II. Die großen monotheistischen Religionen
Monotheistische Religionen sind, historisch gesehen, Spätformen religiösen Denkens auf dem indischen Subkontinent. Sie entwickeln sich aus älteren polytheistischen Vorstellungen, teils durch Verschmelzung verschiedener Gottheiten, deren Machtbereiche sich dann in einer Gottheit vereinen, teils durch die Suche nach einem Urgrund, aus dem die Vielfalt des Seienden, auch der Götter, hervorgegangen ist. Die Entstehung der Idee eines solchen höchsten Gottes allein reicht jedoch noch nicht aus, es muß sich auch eine Gemeinde bilden, die seine Verehrung propagiert, eine Theologie entwickelt und sich gegen andere, ähnliche Versuche durchzusetzen vermag.
Als Spätstufe der Entwicklung findet der Monotheismus in Indien immer schon andere Götter vor. Er kann, wie dies in anderen Teilen der Welt geschah, die vorgefundenen Götter zu Dämonen herabstufen und diese bekämpfen. Er kann aber auch – und dies war in Indien meistens der Fall – die vorhandenen Götter unterordnen, sie als Gehilfen einstufen und sie zum Teil sogar mit den gleichen Aufgaben betrauen, die ihnen im arbeitsteiligen polytheistischen Pantheon ohnehin zukamen. Diese niederen Götter tragen weiterhin ihre alte Bezeichnung „Deva“, „Himmlischer“. Was sie verlieren, ist ihre Unabhängigkeit, ihre Anfangslosigkeit und ihre Unsterblichkeit. Im Rahmen der Wiedergeburtslehre werden sie zu herausragenden Seelen, die aufgrund ihres erworbenen Karma zentrale Aufgaben im Bereich der kosmischen Ordnung übernehmen können. Eine Pluralität von geistigen Wesen wird also beibehalten. Aber die höchste Gottheit ist nicht primus inter pares wie der König der Götter im Polytheismus; sie ist auch nicht die Höchste nur in den Augen des individuellen Gläubigen, weil dieser sich im Augenblick gerade diesem unter allen Göttern in Andacht zuwendet wie im Henotheismus. Sie stellt vielmehr eine völlig andere Kategorie dar. Diese Gottheit allein existiert vor der Welt, vor anderen Göttern, und ist Quelle allen Daseins. Anfangslos und unvergänglich, allwissend und allmächtig, gänzlich unabhängig und in sich selbst ruhend ist nur sie.
Es hat zahlreiche monotheistische Ansätze in Indien gegeben. Auf Dauer durchgesetzt haben sich vor allem der Vishnuismus und der Shivaismus. Aus letzterem ist der Shāktismus hervorgegangen, der sehr alte Wurzeln hat, aber als Theologie die jüngste unter den monotheistischen Religionen Indiens darstellt. Der folgende Versuch, diese Religionen darzustellen, folgt der Reihenfolge ihres historischen Auftretens als erkennbar monotheistische Theologie.
1. Der Vishnuismus
Die Religion, die man heute als Vishnuismus bezeichnet, ist wie ein Strom, der das Wasser vieler Nebenflüsse in sich aufgenommen hat. Mehrere monotheistische Bewegungen unterschiedlichen Ursprungs haben sich in ihr vereinigt. Diese haben sich gegenseitig beeinflußt, haben aber auch teilweise ihre Identität bewahrt, so daß sich selbst heute noch unterschiedliche Stränge erkennen lassen. Drei von diesen treten besonders deutlich hervor: 1) Der Kult des vedischen Gottes Vishnu, 2) der Heroenkult des Vāsudeva Krishna und 3) die Verehrung des königlichen Helden Rāma aus dem Epos Rāmāyana.
Den Gott Vishnu kann man am weitesten zurückverfolgen, da er bereits zum vedischen Pantheon gehörte und alle Bücher des Rigveda von ihm zeugen. In der Zeit der Brāhmanas (ca. 9.–6. Jahrhundert v. Chr.) wurde er mit Purusha und Nārāyana identifiziert, und es entwickelte sich eine Theologie, die bereits alle Züge eines Monotheismus trug. Die Theologen dieser Religion gingen aus zwei unterschiedlichen Schulen des Yajurveda hervor: die Pāncarātras gehörten zum weißen, die Vaikhānasas zum schwarzen Yajurveda. Beide Gruppen standen in Kontakt miteinander. Sie unterschieden sich vor allem durch ihre Einstellung zur Welt: Die Pāncarātras sonderten sich als Asketen von der Gesellschaft ab, die Vaikhānasas dagegen legten Wert auf die Einhaltung der sozialen Normen des Dharma – das als Vaikhānasa Dharmasūtra bekannte Gesetzbuch und ein Handbuch der häuslichen Riten stammen aus ihren Reihen – und machten den Kult des Vishnu-Nārāyana hoffähig für Herrscher der Kushānas, Vākātakas und Guptas.
Beide Gruppen beteiligten sich an der Entwicklung von Sāmkhya und Yoga, die damals anscheinend noch außerhalb der orthodoxen vedischen Tradition standen. Das führte dazu, daß sie zusätzlich zum vedischen Purusha auch den Purusha des Sāmkhya und Yoga in ihr System aufnahmen. Mit Vishnu, Nārāyana, dem vedischen Purusha und dem Purusha des Sāmkhya wurden also in der Tradition des Yajurveda vier Gotteskonzepte vereinigt, die allesamt auf einen höchsten transzendenten Gott verwiesen. Zu diesen kam im 4. oder 3. Jahrhundert v. Chr. noch ein fünfter Strang hinzu, der aus der epischen, also bardischen Tradition stammte. Unter den Vrishnis, einem Zweig des Stammes der Yādavas, hatte sich ein Heroenkult entwickelt, in dessen Zentrum Krishna Vāsudeva (= Sohn des Vasudeva) und dessen Bruder Balarāma standen. Die Träger dieses Kultes nannten sich Sātvatas nach der Sippe, zu der Krishna gehörte, oder Bhāgavatas nach der bei ihnen gebräuchlichen Gottesbezeichnung Bhagavān (wörtlich: „Anteile Besitzender“ im Sinne von „Gabenreicher“) für Vāsudeva Krishna. Auch diese Gruppe befaßte sich mit Yoga und Sāmkhya, legte aber von Anfang an großes Gewicht auf Bhakti, die persönliche, ausschließliche Hinwendung des Gläubigen zur Gottheit. Die Bhagavadgītā ist das einflußreichste Zeugnis der frühen Theologie dieser Gruppe. Sie erhielt ihre endgültige Form jedoch erst, nachdem sich die Bhāgavatas mit den Pāncarātras und Vaikhānasas vereinigt hatten. Als letzte Ergänzung kam im 2. Jahrhundert n. Chr. ein neu aufkommender Kult des alten epischen Helden Rāma hinzu, der nun als Inkarnation des Vishnu aufgefaßt wurde.
Aus dieser Kombination unterschiedlicher, aber in bezug auf die Beziehung des Menschen zu Gott sich ähnelnder monotheistischer Bewegungen ergab sich eine starke und theologisch produktive religiöse Kraft, die als Ganze erst in der Guptazeit als vaishnava (vishnuitisch) bezeichnet wurde. Die internen Differenzen blieben aber trotz des Bewußtseins der Zusammengehörigkeit bestehen. Daher ist es nötig, die einzelnen Stränge in ihrer Eigenart und historischen Entwicklung gesondert zu beschreiben.
a) Vedische Komponenten
Vishnu ist im Veda der Name eines Gottes, der zur Gruppe der Ādityas gehört. Schon früh wurde er als lichthafter, solarer Gott verstanden. Der wichtigste ihm gewidmete Mythos des Rgveda berichtet, daß der sonnenäugige Vishnu die Erde ausgeschritten habe, um Wohnraum zu schaffen. In drei Schritten hat er den Raum durchmessen, hat damit auch den Raum überhaupt erst entstehen lassen, und dies sowohl in horizontaler, als auch in vertikaler Richtung: Seine höchste Fußspur ist im höchsten Himmel, wo das Auge des Himmels (die Sonne) fixiert ist und der Quell des Honigs fließt. Unter seinen Schritten hat die ganze Welt Platz. Er allein hat der dreifachen Welt (Erde, Luftraum und Himmel) Halt gegeben. Er stützt den Himmel, und er ist es auch, der die 4 mal 90 (360) Tage und Nächte wie ein sich drehendes Rad in Bewegung setzt.
Diese Hinweise aus dem Veda zeigen bereits, daß Vishnu eine kosmogonische Rolle spielt und daß er Leben ermöglicht, indem er den Himmel stützt und dadurch den nötigen Raum für Leben schafft. Mit dem Raum schafft er auch Licht, Bewegung und Zeit: Die Sonne, diese mächtige Gestalterin der Zeit in Form von Tag und Nacht, Jahreszeiten und Jahr, ist sein Kopf oder Auge, also ein Teil von ihm.
Daß Vishnu auch ein Zwerg ist, erfährt man zuerst im Yajurveda (Taittirīya Samhitā 2.1.3) und ausführlicher im Shatapatha Brāhmana. Sein Ausschreiten wird als ein Wachsen gedeutet: Der Zwerg ist das Opferfeuer, das beim Erzeugen des Feuers mit Reibhölzern zuerst als winziges Glimmen beginnt, dann aber wächst und zu mächtiger Größe aufflammt. Vishnu wird zum gigantischen Riesen, dessen Füße das Opferfeuer, dessen Kopf (oder Auge) die Sonne darstellen. Die vielfach im Veda formulierte Auffassung, daß Feuer und Sonne zwei Manifestationen der gleichen Gottheit sind, wird hier ausdrücklich bestätigt. Vishnu umgreift sie beide.
Das Opfer (jedes Opfer!) befindet sich im Zentrum der Welt. Sein Rauch und die Opfergaben, die dieser mit sich führt, folgen der Weltachse, die durch den Opferpfosten (an den man das Opfertier bindet und der dem Vishnu geweiht ist) symbolisiert wird, durch den weiten Raum, den der Gott erschafft und durchdringt, bis hinauf zum Himmel, den das Opfer stützt. Und weil Vishnu als erster das Ende des Opfers (den höchsten Himmel) erreicht, erweist er sich als der beste unter den Göttern.
Diese Deutung Vishnus als personifiziertes Opfer, dessen kosmogonische Kraft Himmel und Erde voneinander trennt und Raum für Leben schafft, meint das Opfer in der Gesamtheit seiner rituellen Bezüge. Dazu gehört auch die Opfergabe. Eine solche gibt es...