Der Soundtrack zum sich unverstanden Fühlen
KATI SCHWIND Als ich 1981 nach Westberlin gezogen bin, hab ich erst mal nur in besetzten Häusern gewohnt. Das war ganz normal in Kreuzberg. Damals waren ja ganze Häuserzüge besetzt.
CLÉ Wenn man da aus dem U-Bahnhof rauskam, war das echt spooky. Man stand inmitten rußiger, verlassener Straßenschluchten. Überall roch es nach Kohleöfen.
DER WÜRFLER Man hatte damals das Gefühl, dass der Krieg noch nicht zu Ende sei.
KATI SCHWIND Alles in Westberlin war von vorne bis hinten subventioniert. Bis Ende der 70er gab es sogar ein Begrüßungsgeld für alle, die zuzogen, weil die Stadt so überaltert war. Diese Rundumversorgung hat deutlich auf die Bewohner abgefärbt. Die Lebenshaltungskosten waren gering, und die Sorgen, wie man die nächste Miete zusammenkratzen kann, hielten sich sehr in Grenzen. So hatte man ganz viel Zeit, seine Macken und Schrullen künstlerisch auszuleben.
DIMITRI HEGEMANN Ich habe damals an der Freien Universität Musik studiert und bin zu Feldforschungen in die Nacht gezogen. Es gab ja nicht so viel. Das Risiko war ein besonderer Ort, da hab ich Birthday Party mit Nick Cave kennengelernt. Im Dschungel war ich nicht so oft, da ließen sie mich meist nicht rein. 1982 habe ich dann ein Festival im SO 36 veranstaltet. Das hieß Atonal. Wir wollten eingefahrene Hörgewohnheiten brechen und Neues zeigen – in Bild und Ton. Da haben viele Bands mit tollen Namen gespielt: Malaria!, Sprung aus den Wolken, Die tödliche Doris und die Einstürzenden Neubauten. Als die Neubauten auf die Bühne kamen, fingen die direkt an, die Rückwand zu durchbohren. Die Funken flogen, und der Betreiber des SO?36, der vorne Dosenbier verkaufte, rannte wild durch die Gegend. Ich saß backstage, und plötzlich kam neben mir der Bohrer durch die Wand. Ein Jahr später hatten wir Psychic TV da. Genesis P-Orridge trug da schon Glatze mit Zopf und kam wie ein Sektenführer mit acht Leuten im Schlepptau, die aussahen wie Hare Krishnas. Bei ihrem Auftritt haben die einen Film gezeigt, in dem eine Anakonda ein Kaninchen frisst.
MARK REEDER Die Berliner Punk-Szene war erst mal erfrischend anders, nicht so kommerzialisiert, wie ich das aus England kannte. Da war das ja schon 1978 Rock. Ich hatte in Manchester in einem Plattenladen gearbeitet und war mit Leuten wie Tony Wilson, Daniel Miller und Ian Curtis befreundet. In Berlin war ich dann der Vertreter von Factory Records. Ich hab ein paar Gigs für Joy Division organisiert und Bands kennengelernt wie die Neubauten, die mit Müll spielten, oder P1/E, eine elektronische Band, in der Alexander Hacke gespielt hat. Die frühen House- und Techno-Sachen waren für mich später ganz ähnlich radikal.
3PHASE Durch Punk hatte man die Idee bekommen, dass selber Krach machen eine tolle Sache ist. Bands wie Throbbing Gristle haben scheinbar alles vom Toaster bis zum Küchenmixer zum Musikmachen verwendet. Es war egal, ob man ein Instrument spielen konnte. Wichtig war nur, dass es interessant klingt und was Eigenes ist.
MARK REEDER Das Geniale Dilletanten-Festival zum Beispiel war sehr humorvoll und kreativ. Man konnte einfach mitmachen. Niemand konnte vernünftig spielen. Bands wurden nur für den Abend gegründet. Und die Leute haben etwas gehört, das sie nicht kannten.
COSMIC BABY So mit sechzehn habe ich angefangen, rauere Sachen zu hören: Throbbing Gristle, Der Plan oder Pyrolator. Ich habe dann viel experimentiert: im Radio das Rauschen aufgenommen, zu laufenden Platten gespielt oder mit zwei Kassettenrekordern hin und her aufgenommen. Ich hatte eine Roland 606 Drum Machine, die habe ich stundenlang laufen lassen und spielte auf dem Klavier Sequenzen dazu. Das fanden natürlich alle langweilig – ist ja immer das Gleiche, die Stimme fehlt, es kommen keine anderen Instrumente –, aber ich war sehr glücklich. Ich habe die Wiederholung geliebt. Die hatte für mich immer was Euphorisches.
JONZON Ich war Schlagzeuger in einer Band. Wir hießen Zatopek und spielten Punk-Funk und irgendwie auch ein bisschen NDW. Wir trugen alle spitze Schuhe und Loden-Janker und hatten sogar einen Plattenvertrag bei Polydor. Ich kann mich noch genau erinnern, wie wir 1983 auf Tour gegangen sind und mir jemand ein Tape mit einem Mitschnitt einer Radiosendung von Frankie Crocker zugesteckt hat, einem DJ aus New York. Das Tape habe ich sehr ausgiebig mit meinem Walkman gehört. Da waren Sachen drauf wie D Train oder Peech Boys. Das war schon Proto-House. Der straighte Maschinenbeat, den ich da gehört habe, hat mich fasziniert. Ich merkte, dass man mit einer Drum Machine Sachen programmieren konnte, die man als Schlagzeuger gar nicht spielen konnte. Das Tape war richtig gut gemixt, und ich habe versucht, es zu analysieren: Wie viele Platten laufen gerade gleichzeitig? Wo hört das eine Stück auf, und wo fängt das nächste an? Welche Elemente gehören zu welcher Platte? Wann kommt was dazu? Wann geht was raus? Ich wusste gar nicht, was man mit zwei Plattenspielern alles machen kann.
STEFAN SCHVANKE Bei mir drehte sich immer alles um Musik. Mein erster Techno-Moment war »Los Ninos Del Parque« von Liaisons Dangereuses. Sequenzen, die vorwärtsgehen, auf einem Vierviertel-Beat. Dieses Rastlose, das ich in mir gespürt habe, musste ich auch in der Musik spüren.
DR. MOTTE Ich war damals richtig süchtig nach allem Neuen. Es gab damals die Radiosendung von Barry Graves auf RIAS2. Da liefen immer Mixe aus New York. Ein DJ, den er gespielt hat, hieß Paco. Und den hat er immer so ganz besonders angesagt: »Jetzt wieder ein Pacoooosssssuper-Mix.« Der hat immer eigene Edits gespielt. Stücke wie »Walking On Sunshine« hat er neu zusammengeschnitten und verlängert. Ich hab dann auch versucht, mit meinen zwei Kassettendecks solche Versionen zu basteln. Mit denen konnte ich irgendwann punktgenau editieren. Aus »Radio Gaga« hab ich dann »Radio Gag« gemacht. Mit der Stopptaste hab ich das »a« weggeschnitten. Ich bin dann durch die Kneipen in Kreuzberg gezogen und hab die Kassetten verkauft.
JONZON Motte war mein Nachbar in der Lübbener Straße in Kreuzberg. Wir haben damals beide Tapes gemacht, mit so bescheuerten Namen wie »Das Güldene Herrentape«. Es gab einen Wettbewerb zwischen uns, auf wessen Tape die Leute mehr tanzen. Ich hab meine Tapes mit bescheidenen Mitteln zusammengebastelt – mit einem Plattenspieler und einem Kassettenrekorder. Mit der Pausetaste konnte man Stücke aneinandercutten. Das waren dann fast schon Edits. Man konnte damit auch wie mit einem Sampler Stakkato-Effeke herstellen.
DR. MOTTE Eine Weile habe ich vom Kassettenverkaufen gelebt. Ich hatte immer welche dabei. Musikalisch war das Soul, Funk, Post-Punk. Ich habe nebenher nichts anderes gemacht. Das ging. Meine Wohnung kostete hundertzwanzig Mark. Das Arbeitsamt hat versucht, mir einen Job zu vermitteln, aber ich hab mich immer mit allen möglichen Strategien verweigert.
THOMAS FEHLMANN Mit Palais Schaumburg war ich Anfang der 80er-Jahre zweimal in New York und habe da die aufkeimende Electro-Szene mitbekommen. Ein einschneidendes Erlebnis war, Afrika Bambaataa im Roxy auflegen zu sehen. Ich interessierte mich sehr für Club-Musik, oder Disco, wie es damals genannt wurde. Insbesondere, wenn sich Experimente und Tanzbares trafen. Ich fand die Berührung zwischen Punk und Hip-Hop spannend. Und Disco war für mich und auch die anderen bei Schaumburg kein Schimpfwort. Chic oder Michael Jackson fanden wir alle ohne Einschränkungen toll.
DER WÜRFLER Durch Disco rückte schwules Nachtleben zum ersten Mal ein bisschen in den Fokus des Mainstreams. Dass Schwule und Heteros gemeinsam feierten, war ja total untypisch. Ende der 70er, zur Hochzeit der Disco-Welle, war ich Tänzer. Ich bin sogar im Studio 54 mit Liza Minelli, Diana Ross und Gloria Gaynor aufgetreten. In der Zeit hab ich auch angefangen, in Läden wie dem Dschungel, dem Metropol oder dem Cha Cha aufzulegen. Das Metropol sollte das Studio 54 Berlins sein, da gab es riesige Spiegelkugeln, die hatten so zwei Meter Durchmesser. Und diese Kugeln wurden von Lasern beschossen, das sah damals noch aus wie bei Star Wars. Als ob Neonröhren durch die Luft fliegen würden. Über der Tanzfläche vorne hing ein Ufo, aus dem Seifenblasen und Glitzer rauskamen.
WESTBAM Das Metropol war als schwuler Laden bekannt, es waren aber nicht nur Schwule da. Man kann es mit dem Urchristentum vergleichen. Da gab es den jüdischen Tempel, der war in der Mitte, und außen durften auch die Griechen rumlaufen, die sich da anschließen mochten. Im Metropol waren in der Ecke die Schwulen. So richtig hardcore mit Leder und Ketten. Vorne waren die schrägen Berliner Vorstadtkids. Die waren sich vielleicht noch nicht sicher, ob sie schwul waren. Oder die fanden das einfach toll. So wie ich, als ich mit siebzehn Jahren zum ersten Mal da reinkam und im Hawaiihemd zwischen diesen Kettentypen stand. Es roch nach Poppers, der neue Beat kam rein, und alle schrien rum. Die Energie, die Subkultur, das Hardcore-Ding, das Martialische – das war krass.
DER WÜRFLER 1984 war die Disco-Ära des Metropol eigentlich schon vorbei. Stattdessen lief Hi-NRG, eine Musik, die ganz direkt vor allem schwule Männer angesprochen hat. Parallel war das auch die Zeit von New Wave und New Romantic. Der Laden war gemischt, was die sexuelle Orientierung anging. Man konnte anziehen, was man wollte, und man konnte sich auch mal schminken.
STEFAN...