5. Abschied
2. Timotheus 1,7-10
Ich freue mich sehr, dass ich heute, nach fast einem Jahr Elternzeit, noch einmal an diesen Ort kommen kann. Hier vorne an diesem Pult habe ich immer gerne gestanden, um zu predigen und sie dabei anzuschauen, nach ihren Reaktionen zu forschen, in ihren Gesichtern zu lesen, was sie wohl hören.
Heute geschieht dies zum letzten Mal!
Bewusst Abschied zu nehmen, Abschied zu gestalten und sich dabei auch der eigenen Empfindungen noch einmal bewusst zu werden, das ist wichtig.
Und darum bin ich dankbar für diese Möglichkeit heute Morgen.
Wenn ich an die letzten fünf Jahre zurückdenke, dann erinnere ich mich an Begegnungen und Ereignisse, die mit einer sehr großen Bandbreite von Gefühlen verbunden sind.
Es gab auf der einen Seite Momente echten Glücks und großer Zufriedenheit.
Hier mit den Schülerinnen und Schülern zweier Grundschulen Woche für Woche Gottesdienst zu feiern und dabei zu erleben, wie ein Funke überspringt aus den alten Geschichten der Bibel und in den Kindern eine Begeisterung für das Leben entzündet, das war echtes Glück. Es kann ja nur Geist Gottes sein, was müde Drittklässler morgens um acht zu derart fröhlichen Menschen auferweckt.
Eine Erfahrung, die ich mitnehme und die mich stärkt auf meinem weiteren Weg.
Und es gab Momente großer Zufriedenheit. Ich durfte Menschen an Schnittstellen und in Umbruchsituationen ihres Lebens begleiten, sie haben mich zum Zeugen ihres Lebens und zum Hörer ihrer Geschichten gemacht. Ich danke allen, die mir dieses Vertrauen geschenkt haben und mich damit in meiner Berufung als Pfarrer bestärkt haben.
Es gab aber auch jede Menge Ärger in den letzten fünf Jahren. Petrus, Paulus und Matthias, das sind ja nicht nur die Namen von Aposteln oder von Kirchen in Unterrath und Lichtenbroich. Es sind im Zusammenhang dieser Gemeinde auch Namen für leidenschaftlich, ja verbissen geführte Auseinandersetzungen um kirchliche Standorte und vermeintliche Besitzstände von Gruppen und Parteien in der Gemeinde.
Ein Gefühl, dem ich darum in Unterrath sehr früh und immer wieder begegnet bin, ist die Empörung.
Empörung darüber, dass die evangelische Kirche in den Jahren 2011 und folgende nicht mehr die evangelische Kirche von 1960 ist.
Empörung darüber, dass der nachdrücklich geforderte Aufbruch zu Neuem zugleich den Abschied von Altem bedeutet.
Empörung darüber, dass ich mich nicht zum Vorkämpfer einer Partei in der Gemeinde eignete.
Glück, Zufriedenheit, Empörung.
Ein viertes Gefühl kommt hinzu, das in den vergangenen fünf Jahren mein innerer Kompass war.
Ich meine, das Gefühl verpflichtet zu sein.
Ich könnte auch einfach sagen: ein Pflichtgefühl.
Ich fühlte mich verpflichtet, mit ihnen gemeinsam, aber auch stellvertretend für sie nach neuen Perspektiven zu suchen, nach Lebensperspektiven aus dem Glauben.
Ich fühle mich auch heute Morgen dazu verpflichtet, weil dies mein Auftrag ist.
Diese Lebensperspektiven, auf die uns die Bibel hinweist, sind keine Rezepte für bestimmte Handlungen.
Die Bibel sagt nicht: Heirate diesen Mann, dann wirst du glücklich.
Oder: Meditier jeden Tag eine Stunde, dann wirst du nie mehr traurig sein.
Oder: Denk positiv, dann hast du keine Sorgen.
Es geht in den Lebensperspektiven, die uns die Bibel eröffnet, an vielen Stellen weniger um Handlungen, als vielmehr um eine bestimmte Haltung im Leben.
So jedenfalls in dem Ausschnitt aus dem zweiten Timotheusbrief, der unser heutiger Predigttext ist.
7 Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. 8 Darum schäme dich nicht des Zeugnisses von unserm Herrn noch meiner, der ich sein Gefangener bin, sondern leide mit für das Evangelium in der Kraft Gottes. 9 Er hat uns selig gemacht und berufen mit einem heiligen Ruf, nicht nach unsern Werken, sondern nach seinem Ratschluss und nach der Gnade, die uns gegeben ist in Christus Jesus vor der Zeit der Welt, 10 jetzt aber offenbart ist durch die Erscheinung unseres Heilands Christus Jesus, der dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht hat durch das Evangelium. (Lutherbibel 1984)
Der zweite Timotheusbrief ist literarisch gestaltet als das Vermächtnis des Apostels Paulus für seinen Schüler und Mitarbeiter Timotheus. Auch Paulus nimmt Abschied. Er fasst am Ende seines Lebens, als er schon auf seinen eigenen Tod zugeht, noch einmal zusammen, was wichtig ist.
In der Situation des Abschieds geht es ihm nicht mehr um Detailfragen, sondern um das grundlegend und zentral Wichtige.
Es geht um Jesus Christus und seine Bedeutung für uns Christen.
Und es liegt ja etwas Tröstliches darin, dass damals – gegen Ende des ersten Jahrhunderts – die Erinnerung an die Bedeutung Jesu Christi offensichtlich schon genauso notwendig war wie heute.
Die Christen der dritten Generation hatten uns also offensichtlich nicht so viel voraus.
Sie mussten schon genauso wie wir heute ganz grundlegend daran erinnert werden, welcher Geist ihnen in der Taufe geschenkt worden ist und in ihnen wohnt:
„Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit“, schreibt Paulus.
Anlässe sich zu fürchten, gab es damals viele. Innere Richtungsstreitigkeiten in der noch jungen Christenheit – offensichtlich auch das nichts Neues heute – und äußere Verfolgung durch den Staat.
Fast schon ein wenig statisch und unbeweglich wirkt es, wie Paulus diese vier Wörter gegeneinander setzt: hier die „Furcht“ oder auch „Verzagtheit“, dort „Kraft“ und „Liebe“ und „Besonnenheit“.
Und doch sind es nicht nur Wörter, sondern menschliche Erfahrungen und Geschichten, die hinter diesen Begriffen stehen.
Und nicht zuletzt eine bestimmte Haltung dem Leben und den Menschen gegenüber.
Angst und Furcht, Verzagtheit und Mutlosigkeit erscheinen uns oft als individuelles Problem, als Problem von Einzelnen. Allzu gerne glauben wir, es gebe von Natur aus mutige oder furchtsame Menschen. Ich glaube nicht daran.
Wir alle haben Angst. Hätten wir nicht die Fähigkeit, Angst zu empfinden, wäre die Menschheit wohl längst ausgestorben. Angst warnt uns vor Gefahren. Wenn wir Angst haben, dann beschleunigt sich unser Puls, die Pupillen verengen sich, der Blutdruck steigt und wir entscheiden uns in Sekundenbruchteilen, ob wir fliehen oder kämpfen. Im Angesicht des Löwen oder vor der großen Welle rettet Angst Leben.
Doch die Gabe der Angst kann auch missbraucht werden. Und sie wird missbraucht.
Sie wird zum Beispiel von denen missbraucht, die uns einreden wollen, kulturelle Vielfalt bedrohe unsere Heimat, bedrohe unsere Identität. Wie gut das funktioniert, war letztes Wochenende bei den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern zu beobachten. Angst wird erzeugt, um Menschen gefügig zu machen, und dabei scheint jedes Mittel recht. Die Lüge hat Hochkonjunktur in unseren Tagen.
Die Vergiftung des politischen Klimas gefährdet unsere Demokratie.
In Talkshows, Sozialen Medien und auf den Straßen ist die Stimmung dauerhaft gereizt. Immer hemmungsloser wird gegeneinander und übereinander geredet. Keiner hört mehr dem anderen zu.
Oder nur, um möglichst schlagkräftig zu antworten, nicht mehr um zu verstehen.
Keine Zuspitzung reicht aus, um sein eigenes Ding nach vorne zu bringen, je radikaler umso besser.
Es ist angesagt, verbal die Sau rauszulassen, als gäbe es kein Morgen.
Das, liebe Gemeinde, passiert immer dann, wenn der Geist der Furcht triumphiert. Dann gebiert Angst immer neue Angst. Ein Teufelskreis, der erst dann zum Stillstand kommt, wenn sich die Haltung zueinander ändert:
Wenn an die Stelle von Furcht wieder Kraft, Liebe und Besonnenheit treten.
Lassen wir nicht zu, dass der Geist der Furcht auch unter uns herrscht!
Paulus schreibt an Timotheus: „Ich rufe dir ins Gedächtnis: Lass das Feuer der Gabe Gottes, …, wieder brennen.“ Damit meint er die Gabe des Heiligen Geistes, den wir in der Taufe empfangen haben, eben den Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. Diesen Geist in uns und unter uns wirken zu lassen, das ist keine Hexerei, sondern schlicht und ergreifend eine Entscheidung.
„Besonnenheit“ hat verschiedene Aspekte. Einer davon ist die Disziplin, und zwar die Selbstdisziplin. In der Disziplinierung von anderen sind wir alle Meister. Aber wenn es um uns selbst geht, wird es meistens schwierig.
Glauben sie mir: Ich weiß, wovon ich rede.
Wenn Paulus uns also an den Geist der Besonnenheit erinnert, den wir empfangen haben, dann ruft er uns damit auch zur Entscheidung für die Liebe auf. Nicht zu irgendeinem Gefühl, sondern zur Solidarität. Dazu, dass wir zusammen halten um Christi willen, weil wir seine Schwestern und Brüder sind.
Darum ist heute mein Wunsch und meine Bitte an euch, liebe Schwestern und Brüder: Lasst das Feuer der Gabe Gottes wieder brennen in euch.
Haltet zusammen um Christi...