2 Wie man den Umgang mit tiefen Gefühlen lernt
Kinder haben ein ebenso breites Spektrum an Emotionen wie wir Erwachsene, sie haben nur noch nicht gelernt, dieses vollkommen zu beherrschen. Zweijährige können sich in einem Moment noch vergnügt ihrem Spiel widmen, nur um im nächsten zutiefst verzweifelt zu sein. Denken Sie nur an Ihr eigenes Leben und an das Wechselbad der Gefühle, das Sie manchmal durchleben – wie einschneidend die letzte Verliebtheit war und wie erschüttert Sie waren, als Sie zuletzt zurückgewiesen wurden. Gefühle begleiten uns das ganze Leben. Sie können uns zerstören und mit aller Macht treffen oder uns wachsen lassen und mit Stolz erfüllen. Der Umgang mit tiefen Gefühlen erfordert sowohl Übung als auch Mut. Über beides verfügen Kinder noch nicht in demselben Maße wie Erwachsene. Sie müssen ihre Gefühle erst noch kennenlernen, und es ist unser Auftrag als Eltern, ihnen dabei zu helfen.
Jäh aufflackernder Wut, verletzenden Zurückweisungen und tiefer Liebe richtig zu begegnen, ist eine große Lebensaufgabe – und ein langwieriger Prozess. Im besten Fall benötigen Menschen die ersten zwei Jahrzehnte ihres Lebens dafür.
Sie als Eltern sollten Ihrem Kind oder Ihren Kindern dabei ein Wegweiser sein. Und dafür ist es von Bedeutung, dass Sie wissen, wozu die Kinder ihrem Alter entsprechend in der Lage sind und wozu nicht. Ich möchte Ihnen zeigen, welch ein Gewinn es ist, sich auf die Gefühle Ihrer Kinder einzustellen und hinter die Fassade dessen zu schauen, was sie tun, und so die Ursache für ihr Verhalten zu verstehen.
Das ist für die Entwicklung Ihres Kindes und die Art, wie zufrieden es später sein Leben führen wird, ganz entscheidend. Erwachsene wie Kinder, die in der Lage sind, das, was sie bewegt, zu verstehen und zu benennen, kommen in der großen weiten Welt besser zurecht, werden besser verstanden und mehr gemocht.
Die zwei Etagen des Gehirns
Zehn Finger, zehn Zehen, all die winzig kleinen Nägel. Als mein Sohn zur Welt kam, war ich ganz verblüfft, wie weit entwickelt er schon wirkte – er war einfach vollkommen. Vielleicht hatte ich mir irgendwie vorgestellt, Kinder wären eher so wie ein Bausatz von Ikea, der erst mit der Zeit die richtige Form bekommt? Aber Kinder sehen recht schnell aus wie kleine, für die Welt bereite Erdenbürger.
Doch das täuscht.
In Wahrheit sind Kinder ganz und gar unvollkommen. Obwohl das menschliche Gehirn hoch entwickelt ist und eine enorme Speicherkapazität hat, ist es in den ersten Jahren verglichen mit dem Gehirn anderer Lebewesen kaum ausgebildet. In meinen Elterngesprächen ziehe ich für gewöhnlich ein Bild heran, um das zu verdeutlichen: Stellen Sie sich vor, das Gehirn wäre bei unserer Geburt ein Haus mit zwei Etagen.
Die Gehirnentwicklung hängt ganz entscheidend davon ab, wie viel Nestwärme Kinder im frühen Kindesalter erfahren. Kinder, die bei Erwachsenen Trost und Geborgenheit finden, entwickeln Gehirnstrukturen, die starke Gefühle besser regulieren können.
Auf den ersten Blick erscheint alles perfekt: Das Erdgeschoss ist frisch geputzt und fertig, die Küche modern und glänzend sauber. Sie verstehen sicher, worauf ich hinauswill? Das Erdgeschoss kann man direkt beziehen. Es steht für unsere lebenswichtigen Funktionen: das autonom arbeitende Herz, die Atmung, alle wichtigen Emotionen, mit denen wir von Beginn an ausgestattet sind, wie Angst und Freude, sowie die Reflexe. In dieser Etage gibt es alles, was man zum Leben braucht.
Im zweiten Stockwerk aber liegt das, was man benötigt, um dieses Leben gut zu führen. Dort oben liegt unsere Fähigkeit, zu reflektieren und etwas zu planen, die Konsequenzen unseres Handelns abschätzen zu können, für moralisches Denken, für das Verstehen von und den Umgang mit Gefühlen, die uns überfallen. Bei den meistens Menschen ist es auch in diesem Oberstübchen sauber und aufgeräumt, aber für kleine Kinder ist es so, als würde die Treppe dorthin gar nicht existieren. Das Geländer ist noch nicht fertig, es fehlen noch ein paar Treppenstufen, dort hochzukommen ist also nahezu ein Ding der Unmöglichkeit. Darüber hinaus herrscht für sie dort oben ein großes Durcheinander: Es ist nicht gestrichen, aus den Rohren tropft es, es fehlt an Mobiliar und es ist auch erst halb fertig tapeziert. Es ist ein langer, zeitraubender Prozess, eine einigermaßen gut funktionierende zweite Etage herzurichten – beziehungsweise ein fertig entwickeltes Gehirn mit einer dauerhaften Verbindung zwischen den Stockwerken.
Allzu leicht vergessen wir, wie groß der Unterschied zwischen den Gehirnen von Kindern und denen Erwachsener ist. Kinder und Jugendliche haben Hirne, die noch in der Entwicklung sind. Sie werden von ihren Gefühlen häufig schier überwältigt, wissen aber nicht wohin damit. Bitten wir kleine Kinder beispielsweise darum, die Folgen zu bedenken, verlangen wir häufig zu viel von ihnen. Wir können ein Kind nicht ins Zimmer zitieren, damit es darüber nachdenkt, was es falsch gemacht hat, und erwarten, dass es mit Worten wiederkommt wie: «Entschuldigung, das war keine Absicht.» Kinder können nicht gut reflektieren und Strategien entwickeln, es mangelt ihnen noch an dem Einsichtsvermögen, weshalb sie das tun, was sie tun – denn all das befindet sich in der zweiten Etage. Sie werden sich jedoch bemühen, dorthin zu gelangen. Doch dafür brauchen die Kinder uns Erwachsene.
Dies als ein moralisches Problem zu sehen, ist der größte Fehler, den diese begehen können. «Er will mich bloß auf die Probe stellen», sagen wir manchmal über ein Kind, oder: «Das macht sie nur, um mich zu ärgern.» Wenn Ihr Kind zum Beispiel immer wieder an den Jalousien zieht, will es Ihnen dadurch nicht irgendeine Reaktion entlocken, sondern es tut das, weil sie interessant aussehen und dabei so ein lustiges Geräusch machen – und ganz ähnlich verhält es sich mit einem knisternden Kaminfeuer, einer glänzenden Weinflasche oder einem blanken Fernsehbildschirm. Weisen Sie ein kleines Kind, das dergleichen tut, zurecht, indem sie es ausschimpfen oder zu hart mit ihm umgehen, lernt das Kind nur eines – dass man sich von Ihnen fernhalten sollte, nicht von den Jalousien.
Man kann ein kleines Kind eben nicht bitten, sich zusammenzureißen oder sich zu benehmen, weil es einfach noch nicht dazu in der Lage ist. Im Alter von sechs, sieben Jahren erst kommt der große Sprung, und das Kind lernt, sich aus der Distanz zu betrachten, und danach schreitet die Entwicklung rasch voran. Bis dahin muss man dem Kind helfen. Es wird sich uns zum Vorbild nehmen und daraus lernen, wie wir uns verhalten, und so nach und nach gut funktionierende Treppen in eine möblierte zweite Etage errichten.
Doch das braucht Zeit. Unser Gehirn ist erst mit etwa Mitte zwanzig voll entwickelt.
Gefühle als Sprachrohr
Lukas, ein Junge von zehn Jahren, kam vor einiger Zeit für eine Weile in meine Praxis. Die Schule hatte in Absprache mit den Eltern dafür gesorgt. Er war ein Typ, den man auf den ersten Blick ins Herz schließt: große wache Augen, ein zaghaftes Lächeln, das ihn bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen er es zeigte, zu Boden blicken ließ. Lukas hatte heftige Wutanfälle, die sich häufig in der Schule gegen Lehrer und Mitschüler richteten – etwas, das ihn gleichermaßen unbeliebt wie gefürchtet machte. Seine stärksten Emotionen zu regulieren ist, wie gesagt, eines der letzten Dinge, die mit der Gehirnreifung einhergehen, und Zehnjährigen wie Lukas fehlt es noch an einem ausgereiften Verständnis für die Konsequenzen – sie machen Sachen, die weniger harmlos sind, als sie dachten, verletzender, als sie wollten. Nicht selten gebrauchen sie Gefühle nur als Vehikel, um Dinge auszudrücken, die sie nicht auf andere Weise sagen können. Lukas äußerte damit: «Ich bin gerade furchtbar ärgerlich, weil mich niemand richtig wahrnimmt, und zu Hause herrscht gerade nur Chaos.» Über anhaltende Phasen wütend zu sein, war die einzige Ausdrucksweise, die er kannte, um zu sagen, dass etwas nicht in Ordnung war.
Es lässt sich einfach behaupten, ein Kind würde mit seiner Wut nur Probleme verursachen und alles kaputtmachen – in Wahrheit aber kommunizieren Kinder, so gut es ihnen möglich ist. Kinder zeigen eine Reaktion, und uns Erwachsenen in ihrem Umfeld fällt die Verantwortung zu, die Erklärung dafür zu finden. Dann hat die Wut einen «Wert», dann bewirkt sie etwas Positives.
Ich glaube darüber hinaus, dass wir an Kinder manchmal zu große Ansprüche stellen. Sie werden selten sagen: «Ich habe mich in der letzten Zeit als Außenseiter gefühlt, weil ich keinen zum Spielen hatte» oder «Nun, da Mama und Papa sich bald scheiden lassen, ist es nicht einfach zu Hause, und ich bin so verzweifelt und fühle mich so unzulänglich, dass es mich wütend macht».
Kinder tun Sachen, die wir nicht möchten, sie beißen kleinere Kinder, quälen andere, stellen Dinge über andere ins Internet, machen ihre Bücher kaputt, vergessen Dinge. Sie benehmen sich schlecht.
Doch wenn wir nur sehen, was sie tun, und nicht danach fragen, wo dieses Verhalten herrührt, dann lassen wir die Kinder im Stich. Gefühle sind nicht grundlos, sie versuchen uns etwas mitzuteilen. Wir Erwachsenen haben die Pflicht, genau hinzuhören, um die Ursache dafür herauszufinden.
Detektivarbeit
Doch wie gelingt es Ihnen, genau hinzuhören und herauszufinden, was sich hinter den tiefen Gefühlen oder dem unverständlichen Verhalten verbirgt? Das ist eine weitreichende Frage, auf die ich schon mal eine kleine...