verantwortung bewältigte. Ich trug auch privat die Verantwortung, die mein alkoholabhängiger Lebenspartner verweigerte. Das prägte mich nach, glich meine depressive Einseitigkeit wenigstens oberflächlich aus.
Ich war 38 Jahre alt, zufrieden und erfolgreich im Beruf, aber mit einer unglücklichen Lebenspartnerschaft belastet. Wer Alkoholismus kennt, weiß, was das für die Angehörigen bedeutet, besonders für die Partnerin. Kinder waren nicht betroffen. Und genau das brachte das Fass zum Überlaufen. Zehn Jahre liebevollen Abmühens in der Hoffnung, mit dieser meiner Liebe und Toleranz den zwiespältigen Mann zum Besseren beeinflussen zu können. An sich selbst arbeiten, um in allem Vorbild und Ermutigung zu sein für ihn, keinen Anlass zur Kritik bieten. Unerhörte Verhaltensweisen und Zumutungen immer wieder verzeihen. Sich trennen und wieder zusammenfinden. Warum? Weil die mütterliche Verantwortung für diesen Mann angefangen hatte, das Eigene schrumpfen zu lassen. Eigene Interessen, eigene Grundbedürfnisse, sogar die notwendige Erholung von seinen Eskapaden. Ich war sozusagen atemlos nur noch mit ihm beschäftigt und empfand das selbst nicht mehr als normal. Ich hatte ihn all die Jahre nie unter Druck gesetzt, nicht einmal in dem Wunsch nach einer erweiterten Familie mit Kindern. Ja, er hatte sich so sehr selbst als ein »unerzogenes Kind« entpuppt, da war für weitere kein Platz mehr. Ich schaffte mir als Kind-Ersatz einen Dackel an. Rolf gab bedenkliche Reden von sich, falls unsere Kinderlosigkeit an mir läge. Nach einer Untersuchung stand fest, er war zeugungsunfähig. Damit brach die letzte Hoffnung auf ein normales Familienleben in mir ein. Mit fast 40 Jahren war für mich sowieso ein Grenz-Zeitpunkt erreicht, an dem es nicht selbstverständlich ist, dass der Kinderwunsch sich erfüllt. Er war in dieser sensiblen Frage ausschließlich egoistisch mit sich selbst beschäftigt, ohne jede Einfühlung für mich – wie üblich. Schnell gleichgültig. Zunächst unbemerkt, steigerte sich das Depressive in meinem Gemüt, bis ich es auf zweierlei Weise bemerkte: Ich war völlig erschöpft, nur noch traurig, weinte viel. Und es wuchsen Ängste in mir, weil ich Terminarbeiten im Beruf immer weniger zügig bearbeiten konnte. So ging es nicht weiter! Ich beschloss, das erste Mal in meinem Leben eine Kur zu beantragen, um wieder zu Kräften zu kommen. Das war Voraussetzung, um zu schaffen, mich von Rolf3 endgültig zu trennen. Das wollte ich nun, denn das Maß war voll. Von einer Bekannten erfuhr ich die Adresse einer psychosomatischen Klinik, die so weit entfernt war, dass Rolf es am Wochenende nicht schaffen konnte, mich zu besuchen. Ich wollte konsequent Schluss machen mit ihm. Aus Selbstschutz.
Alles war organisiert: Dienstbefreiung genehmigt, Anmeldung in der Klinik. Nur noch eine einwöchige Dienstreise hinter mich bringen. 3 Tage danach die geplante Abreise in den neuen Lebensabschnitt. Es war ein Freitagvormittag, mit der Post kam die Absage der Kostenübernahme durch meine Krankenkasse. Ratlosigkeit. Die Gewissheit spüren, ich benötige diese Hilfe – und zwar jetzt und nicht irgendwann! Denn ich fühlte mich am Ende sämtlicher eigenen Möglichkeiten und Kräfte. Die Klinik angerufen: »Nein, wir sind kein Sanatorium, sondern eine Klinik, da muss die Krankenkasse bezahlen. Gehen Sie mal zu Dr. D-Mann, der überweist Sie direkt zu uns. Dann klappt das übernächste Woche hier bei uns. Sagen Sie uns bitte Bescheid.« Jetzt erst erkannte ich meinen Fehler. Ich hatte bei der Kasse einen Sanatoriums-Aufenthalt beantragt gehabt, nicht ahnend, worin der Unterschied zu einer Klinik besteht. Sofort bei Dr. D-Mann (D wie Diagnose) angerufen, der zum Glück in der Nähe praktizierte. Lage geschildert: »Ja, wir fragen ihn mal. (Pause) Sie können sofort kommen.« Ich atmete auf. Die Praxis war um diese Zeit leer. Binnen einer Viertelstunde saß ich dem Arzt gegenüber. Er fragte mich nach meinen Gründen für den Wunsch, in die von ihm sehr geschätzte Klinik gehen zu wollen. Ich antwortete bedrückt etwa so: »Ich kann mich schon lange nicht mehr richtig auf meine Arbeit konzentrieren. – Ich verzögere jede Terminarbeit – Ich lebe seit 10 Jahren mit einem Alkoholiker zusammen und muss dauernd weinen.« Weiter kam ich nicht, weil meine Tränen flossen. Diese wenigen Worte hätten ihn schon auf die Spur führen können, dass ich in einer akuten Depression steckte. Ich selbst konnte meine Inaktivität und Traurigkeit nicht einordnen. Er wollte nichts Genaueres hören, fragte auch nicht. Als in diesem Moment eine Helferin eintrat, schickte er mich mit ihr hinaus in einen Nebenraum.
Was nun folgte, schildere ich genau. Es klärt, wie die grundfalsche Diagnose zustande kam. Die Helferin legte mir ein Blatt Papier vor und einen Stift: »Zeichnen Sie bitte einen Baum, Sie haben Zeit!« Einen Baum also. Zuerst wollte ich einen Strich für die Erde ziehen, aber in meiner übersensiblen Verfassung hatte ich Sorge, damit den geplanten Baum zu »verletzen«. Also fing ich mit dem Baum an, platzierte ihn mitten ins Bild. Ein kräftiger Stamm mit einer großen Krone aus Ästen und Zweigen, danach ein ebenso großes passendes Wurzelwerk. Wie Bäume so gewachsen sind. Ich überlegte, wie ein fülliges Blattwerk zu zeichnen sei. Ich bin zeichnerisch nicht die Talentierteste, wollte kein Gekritzel anbringen. Ein paar große Baumblätter anstelle vieler kleiner? Sehr erschöpft und irgendwie müde entschloss ich mich, dem auszuweichen. Ich fühlte mich nervös und überfordert, meine Phantasie von einem schönen, intakten Baum umzusetzen und schrieb mit Worten daneben: »Dies soll ein voll belaubter Baum sein.« Dazu ein Bleistift-Pfeil zu den Zweigen. Da erschien auch schon die Helferin, fragte, ob ich fertig sei. Ich, zaghaft: »Ich glaube.« Sie nahm mir das Blatt aus der Hand, gab mir ein Heft. »Das kreuzen Sie bitte an. Das sind Farben. Immer die, die Sie besser finden.« Ich hatte von beiden Tests gehört. Mein Lebenspartner hatte etliche Jahre vorher beim selben Arzt aus anderen Gründen diesen Farb-Test gemacht. Dessen Auswertungs-Kommentar hatte ich noch im Sinn: »Sie brauchen sinnliche Geborgenheit.« Ich hatte mich damals gefragt: »Was besagt das? Rolf hat bei mir genau das. Fehlt es ihm, oder braucht er das, was er hat? Was sagt der Test genau aus?« Ich war nicht dabei gewesen, die Frage blieb offen. Nun war ich dran. Ich blieb allein und musste mich zuerst in das System hineindenken. Sehr kleine Quadrate, etwa 2 cm Seitenlänge, in 2 Reihen senkrecht angeordnet. Auf der ersten Seite war links untereinander alles gelb, rechts untereinander diverse andere Farben. Die beiden waagerecht nebeneinander liegenden Farbquadrate sollte ich bewerten, welches mir mehr zusagte, also jedes Mal Gelb als Alternative. Mit deutlichen Angstgefühlen dachte ich nur: »Licht! Licht! Licht!«...