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E-Book

Der Kreml

Eine neue Geschichte Russlands

AutorCatherine Merridale
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl624 Seiten
ISBN9783104028354
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Eine packende neue Geschichte Russlands - über 500 Jahre Herrschaft und Macht im Kreml, von Iwan dem Schrecklichen bis Wladimir Putin Der Kreml ist das imposante Symbol der russischen Nation. Hier wurden die mächtigen Zaren gekrönt, hier paradierte die glorreiche Rote Armee nach dem Sieg über Deutschland. Im Kreml schlägt das Herz der russischen Macht, hier entscheidet sich Russlands Schicksal. Die bedeutende Historikerin Catherine Merridale erzählt die faszinierende Geschichte des Kreml mit all ihren Intrigen und blutigen Kämpfen um die Macht. Indem sie das verborgene Innere des russischen Staates freilegt, ermöglicht Catherine Merridale uns ein neues Verständnis der bewegten Geschichte Russlands bis in die Gegenwart.

Die renommierte Russlandhistorikerin Catherine Merridale arbeitete bereits für ihre Dissertation über die KP unter Stalin an der Universität Moskau. Sie promovierte 1987 in Cambridge und war anschließend Dozentin am King's College/Cambridge. Ab 1993 war sie Professorin für Geschichte an der Universität Bristol, seit 2004 lehrt sie an der Queen Mary University/London. 2007 erschien bei S. Fischer ihr Buch ?Iwans Krieg. Die Rote Armee 1939-1945?.

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Leseprobe

1 Grundsteine


Es vermittelt das Gefühl eines gerechten Gleichgewichts, die Geschichte einer ikonischen Festung mit einer wirklichen Ikone zu beginnen. Generationen von Künstlern haben im Kreml gearbeitet, womit wir unter zahlreichen potentiellen Bildern wählen können. Viele der besten wurden ursprünglich für die eigenen Kathedralen und Klöster des Kreml gemalt, darunter Werke von Meistern wie Theophanes dem Griechen und seinem brillanten, im 15. Jahrhundert wirkenden Schüler Andrej Rubljow. Unbeschwert, ewig, bindungslos blicken die heiligen Gesichter weiterhin aus einer goldenen Unendlichkeit in unsere frenetische Welt. In der Epoche, in der sie entstanden, gehörte die Zeit noch Gott, und sündige Menschen (jedenfalls solange sie der Botschaft glaubten, die von der Kunst der Ikonenmaler übermittelt wurde) konnten nur dann Erlösung finden, wenn sie ihre wenigen Jahre auf Erden dem Muster des Himmels anpassten. Doch Meditation und Reue waren nie der eigentliche Zweck des Kreml. Ein besseres Sinnbild seiner Gründungsgeschichte, in einem ganz anderen Stil, ist Simon Uschakows Meisterstück von 1668, Pflanzung des Baumes der russischen Herrschaft. Es war und ist ein heiliges Kunstwerk, aber es repräsentiert auch einen historischen Text.

Heutzutage findet die Botschaft der Ikone so viel Widerhall, dass man dem Original einen Ehrenplatz in der Moskauer Tretjakow-Galerie eingeräumt hat. Das Gemälde, obwohl von bescheidener Größe, hat eine ganze Wand für sich, und die sorgfältige Ausleuchtung des Goldes schafft eine Aura besonderer Ehrfurcht. Schon bevor man es anschaut, weiß man, dass es eine Kostbarkeit ist, doch der Aufbau des Bildes erweist sich als Überraschung. Auf den ersten Blick gibt die Ikone einen herkömmlichen Lebensbaum wieder, ein Motiv, das eher an Orientteppiche als an russische Malerei denken lässt.[14] Bei genauerer Betrachtung nimmt man tatsächlich den verästelten Baum wahr, aber die Frucht (oder die Blüte, denn dies ist eine Zauberpflanze) besteht aus Kameen, darunter ein großes Bild der Jungfrau und kleinere mancher herrschender Fürsten, Zaren und heiliger Männer Moskaus. Sie folgen aufeinander und schmücken Äste, die sich zum Himmelstor erheben. Wie im Tretjakow-Führer hilfreich erwähnt wird, ließ sich Uschakow von traditionellen Darstellungen der Genealogie Jesu Christi inspirieren.[15]

Noch interessanter ist das Bild, wenn man sich die Wurzeln des Baumes ansieht, denn hier wird die Vorstellungskraft von konkreten Gebäuden überlagert. Wie ein Rahmen innerhalb eines Rahmens ziehen sich die befestigten Mauern und Türme des Moskauer Kreml am unteren Teil des Gemäldes dahin, und hier findet man auch die historischen Hauptgestalten der Ikone. In einer Ecke – einem Impresario gleich, der eine überaus erfolgreiche Vorführung präsentiert – sieht man den unverkennbaren Alexej Michailowitsch Romanow (16451676), den Zaren zu Uschakows Zeit. Aber im Zentrum von allem befinden sich die beiden Männer, die den Baum gepflanzt haben und sich nun fürsorglich über ihr Werk beugen. Zur Linken, mit einer Art mittelalterlicher Gießkanne in der Hand, steht ein Priester, und gemalte Lettern teilen uns mit, dass wir es mit Peter, dem Oberhaupt der russischen Kirche des frühen 14. Jahrhunderts, zu tun haben. Zur Rechten, zuständig für die Pflanze selbst, sehen wir einen Fürsten, Iwan I., der Moskau 16 Jahre lang – von 1325 bis zu seinem Tod im Jahr 1341 – regierte.

Man benötigt ein paar historische Kenntnisse, um zu verstehen, was Uschakow erklären möchte. Unter anderem ist sein Gemälde ein politisches Manifest im Namen seines Zaren. Wie der Baum, will das Bild verdeutlichen, sind Alexej und seine Erben in der Vergangenheit Moskaus verwurzelt; und wie die frommen Zaren früherer Zeiten – vor allem wie der Gründer im Vordergrund – sind sie Teil einer kontinuierlichen Linie, die Russlands Boden stets gepflegt und entwickelt hat. Dies zu betonen war sinnvoll zu Alexejs Zeit, den er hatte den Thron erst als zweites Mitglied seiner Familie bestiegen. Anfang des 17. Jahrhunderts, während eines langwierigen Bürgerkriegs, hatte sich Russland beinahe aufgelöst. Als der Frieden 1613 schließlich wiederkehrte, hatte ein Bürgerrat das Land nach einem neuen Zaren absuchen müssen. Die Thronbesteigung von Alexejs Vater Michail Romanow war folglich kein so organischer Prozess, wie die Bilder der Ikone andeuten, und der recht verfallene Kreml, den er ererbte, ließ sich nicht mit der makellosen roten Festung auf dem Gemälde vergleichen. Der Pinsel des Künstlers löschte die Erinnerung an Aufruhr und Mord, und Uschakow drängte eine neue Generation zu glauben, dass die Geschichte Moskaus gesegnet sei. Sein Kreml war kein gewöhnlicher Ort, sondern stellte die Verbindung zwischen Russland und dem Himmel her und wurde von der Gottesmutter persönlich beschützt.

Aber die Gründungsszene enthält noch eine weitere Botschaft, und sie wird von der Pflanzung des Baumes übermittelt. Peter, das Oberhaupt der orthodoxen Kirche in Russland, und Iwan I., der gerade ernannte Fürst von Moskau, legten 1326 nämlich den ersten Stein einer neuen Kathedrale. Sie erscheint auf der Ikone als hoch aufragendes Gebäude mit erlesenen goldenen Kuppeln, doch die Detailgenauigkeit ist weniger wichtig als die Symbolik eines Aktes, der den Moment kennzeichnete, in dem Moskau, mit dem Kreml im Kern, seinen Anspruch geltend machte, die religiöse und politische Hauptstadt der russischen Welt zu sein. Damals war der Kreml weder prächtig noch ruhevoll; seine Mauern sahen aus wie ein Flickwerk aus Lehm und Bauholz, und seine Verteidigungsanlagen wurden durch giftige Sumpfflächen ergänzt. Die Welt um ihn herum befand sich im Krieg, und sein Fürst war nicht einmal der unbestrittene Souverän des russischen Volkes. Aber manche Bäume gedeihen auf kargen und sogar ausgetrockneten Böden. Als Uschakow eine Wurzel für seine symbolische Pflanze finden wollte, war es kein Fehler, die Zeremonie von 1326 zu wählen. Ironischerweise hatte sich der Fürst – Iwan I. –, den er malte, zudem seinerseits auf die Historie berufen, als er jenen ersten bedeutungsschweren Stein legte. Die Geschichte des Kreml, wie die von Russland als Ganzem, ist zerstückelt und hat viele ihrer Bestandteile verloren. Doch inmitten der Brände, Revolutionen und Palastrevolten sieht man als einzigen roten Faden die Entschlossenheit aufeinanderfolgender russischer Herrscher, die Geschichte umzuschreiben, damit die Gegenwart, wie immer sie aussehen mag, so tief verwurzelt und organisch zu sein scheint wie Uschakows Baum.

 

Es gibt keine verlässlichen Unterlagen über die Anfänge des Kreml. In den Chroniken, also den wichtigsten schriftlichen Quellen für die Periode, wird 1147 und wiederum 1156 eine Fürstenresidenz in Moskau erwähnt, aber niemand weiß genau, wer als Erster etwas Festungsähnliches auf dem Hügel über den Flüssen Moskwa und Neglinnaja errichtete. Die Daten werden angefochten, obwohl sich die Existenz einer Mauer aus dem 12. Jahrhundert bestätigt hat.[16] In den 1950er Jahren entdeckten Archäologen ihre Überreste in einer Tiefe, die den korrekten Jahrzehnten entspricht, und obwohl die Funde unvollständig sind und durch etliche spätere Bauarbeiten beeinträchtigt wurden, stehen sie im Einklang mit den Details eines höchst imposanten Holz-Erde-Walls. Allein schon die Riesenbalken dürften unverrückbar gewesen sein. Der Bau umfasste eine viel kleinere Fläche als der heutige Kreml, aber er wirkt uneinnehmbar. Der Holzwall war jedoch nicht das einzige Bauwerk auf dem keilförmigen Hügel, wie weitere Ausgrabungen bald deutlich machten. Unter den Wällen, in den tieferen Schichten, ruhen Knochen, Rippen und Gliedmaßen von Schweinen und Rindern, Rückstände von über Jahrhunderte gegessenen Mahlzeiten sowie die Überreste von Pferden und Hunden. Hinzu kommen die Knochen von wilden Pelztieren wie Elchen, Hasen, Bibern und Wildschweinen. Eine Spinnwirtel aus rosa Schiefer, hergestellt von einem Handwerker in Kiew, deutet auf Handelsbeziehungen zum Dneprtal hin, ebenso wie Glasperlen und Metallarmbänder in den kältesten Erdspalten.[17] Noch tiefer schließlich ist nichts als Stille.

Der Hügel, auf dem der Kreml steht, dürfte sich immer gut für eine Festung geeignet haben. Er war leicht zu verteidigen und besaß eine Menge Nutzholz, doch in seinen frühen Jahren war er, selbst nach russischen Maßstäben, sehr entlegen. Während sich in anderen Regionen des Nordens prosperierende Häfen und Märkte entwickelten, versteckte sich dieser Ort im Wald, überwuchert von Dornensträuchern und gehüllt in fauligen Nebel. Das Gewirr aus Eichen und Birken war an allen Seiten so dicht, dass es mühelos eine ganze Armee verschlucken konnte. Genau das soll im Jahr 1176 geschehen sein, als es zwei verfeindeten Fürsten und ihrem Gefolge gelang, aneinander vorbeizuscheppern, da das Dröhnen und Klirren ihrer Tiere vom Blättergespinst erstickt wurde.[18] Es war leichter, sich an den Flüssen zu orientieren, aber auch sie konnten trügerisch sein, und die hiesigen Jäger schlugen häufig eine Schneise durch die trockeneren Teile des Waldes, wenn sie sich auf die Suche nach Elchen und Wildschweinen machten. Wichtige Routen konnte man eine Zeit lang offen halten, indem man sie mit Baumstämmen bedeckte – eine uralte Technik, die noch tausend Jahre später in...

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