Kapitel 1 Ein junger Mann aus der Provinz
1821–1830
Rue St. Jacques, ein paar Treppen hoch. Balzac und Berlioz gehen in die Oper. Paris stinkt. Charles X. hört Rossini und wird verjagt. Eine Liebe wird zur «Symphonie fantastique».
«Da, das ist für dich», ruft er, das Schulterblatt seines Objekts in der Hand. Die Kommilitonen lachen, als der zierliche, kaum achtzehn Jahre alte Kerl mit den ungebändigten Haaren die scapula, den flachen Knochen, vor die Pfoten der dicken Ratte schleudert, die neben einem der Gewölbepfeiler hockt und hungrig auf das Gemetzel im Anatomiesaal starrt. Spatzenschwärme schwirren aus und ein durch die großen Fenster, geöffnet trotz der Winterkälte, weil sonst der Gestank nicht zu ertragen wäre. «Jouissez du destin propice … Erfreut euch an des Schicksals Güte», singt Berlioz nun mit seinem schönen Bariton und macht sich beiläufig daran, den Schädel aufzusägen. «Bleib doch bei der Sache!», schreit ihn Alphonse an, sein zwei Jahre älterer Cousin, «wir schaffen ja nichts! In drei Tagen wird unser Objekt verwest sein, es kostet achtzehn Francs! Wir müssen doch vernünftig sein!» Aber er will nicht vernünftig sein, er kann nicht. In blutigem Schlamm stehend, im befleckten Leinenkittel, sieht er die Bühne vor sich. «Oh Gottheit, die nach Blute dürstet!» Er singt mit Inbrunst die Hymne an die Rache aus der wunderbaren Oper, die er vor wenigen Tagen hörte, der ersten Oper seines Lebens. Die «Danaiden» des Antonio Salieri, ein schon dreißig Jahre altes Meisterwerk. Welch unfassbarer Glanz, welcher Rausch der Schönheit in diesem neuen Opernhaus! Das hat ihn gestärkt. Er will durchhalten, für seinen Vater, der ihn Medizin studieren lässt, und für die Musik. Er hat sich zurückgewagt in dieses Menschenschlachthaus westlich des Jardin du Roi, aus dem er beim ersten Besuch entsetzt durch das offene Fenster floh. Am Boden benagen Ratten die Reste der Unglücklichen, an denen man hier die Anatomie studiert, mit dem aufgeklappten Lehrbuch von Xavier Bichat daneben, der «Anatomie générale» von 1802, nach 20 Jahren noch ein Standardwerk. Ist das zu ertragen, wenn man außerdem Partituren von Salieri und Gluck studiert und für dreieinhalb Francs im Opernparkett sitzt? Mitten in dieser Stadt Paris, in deren Mauern sich 750000 Menschen drängen und täglich mehr?
Bis in die letzten Oktobertage des Jahres 1821 ist Louis Hector Berlioz ein junger Mann in der Provinz gewesen, in La Côte-Saint-André, einem Städtchen von 3500 Einwohnern, zwischen Lyon und Grenoble und sanften Anhöhen gelegen, von denen aus man bei klarem Wetter im Nordosten den Mont Blanc erkennen kann. Zu den Landbesitzern und Honoratioren zählt sein Vater, der Arzt Louis Berlioz; man bewohnt ein stattliches Haus, man erntet Wein, man blickt stolz auf die Vorfahren. Er ist streng, dieser Vater, mit seinen 47 Jahren, fleißig, stolz, pflichtbewusst. Er hat Hector selbst unterrichtet, den Erstgeborenen, der ihm im Beruf folgen soll. Dann ist da die Mutter, Marie-Antoinette-Josephine, gerade 37 Jahre alt geworden, mit dem einjährigen Jüngsten auf dem Arm, Prosper. Und zwei Schwestern hat Hector, Anne Marguerite, Nanci genannt, fünfzehn, und Adèle, sieben Jahre alt, geboren in dem Jahr, als eine andere Schwester mit sieben Jahren starb. Ein weiterer Sohn wurde nur drei Jahre alt. Hector, «der Widerstehende», ist der Hoffnungsträger.
Seine Begabung ist spät zum Vorschein gekommen, zuerst gefiel sie dem Vater. Mit elf, zwölf Jahren findet Hector in einer Schublade ein Flageolett, eine französische Blockflöte, und versucht sich daran. Dr. Berlioz lehrt ihn die Griffe, nach zwei Tagen beherrscht der Sohn das Volkslied «Marlborough s’en va t’en guerre». Nun lernt er das Notenlesen, er bekommt auch die Querflöte des Vaters und die Flötenschule von Devienne, aus der schon der junge Louis Berlioz lernte. Ein Jahr später, im Frühjahr 1817, wird ein Orchestermusiker aus Lyon in das Städtchen verpflichtet. Er soll zwölf Schüler unterrichten und die heruntergekommene Kapelle der Nationalgarde auf Vordermann bringen – mit rund 20 Bläsern und Trommlern das größte Ensemble, das der Junge bis auf weiteres erlebt, vom katholischen Kirchenchor abgesehen. Ab und zu trifft sich der Musiklehrer mit Dilettanten zum Streichquartett, man spielt Pleyel. Die «große Literatur» beschränkt sich auf ein paar Arien aus Glucks «Orphée», mit Gitarrenbegleitung, die Hector im Regal des Vaters findet. Für den genügt so viel Musik, sie ziert den Gebildeten, und ihre Großen sind wie alle anderen sicher aufgehoben in den 18 Bänden der «Biographie universelle ancienne et moderne» des Joseph Michaud, zu deren Subskribenten der Doktor zählt. Kann er ahnen, dass Hector den Artikel über Gluck liest wie einen Ruf in die Welt?
Seine enorme Phantasie spürt in der Musik eine Freiheit, die der Blick auf nahe und ferne Berge nicht gewährt, er spürt seine Begabung wie eine Naturgewalt, einen Liebesschmerz, er folgt ihr in großen Schritten. Mit fünfzehn komponiert er ein Pot-pourri für Flöte, Horn, vier Streicher, eine Besetzung, die er im Städtchen zusammenbekommt. Man lobt das Ergebnis, und da sendet er schon einen Brief an Ignaz Pleyel, den Komponisten, Klavierfabrikanten, Musikverleger in Paris: «Ich möchte Sie bitten, auf Ihre Rechnung ein Pot-pourri concertant zu drucken, aus ausgewählten Stücken komponiert … Bitte lassen Sie mich wissen, wieviele Exemplare Sie mir zur Verfügung stellen können …» Von dem Brief weiß sein Vater nichts. Vom Eifer des Sohns so beunruhigt wie gerührt, gewährt er zusätzlich Gitarrenunterricht (ein Klavier gibt es im Städtchen nicht) und versucht, ihn mit sanfter Erpressung zur Medizin zu bringen: «Wenn du mir versprechen willst, dich ernsthaft mit der Knochenlehre zu beschäftigen, werde ich dir in Lyon eine wunderbare Flöte mit all den neuartigen Klappen besorgen.» Das tut er tatsächlich, das Instrument aus Ebenholz mit acht Silberklappen ist im Haushaltsbuch verzeichnet. Und tatsächlich willigt Hector ein. Ende Oktober 1821 begeben er und sein Cousin Alphonse Robert sich auf die Reise zum Medizinstudium in Paris.
Von La Côte-Saint-André bis zur Poststation La Frette sind es drei Kilometer, und von dort brauchen sie ganze acht Stunden für die 50 Kilometer bis Lyon, gleichsam auf Napoléons Spuren. In La Frette standen vor gut sechs Jahren die Leute aus der Dauphiné Spalier für den alten, neuen Helden, über die Alpen zurückgekehrt aus Elba, auf dem Weg nach Paris, bereit für Waterloo … Nach dem Desaster dieser Schlacht folgte noch im selben Jahr die zweite Verbannung, und auf der Insel St. Helena im Südatlantik ist der legendäre Mann im Mai dieses Jahres gestorben, mit 51 Jahren. Eine seltsame Ermattung liegt nun auf der Welt, nicht nur in Frankreich. Abwarten zwischen Epochen, ein Grau und eine Windstille wie in diesen kalten Herbsttagen. «Eine jener schwer zu bestimmenden Übergangszeiten, in denen es Müdigkeit gibt, dumpfen Lärm, Gemurmel, Schläfrigkeit und Unruhe, und die nichts anderes bedeuten, als dass eine große Nation eine Pause auf ihrem Weg macht», wie Victor Hugo über die Restauration schreibt. Überall in Europa streben Politiker Verhältnisse wie vor der Französischen Revolution an, und in der Mitte des Netzes zupft als klügste aller Spinnen Fürst Metternich an den Fäden. Seit Napoléons finalem Sturz herrscht wieder ein Bourbone über Frankreich, Louis XVIII., überzeugt vom Gottesgnadentum. Mit blutiger Rache an den Gefolgsleuten Napoléons, darunter besten Kräften, hat dieser König seine Regentschaft begonnen, sich dann auf eine liberale Phase eingelassen und sie Anfang 1820 beendet. Ein Gesetz zur Verhaftung von Verdächtigen wird erlassen, die Pressefreiheit eingeschränkt, vermögenden Wahlberechtigten eine Doppelstimme übertragen, die katholische Kirche gestärkt. Das Panthéon, seit 1790 Beinhaus und Ruhmeshalle für Frankreichs größte Geister, wird religiösen Zwecken zugeführt.
Die Diligence ab Lyon wird mit ihren zwölf Passagieren vier Tage und Nächte für die 500 Kilometer nach Paris brauchen. Berlioz hat nichts über diese Fahrt notiert, doch lässt sich mit ihr vieles verbinden, was man von Ort und Zeit weiß, was ihn selbst bewegt auf dieser ersten großen Reise von vielen, die folgen werden bis zu jenem fernen Jahr 1867, als Berlioz dieselbe Strecke in nur noch elf Stunden zurücklegt. Bis dahin werden wir erleben, wie Paris nicht nur zu seiner Schicksalsstadt wird. Wir werden in Revolutionen und Großbaustellen geraten, in Ruinen, Paläste und Absteigen, Musikern begegnen, die sich durchschlagen oder triumphieren, während eine ungeheure Beschleunigung der Technik in der stets wachsenden Stadt ihren Anfang nimmt. Den jungen Rossini werden wir zum Essen begleiten und den alten zum Fotografen, mit Flaubert werden wir Pauline Viardot in ihrer letzten Rolle bewundern und mit Balzac die erste Oper besuchen, die Berlioz sah. Liszt wird vor der Cholera in nächtliche Improvisationen fliehen, Wagner sich in Paris finden und es der Stadt nie verzeihen, Chopin nicht als einziger eine große Liebe gewinnen und verlieren, am Klavier nur scheinbar fern von der Welt. Meyerbeer wird vollendet den riesigen Seismographen mitten in der Hauptstadt Europas beherrschen, die Grand Opéra, deren Besuch für die Mehrheit der Pariser nicht zu bezahlen ist. Alles gerät hinein in die Musik dieses 19. Jahrhunderts, die unser Hören nicht von ungefähr bis heute prägt. Und Offenbach wird all seine Kollegen auf einem Nebengleis überholen, neben dem ein letzter französischer...