Besuch in Treblinka 2016. Ein Ort zum Beten und zum Weinen
Treblinka ist ein ruhiger Ort fernab jeglicher Verkehrs- und Touristenrouten, etwa 80 Kilometer nordöstlich von Warschau. In dichten Kiefernwäldern verrät nichts das grauenhafte Geschehen, das dort vor bald 75 Jahren stattfand: Am 22. Juli 1942 begannen die deutschen Besatzer mit der Deportation von Juden aus dem Warschauer Ghetto, die sie im Vernichtungslager Treblinka vergasten. Bis November 1943 ermordeten sie dort beinahe 900.000 Menschen aus den Ghettos im besetzten Polen, verbrannten die Leichen und vergruben die Asche. Heutzutage erinnern eine kleine Gedenkstätte, ein Mahnmal und eine symbolische Eisenbahntrasse an den Holocaust.
Nur wenige Besucher verirren sich hierher. In der Stille der ostpolnischen Provinz hat man diese Stätte meist für sich alleine. Im warmen Licht eines Spätsommertags wandeln wir auf einem gigantischen Massengrab, spazieren mit fröhlichem Vogelgezwitscher in den Ohren über die Asche von Hunderttausenden. Die merkwürdige Ruhe verstört und überwältigt zugleich. Wie ist es möglich, dass die kaum vorstellbaren Taten keine Spuren hinterließen?
Aber wir täuschen uns. Es gibt Zeugnisse, dort, wo man sie nicht vermutet: Bäume sind die letzten Hinterlassenschaften der Mörder. Der Wald wurde gepflanzt, damit nichts sichtbar ist, damit gewissermaßen Gras über die Sache wächst. Die Täter sind in Treblinka sogar verantwortlich für den Frieden und die Würde. Es ist ein Ort, um an der Menschheit zu verzweifeln. Ein Ort, an dem nur Beten oder Weinen bleibt.
Doch Treblinka ist nicht das einzige beinahe vergessene Vernichtungslager. Noch abgelegener, noch weniger erschlossen und noch unbekannter sind Bełżec und Sobibór, nur wenige Kilometer entfernt von den heutigen Grenzen zur Ukraine und zu Weißrussland. Es kommen selten Besucher dorthin. Abermals gibt es nichts zu sehen, nur Bäume als Zeugen und kleine Mahnmale erinnern an das Grauen. Wie in Treblinka fand an diesen Orten seit Frühjahr 1942 unter dem Tarnnamen «Aktion Reinhardt» die systematische Ermordung von Juden statt – oder besser: von denjenigen Menschen, die die Deutschen als «Juden» betrachteten. Sie stammten vor allem aus dem Generalgouvernement Polen und dem Bezirk Białystok, aber auch aus anderen Ländern des besetzten Europa. Fast eine halbe Million Opfer waren in Bełżec zu beklagen, knapp 200.000 in Sobibór.
Was bleibt von diesem zentralen Kapitel des Holocaust? Zählt man alle Toten zusammen, also zusätzlich diejenigen, die beim Zusammentreiben in den Ghettos oder in den Deportationszügen starben, kommt man auf mindestens 1,8 Millionen, vielleicht sogar zwei Millionen. Wir werden ihre Namen nie alle kennen, ja nicht einmal ihre exakte Anzahl bestimmen können – zu effektiv haben die Mörder ihre Spuren verwischt. Auch deshalb ist die Aktion Reinhardt heutzutage trotz ihrer Dimensionen kaum bekannt. In den letzten Jahren erschienen zwar neue Studien zu Detailaspekten, aber die einzige Gesamtdarstellung – in englischer Sprache – datiert von 1987.[1]
In Deutschland und weltweit steht Auschwitz symbolisch für die Ermordung der Juden. Über eine Million Menschen töteten die Deutschen dort, mehr als an jedem anderen Ort. Das Einfahrtsgebäude mit der Rampe ist längst eine Ikone geworden, die riesige Fläche mit ihren Zäunen, Baracken und Resten der Gaskammern ist ein Monument gegen das Vergessen. Der Besucherandrang ist inzwischen so groß, dass Tickets vorab bestellt werden müssen. Mehr als eineinhalb Millionen Menschen sahen 2015 diese Stätte. Treblinka, das bekannteste Lager der Aktion Reinhardt, hat täglich keine 200 Besucher, obwohl das Gelände rund um die Uhr offen zugänglich ist. In Bełżec sind es noch einmal weniger als halb so viele Besichtigungen. Und die Gedenkstätte in Sobibór ist seit 2012 aus Geldmangel geschlossen.
Bełżec, Sobibór und Treblinka überlebten insgesamt weniger als 150 Menschen. 2016, über 70 Jahre nach der Befreiung, sind sie alle tot. Doch wer außer ihnen sollte das Gedenken an die Opfer anmahnen und einfordern? Haben die Deutschen also am Rande Europas das «perfekte» Verbrechen begangen, das heute ebenso aus den Augen wie aus dem Sinn ist? Das wäre umso tragischer, als die Aktion Reinhardt den eigentlichen Kern des Holocaust darstellt: die beinahe vollständige Auslöschung der polnischen Juden, der Mord an annähernd zwei Millionen Menschen fast ohne sichtbare Spuren. Eine monströse Tat, die sich heutzutage nicht wie in Auschwitz in einem gigantischen Lagerkomplex für Zehntausende Zwangsarbeiter offenbart, sondern gerade in dessen Nichtvorhandensein. So steht die Aktion Reinhardt für die Quintessenz des Hasses und des deutschen Antisemitismus. Sie war die reine Vernichtung ohne irgendwelchen sonstigen «Nutzen».
Dieses Buch handelt von der Geschichte der Aktion Reinhardt und ihren Opfern – den polnischen Juden. An ihnen entwickelten die Deutschen seit September 1939 das antisemitische Programm weiter zum Genozid. Der im Frühjahr 1942 einsetzende industrielle Massenmord wurde nicht in Auschwitz «erfunden», sondern in und für Bełżec. Danach perfektionierten hoch motivierte Täter nach und nach Tötungsmethoden. Es gab für den Holocaust keinen Masterplan, er war deshalb möglich, weil sich die deutsche Führungsspitze einig war, die Juden zu vernichten.
Züge, in denen bis zu 5000 Menschen in Viehwaggons gepfercht waren, ließen Männer wie Christian Wirth oder Franz Stangl in wenigen Stunden leeren – sie trieben die Opfer in Gaskammern, die ebenso simpel wie brutal effizient mit Motorabgasen funktionierten. Doch die eigentliche Herausforderung war für die Mörder die Leichenbeseitigung. Wo die Gaskammern 2000 Menschen in gut 20 Minuten töteten, nahm deren Verscharren in Massengräbern ein Vielfaches an Zeit in Anspruch. Die Gruben mit halbverwesten Körpern strömten einen infernalischen Gestank aus und stellten – schlimmer noch – einen unwiderlegbaren Beweis für das Verbrechen dar. Ab Ende 1943 wurden die Leichen daher ausgebuddelt und auf riesigen Scheiterhaufen verbrannt. Erneut zeigten sich die Mordexperten mit ihren simplen Lösungen hochzufrieden.
Die Aktion Reinhardt belegt die reibungslose Zusammenarbeit gewissenloser Überzeugungstäter mit «ganz normalen Männern» der Zivilverwaltung, der Reichsbahn oder der Polizei, die die Juden aus den Ghettos ohne Bedenken in die Vernichtung schickten. Von Lublin aus steuerte der SS- und Polizeiführer Odilo Globocnik dieses Netzwerk. Die präzise Organisation erlaubte es, dass in den Lagern jeweils nur etwa 20 Deutsche mordeten. Sie konnten auf kollaborierende frühere Kriegsgefangene der Roten Armee zurückgreifen, von denen John (Iwan) Demjanjuk in Sobibór den größten Bekanntheitsgrad erlangte. Dieses arbeitsteilige Vorgehen gegen die Juden, gemeinsam mit den unterdrückten Völkern Europas, ist ein zentraler Aspekt des Holocaust. Er war möglich, weil letztendlich niemand protestierte. Die Schreie der Opfer verhallten ungehört, obwohl das Geschehen durchaus beobachtet wurde. Berichte jüdischer, polnischer und deutscher Widerständler gibt es zuhauf. Aber auch exemplarische Zeugnisse von einfachen Soldaten, von durchreisenden Männern und Frauen, die das öffentliche Geheimnis bezeugten.
Details blieben ihnen verborgen, aber die Dimension des Genozids schätzten sie oft erstaunlich präzise. Über das Grauen in den Lagern selbst berichten die wenigen Überlebenden. Sie schildern Verzweiflung und Durchhaltewillen und finden Worte für das Unvorstellbare, das sprachlos Machende. Wo in Auschwitz «Selektionen» stattfanden, die in vorgeblich Arbeitsfähige und zu Ermordende schieden, die Kandidaten für unmenschliche pseudowissenschaftliche Experimente auswählten und die einen umfassenden wirtschaftlichen Betrieb der SS ermöglichten, benötigte die Aktion Reinhardt lediglich eine geringe Zahl todgeweihter Sklaven für die «Verarbeitung» der Juden aus den Deportationszügen. In den Augen der Täter gab es keinen Nutzen, den die Opfer noch haben konnten. Selbst deren Beraubung war nur ein Nebenprodukt, das helfen sollte, die Unkosten zu decken – der Lagerbau kostete Geld, Züge der Reichsbahn fuhren nicht umsonst, und auf persönlicher Ebene boten sich ebenfalls einige Bereicherungsmöglichkeiten.
Es gab keine Überlebenschance. Deshalb schlossen sich Juden in Treblinka und Sobibór zusammen und leisteten Widerstand. In Treblinka kam es am 2. August 1943 noch eher zufällig und wenig organisiert zum Aufstand. In...