1. Kapitel Das Ziehkind des Bodhisattva
Das in der südchinesischen Provinz Hunan, im Bezirk Xiangtan gelegene Dorf Shaoshanchong drückt sich in ein enges Tal, umgeben von Bergen mit immergrünen Bäumen und Reisfeldern, darüber der blaue Himmel. In der Ferne erkennt man den Shaoshan-Berg, der dem Dorf seinen Namen gibt und bei Buddhisten besondere Verehrung genießt. Von Changsha, der Provinzhauptstadt, führt eine Eisenbahnstrecke in die nächstgelegene Stadt, die gleichfalls Shaoshan heißt. Der Regionalzug braucht etwa drei Stunden für die gut hundertfünfzig Kilometer. Auf dem großen Platz vor dem Bahnhof warten aufgereihte Busse auf Besucher. »Geburtsort des Vorsitzenden Mao, Geburtsort des Vorsitzenden Mao«, ruft der Fahrer. Nach einer halbstündigen holprigen Fahrt erreicht man eine Dorfstraße, die vorbei an überfluteten Reisfeldern und Teichen voller Lotusblumen zu einem großen Lehmziegelhaus mit dreizehn Zimmern und angegliedertem Museum führt. Zur Linken und zur Rechten stehen gleichartige oder etwas kleinere Bauernhäuser ähnlicher Prägung. Die Atmosphäre ist die einer typischen Landgemeinde. Ein kleines Dorf wie so viele andere in Hunan, aber ausgezeichnet durch den Status, Geburtsort eines Mannes zu sein, der die Geschichte seines Landes änderte und dessen Einfluss auch lange nach seinem Tod noch in aller Welt zu spüren ist.
Viele Bewohner des Dorfes in diesem Tal trugen den Familiennamen Mao. Denn dort hatte ihr Clan sich niedergelassen. Alle Träger des Namens Mao führten ihre Abstammung auf den kühnen Krieger Mao Taihua zurück, der aus der Nachbarprovinz Jiangxi stammte und seine Heimat Mitte des 14. Jahrhunderts verlassen hatte, um sich am Feldzug der kaiserlichen Armee in der Provinz Yunnan gegen die Mongolen zu beteiligen, die China seit den 1270er Jahren beherrschten. Die Hauptstreitmacht der Mongolen wurde von der Rebellenarmee des Mönchs Zhu Yuanzhang geschlagen, der sich 1368 selbst zum Kaiser einer neuen chinesischen Dynastie, der Ming, erklärte. Dort, im fernen Yunnan, heiratete Mao Taihua ein einheimisches Mädchen und ging 1380 mit ihr und den gemeinsamen Kindern nach Huguang (heute Hunan), wo sie sich im Bezirk Xiangxiang südlich von Xiangtan niederließen. Etwa zehn Jahre später zogen zwei seiner Söhne weiter nordwärts in die Provinz Xiangtan und machten Shaoshanchong zu ihrer Heimat. Sie waren die Vorfahren des Mao-Clans in Shaoshan.[8]
Der zukünftige Oberste Führer Chinas wurde in eine dieser Familien hineingeboren, in die von Mao Yichang, und zwar – nach dem Mondkalender – am neunzehnten Tag des elften Monats des Jahres der Schlange. Nach der offiziellen dynastischen Zeitrechnung war es das neunzehnte Jahr der Regierung Kaiser Guangxus aus der Qing(Mandschu)-Dynastie, die seit 1644 in China herrschte. Die Guangxu-Zeit (Guangxu bedeutet: strahlender Anfang) hatte 1875 begonnen, ausgerufen im Namen des damals vierjährigen Kaisers Zaitian, von seiner Tante mütterlicherseits, der Kaiserinwitwe Ci Xi. Nach dem westlichen Kalender fiel die Geburt des Sohnes, in jeder chinesischen Familie ein freudiges Ereignis, auf den 26. Dezember 1893.
Maos Vater konnte sein Glück kaum fassen, aber seine Mutter machte sich Sorgen. Das Kind war sehr groß, und sie hatte Angst, sie könne es vielleicht nicht ausreichend mit Milch versorgen. Sie hatte bereits zwei Söhne geboren, die im Säuglingsalter gestorben waren. Sie packte den Säugling in Windeln und machte sich auf den Weg zu einer buddhistischen Nonne, die in den Bergen lebte. Mit Tränen in den Augen bat sie die Nonne, sich um das Kind zu kümmern. Aber die lehnte ab. Das Kind sehe sehr gesund aus, und es gebe keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Die Einsiedlerin riet der verstörten Mutter, das Kind zu behalten und für sein Wohlbefinden zu beten. Die Mutter nahm ihr Kind und eilte zu dem in einem Nachbarbezirk gelegenen Haus ihres Vaters. Dort hielt sie vor einem kleinen Tempel, der auf einem vier Meter hohen Felsen errichtet und dem Bodhisattva Guan Yin, der Göttin des Mitgefühls, gewidmet war. Körperlich und emotional erschöpft warf sie sich dort nieder und betete, die Göttin möge bereit sein, die Ziehmutter ihres Sohnes zu werden.[9]
Gemäß der Tradition informierte man die Eltern der Kindsmutter rasch über die Geburt eines Jungen, indem man ihnen einen Hahn zukommen ließ. Wäre es ein Mädchen gewesen, hätten sie eine Henne erhalten.
Den Chinesen galten die im Mutterleib verbrachten neun Monate als das erste Lebensjahr eines Kindes, und so war es bei der Geburt in ihren Augen ein Jahr alt. Nach einem alten Ritual musste das Neugeborene in Tücher gewickelt werden, die man aus alten Hosen des Vaters genäht hatte. Weitere alte Hosen hängte man über die Wiege, weil man glaubte, sie absorbierten jegliche Art von Ansteckung. Der Säugling wurde erst am dritten Tag gebadet, in Anwesenheit von Gästen, die ihn nun zum ersten Mal sehen durften. Am Tag des ersten Badens brachte der Vater den Geistern der Ahnen Opfer dar und gab in das heiße Badewasser eine Zwiebel und eine Ingwerknolle, die Verstand und Gesundheit symbolisierten. Die Mutter nahm das Kind auf und reichte es der Hebamme, die bei der Geburt geholfen hatte. Die Hebamme hielt die Zwiebel an den Kopf des Säuglings und begann mit singender Stimme: »Erstens, sei klug, zweitens, sei weise, drittens, sei schlau!« Anschließend drückte sie ein Schloss oder einen Riegel auf Mund, Arme und Beine des Kindes und sagte: »Sei ruhig!« Man stellte eine Waage auf die Brust des Säuglings, damit er viel wiege, und hielt ihm gekochte Eier an die Wangen, die ihm Glück bringen sollten. Um sein Handgelenk band man eine rote Schnur, an der Silbermünzen hingen. Nach einem Monat wurde der Kopf des Säuglings geschoren, nur an den Schläfen und im Nacken ließ man einige Locken stehen – ein wichtiges Ereignis, bei dem das Kind seinen Namen erhielt. Erneut kamen Gäste zusammen und brachten als Geschenke Geld, Schweinefleisch, Fisch, Obst und verzierte Eier mit.
1) Mao Zedongs Vater Mao Yichang.
Seit unvordenklichen Zeiten griffen Eltern bei der Wahl des Namens für ihre Kinder auf die Hilfe daoistischer Wahrsager zurück. Wie es der Tradition entsprach, konsultierte Mao Yichang den einheimischen Geomanten, der ihn auf die Notwendigkeit hinwies, dass der Name seines Sohnes das Zeichen für »Wasser« enthalten müsse, weil es in dessen Horoskop fehle.[10] Die Wünsche des Geomanten passten gut zu den Anforderungen, die der Clan im Blick auf die Ahnentafel stellte. Jeder Generation wurden bestimmte Schriftzeichen zugewiesen, die in den Namen aller männlichen Mitglieder dieser Generation Verwendung finden mussten. Die Namen konnten ganz verschieden sein, aber alle mussten die gemeinsamen Schriftzeichen enthalten, in denen die Zugehörigkeit zu der betreffenden Generation zum Ausdruck kam. In der Generation, der Yichangs neugeborener Sohn angehörte (der zwanzigsten Generation des Mao-Clans), war dieses Erkennungsmerkmal das Schriftzeichen ze, in dessen linkem Teil sich die drei Striche für das Element »Wasser« finden. Das Schriftzeichen ze hatte zwei Bedeutungen: Es stand für Feuchtigkeit und Befeuchten wie auch für Freundlichkeit, Güte und Mildtätigkeit. Als zweites Schriftzeichen für den Namen seines Sohnes wählte Mao Yichang das Zeichen dong, das für »Osten« steht. Der Name Zedong war ungewöhnlich schön, bedeutete er doch »Wohltäter des Ostens«. Zugleich erhielt das Kind gleichfalls gemäß der Tradition einen zweiten, inoffiziellen Namen, der nur bei besonderen zeremoniellen Anlässen verwendet wurde: Runzhi, das heißt »Taufrische Orchidee«. Maos Mutter gab ihm noch einen weiteren Namen, shi, »Stein«, der ihn vor jeglichem Unglück schützen und auf seine Verwandtschaft mit dem Bodhisattva hindeuten sollte. Da Mao der dritte Sohn der Familie war, nannte seine Mutter ihn shisanyazi, das heißt wörtlich »Drittes Kind namens Stein«.
2) Mao Zedongs Mutter Wen Qimei.
Mao Zedong wurde in einen kleinen Haushalt hineingeboren. Außer seinem Vater und seiner Mutter lebte noch sein Großvater väterlicherseits darin. (Mao Zedongs Großmutter väterlicherseits, die den Namen Liu trug, war neun Jahre vor seiner Geburt am 20. Mai 1884 mit siebenunddreißig Jahren gestorben.) Die Familie bewohnte nur eine Hälfte des Hauses, die östliche Hälfte oder den linken Flügel. In der anderen Hälfte lebten Nachbarn. Vor dem Haus lagen Reisfelder und ein Teich, dahinter Kiefern- und Bambushaine. Fast alle in dem gut sechshundert Haushalte umfassenden Dorf waren arm. Die harte und erschöpfende Arbeit auf den winzigen Bodenparzellen brachte nur wenig Ertrag.
Mao Zedongs Großvater väterlicherseits, Mao Enpu, war sein Leben lang arm gewesen und hatte seinem Sohn nur Schulden hinterlassen. Mao Zedongs Vater, Mao Yichang, konnte sich jedoch aus der Armut herauskämpfen. Yichang wurde am 15. Oktober 1870 als einziges Kind der Familie geboren. Im Alter von zehn Jahren wurde er mit einem dreieinhalb Jahre älteren Mädchen namens Wen Qimei verlobt. Fünf Jahre später heirateten sie. Kurz danach wurde Yichang wegen der Schulden seines Vaters in die örtliche Xiang-Armee eingezogen (Xiang, der traditionelle Name Hunans, wurde nach dem Xiang-Fluss benannt, der durch diese Provinz fließt.) Als Mao...