1. Einleitung
Was ist protestantisch?
«Protestantismus» ist ein Kollektivsingular für all jene christlichen Kirchen, Gruppen und Bewegungen, die aus der Reformation des 16. Jahrhunderts hervorgegangen sind und sich selbst als Erben des reformatorischen Protests verstehen. Allerdings: Den Protestantismus gibt es nicht. Schon die reformatorischen Protestbewegungen des 16. Jahrhunderts waren durch große Vielfalt gekennzeichnet. Die Historiker streiten inzwischen darüber, ob es sinnvoll ist, von der Reformation zu sprechen, und bevorzugen vielfach die Rede von den Reformationen des 16. Jahrhunderts. Denn die großen Reformatoren Martin Luther, Johannes Calvin, Ulrich Zwingli und Philipp Melanchthon waren in Theologie, Frömmigkeitspraxis, christlicher Ethik und politischer Grundhaltung keineswegs einer Meinung. In den komplexen Wirkungsgeschichten ihres Protestes gegen die spätmittelalterliche Papstkirche hat sich die theologische, religiöse und ethische Vielfalt des Protestantischen später immer neu verstärkt. Die bald fünfhundertjährige Geschichte der Protestantismen ist durch bleibende Bekenntnisunterschiede zwischen Lutheranern, Reformierten, Anglikanern, Baptisten und Angehörigen der vielen protestantischen Denominationen, Freikirchen und Sekten geprägt. Für die Geschichte der Protestantismen kennzeichnend sind darüber hinaus Erneuerungs- und Reformprogramme, wie sie im Pietismus, im Methodismus und in den diversen Erweckungsbewegungen bzw. Revivals und Awakenings wirkmächtig Gestalt gewannen und teils die religionskulturelle Vielfalt in den einzelnen protestantischen Konfessionskirchen verstärkten, teils neue evangelische Kirchen oder kirchliche Gruppen entstehen ließen. Seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert bewirkten die in den großen protestantischen Kirchen heftig geführten Auseinandersetzungen um das Verhältnis des christlichen Glaubens zur Aufklärung und speziell zu modernen politisch-sozialen Freiheitsidealen schließlich neue interne Differenzierungsprozesse. Mit der Entstehung des modernen Bürgertums formierte sich, gerade auch in Deutschland, ein bürgerlich-liberaler Kulturprotestantismus, der zwischen überkommenen Glaubenswahrheiten und modernem Bildungskult vermitteln und einen christlichen Humanismus zur Leitkultur der Gesellschaft machen wollte. Im entschiedenen Kampf gegen die politischen Revolutionen seit 1789, die Auflösung der alten feudal-ständischen Gemeinwesen und die äußerst krisenhafte Durchsetzung der modernen industriekapitalistischen Produktionsweise entstanden in Europa um 1800 aber auch konservative Moralprotestantismen, für die der christliche Glaube notwendig an alte Gemeinschaftswerte gebunden war. Die weitere soziale Differenzierung der Gesellschaft in Klassen und Schichten führte schließlich dazu, dass sich innerhalb der großen Kirchen neue protestantische Sozialmilieus und Lebenswelten etablierten. Gerade «kleinen Leuten» wie Arbeitern, Handwerkern, Tagelöhnern und Kleinbauern verhalf ihr intensiv gelebter christlicher Glaube dazu, die vielen Risiken zu bewältigen, mit denen sie angesichts des schnellen sozialen Wandels konfrontiert waren. Noch deutlichere Züge eines Übergangsphänomens zeigen im Rückblick die diversen Bürgerprotestantismen, die sich in vielen europäischen Gesellschaften gleichfalls im 19. Jahrhundert formierten. In schleichenden Prozessen sozialstruktureller Entbürgerlichung und der «kulturellen Enteignung» (Dieter Langewiesche) ihrer Trägerschicht lösten sie sich im Verlauf weniger Generationen allmählich auf. Ähnliches gilt für die protestantischen Adelswelten Europas, auch wenn hier, allen Erfahrungen des Abbaus alter ständischer Privilegien und demokratischer Nivellierung zum Trotz, vielfach noch immer ein gotteselitärer Protestantismus mit stilvollem Distinktionsbewusstsein gepflegt wird.
Die Erscheinungsformen des Protestantischen sind seit 1800 zunehmend bunt, vielfältig und widersprüchlich geworden. Der Oberbegriff «Protestantismus» umfasst heute unterschiedliche Konfessionskirchen und Denominationen mit je besonderen Bekenntnistraditionen und theologischen Überlieferungen. Er schließt äußerst heterogene religiöse Lebenswelten ein und stellt sich auch in ethischen Fragen und politischen Bezügen als überaus disparat dar.
Protestanten waren nicht nur die Meisterdenker der deutschen Philosophie wie Immanuel Kant, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Protestanten prägten entscheidend auch den klassischen nationalen Literaturkanon der Deutschen: Von Gryphius über Lessing, Wieland, Mörike bis hin zu Hermann Hesse, Thomas Mann und Gottfried Benn haben große Autoren als Pfarrerssöhne oder skeptische Erben protestantischer Milieutraditionen ein Dichterleben lang immer auch die Wirkungsgeschichten einer spezifischen religiösen Sozialisation fortgeschrieben. Protestantische Profile konnten staatsnahe Züge tragen oder als subversiv denunziert werden, protestantische Wege im 20. Jahrhundert, wie Martin Niemöllers Beispiel zeigt, «vom U-Boot zur Kanzel» und von dort ins KZ führen, ehe sie im Amtssitz des Kirchenpräsidenten und auf den Podien der Friedensbewegung endeten. Machtpolitiker, Magnaten und Märtyrer lebten auf je eigene Weise ihre protestantischen Biographien: Dietrich Bonhoeffer und Wilhelm II., Otto von Bismarck und Dorothee Sölle, Rudi Dutschke und Theodor Heuss, aber auch – mit Ausnahme Heinrich Lübkes und Christian Wulffs – alle Bundespräsidenten seither, bis zum bibelfest-frommen Johannes Rau, zu Horst Köhler und dem Rostocker Pfarrer Joachim Gauck. Protestanten sind die Pfarrerstochter Angela Merkel und der Ordnungsexperte Wolfgang Schäuble, der Liberale Otto Graf Lambsdorff und der Verantwortungsethiker Helmut Schmidt, die ökosensible Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt und der christsoziale Ordnungsexperte Günther Beckstein – was ist das protestantisch Verbindende, Gemeinsame dieser Christenmenschen?
In den USA präsentieren sich protestantische Temperamente und Geistesfärbungen ähnlich facettenreich irisierend – und auf den ersten Blick irritierend widersprüchlich: Billy Graham und Martin Luther King verstanden sich ebenso als Protestanten wie George Bush und Jimmy Carter, Elvis Presley und Johnny Cash, ein «born-again Christian» mit einer pfingstlerischen Mutter, und der Raumfahrer Buzz Aldrin, ein Episcopalian. Mit grellen Schreihalspredigten sammeln Fernsehprediger wie Pat Robertson und Jerry Falwell viel Geld ein bei den Frommen einer hochorganisierten Christian Right, die die Bibel ganz wörtlich, buchstabengetreu zu lesen verlangt und in Mega Churches zum heiligen Kulturkampf gegen den verhassten liberalen Säkularismus aufruft: gegen die Legalisierung von same sex partnerships oder ein Recht auf Abtreibung, für Schulgebet und die Ablösung der Darwin’schen Evolutionslehre durch einen biblizistisch inspirierten Kreationismus im Biologieunterricht staatlicher Schulen. Aber in den USA, einem Land mit knapp 150 Millionen Protestanten, sind protestantische Überlieferungen zugleich so tief und fest in die symbolische Ordnung von God’s own country und die Vergesellschaftungsmuster der civil society integriert, dass etwa das Social Gospel, eine im späten 19. Jahrhundert entstandene Reformbewegung, die evangelikale Frömmigkeit in «sozialer Solidarität» mit Arbeitern und anderen Marginalisierten konkretisiert, tiefgreifenden Einfluss auf die politischen Ideale der Demokratischen Partei ausüben konnte.
Rigorose calvinistische Sittenwächter mit asketisch scharfen, von schmalen Lippen und harten Blicken geprägten Gesichtern sind ebenso Protestanten wie ekstatisch tanzende schwarze Gospel-Sänger in New York City oder lutherische Bauern im Süden Brasiliens, die im Schöpfergott primär den Garanten von Zucht und Ordnung sehen. Schwedische und finnische lutherische Pfarrer, die in alten katholischen Messgewändern Hochämter singend zelebrieren, markieren den einen, bewusst romnahen Pol des Protestantischen – Waldenser mit ihrem radikalen «Bergpredigtchristentum» in den Tälern Piemonts, aber seit den Auswanderungswellen des 19. Jahrhunderts auch am Rio de la Plata, den dezidiert hierarchiekritischen, basisgemeindlichen Gegenpol. Protestanten feiern ihre Gottesdienste in byzantisierend reich geschmückten wilhelminischen Kathedralen wie etwa dem Berliner Dom, aber auch in ästhetisch faszinierend kargen, allein durch ein Kreuz bestimmten Gotteshäusern, aus denen frommer Furor einst bilderstürmerisch alle visuellen Fixierungen des Absoluten entfernt hat. Protestantismus ist arrogante Elitenreligion und einfacher Kleine-Leute-Glaube zugleich, abstrakte, vernunftfromme Intellektuellenreflexivität ebenso wie naives Urvertrauen in einen gnädigen Schöpfergott, der in seinem Regimente machet alles wohl. Protestantismus – das sind Johann Sebastian Bach und die Lieder Paul Gerhardts und des Pfarrerssohns Matthias Claudius, das ist aber auch anbiederndseichter Sakralpop, der selbst auf Kirchentagen nur noch peinlich wirkt. Ist es trotz solcher Vielfalt überhaupt sinnvoll, von dem Protestantismus zu...