Einleitung
Alle Systeme, die von Menschen für das Leben auf dieser Welt entwickelt wurden, erwiesen sich nun als trügerisch, zerstörerisch, hoffnungslos veraltet oder gefährdet.
Die britische Gewinnerin des Booker Prize Penelope Fitzgerald erinnert sich, was sie als 22-Jährige zu Weihnachten 1938 dachte.
Ich zittere um mein Glück, um die Zukunft meines Vaterlands, um Leben, Freiheit, Gesundheit, Arbeit – um alles bangt mir in diesen Minuten.
Erich Ebermayer, erfolgreicher Drehbuchschreiber und Theaterautor der NS-Zeit, schreibt Ende 1938 in sein Tagebuch, was er wirklich denkt.
In dem entscheidenden Jahr zwischen Herbst 1938 und Herbst 1939 schlitterten die Völker Europas von der Friedensverheißung in den totalen Krieg. Der Titel dieses Buches Der Krieg, den keiner wollte lässt anklingen, dass es beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nicht die Begeisterung gab, die es ein Vierteljahrhundert zuvor beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs gegeben hatte. Hitler hatte zunächst wohl gehofft, den Konflikt begrenzen zu können. Womöglich wollte nicht einmal er selbst den Krieg, den er bekam.
Hier liegt das Problem: Zwar wollten viele Briten und Deutsche keinen Krieg, doch es ist historisch erwiesen, dass die Bevölkerung in beiden Ländern ihn letztlich tolerierte und wenn nicht mit Begeisterung, so doch mit grimmiger Entschlossenheit daran teilnahm. Dies gilt insbesondere für die große Mehrheit der Deutschen. Noch im September 1938 hatte es den meisten zutiefst widerstrebt, wegen des Sudetenlands in den Krieg zu ziehen, aber ein knappes Jahr später ließen sie sich überzeugen, dass ein Krieg mit Polen legitim und notwendig sei. Die vom NS-Regime damals organisierte Propagandakampagne ist ein erschreckendes Beispiel dafür, wie eine Regierung, die die totale Kontrolle über die Informationsquellen ausübt, das Volk ihrem Willen unterwerfen kann.
WIE GESCHAH DAS ALLES? Die diplomatischen und politischen Ereignisse des Jahres 1938/39 und die Rollen, die die beteiligten Eliten dabei spielten, sind inzwischen oft beschrieben und analysiert worden. Wie aber war es, in dieser Zeit der Spannungen, der Furcht, der Unsicherheit und schließlich der Katastrophe als ganz normaler Bürger in Großbritannien oder Deutschland zu leben? Was geschah Tag für Tag fernab der diplomatischen Salons, der Konferenzen und Kabinettsitzungen? Der Wunsch, tieferen Einblick in die Welt und in die Gemütslage der Durchschnittsbürger zu gewinnen, hat mich bewogen, dieses Buch zu schreiben.
Schon als ich für meine Bücher über die Bombardierung Dresdens, den Bau der Berliner Mauer und den Luftangriff auf Coventry recherchierte, die alle von zwischenmenschlichen Krisen handeln, habe ich versucht, die schrecklichen Ereignisse jener Zeit aus der Perspektive »von unten« zu betrachten. Der Krieg, den keiner wollte steht in dieser Tradition. Um ein lebendiges, ein aussagekräftiges Bild von den Menschen, die in jenem schicksalhaften Jahr lebten, zeichnen zu können, musste ich jedoch im Vergleich zu der Arbeit an den früheren Büchern intensiver und viel breiter gestreut nach Quellen suchen, die den Blick auf die Vergangenheit, auf den Alltag freigeben und die Gefühle der Menschen einfangen.
Wer sich als Historiker heute, achtzig Jahre nach den Ereignissen, mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs befasst, operiert im Grenzbereich der menschlichen Erinnerung. Als ich vor beinahe zwanzig Jahren erstmals in dieser Art über Geschichte schrieb, gab es noch relativ viele Menschen, die als Soldaten am Zweiten Weltkrieg teilgenommen oder ihn als Erwachsene erlebt hatten. Heute dagegen leben fast nur noch Zeugen, die in jener Zeit Kinder waren – ein Umstand, der erheblichen Einfluss auf ihre Erinnerungen hat. So habe ich in Großbritannien wie in Deutschland viele Menschen interviewt, die in ihrem neunten Lebensjahrzehnt standen, wobei die älteste Befragte 96 Jahre alt war. An der Erinnerungsfähigkeit dieser Zeitzeugen war nichts auszusetzen. Doch ihre Erinnerungen sind die von Kindern, die von den größeren, bedrohlicheren Ereignissen außerhalb ihrer Familien nichts wussten oder vor deren Wahrnehmung geschützt wurden. Sie alle waren faszinierende und oft amüsante Gesprächspartner, doch ihre Sicht der Dinge war in den meisten Fällen begrenzt. Insbesondere eine Tatsache hatte ich intuitiv vermutet und fand sie durch die Begegnungen eindeutig bestätigt, nämlich dass der Frieden, so erstrebenswert er ist, weniger Spuren in der Erinnerung hinterlässt als der Krieg. Der Frieden wird eher mono als stereo wahrgenommen, eher schwarzweiß als farbig, wenigstens was die Tiefe der Erinnerung betrifft. Ein Kind erinnert sich nicht an die Nachrichten über die Münchner Konferenz, aber sehr wohl an einen Bombenangriff. Diese Regel wird Gott sei Dank durch einige hochinteressante Ausnahmen bestätigt, wie die Leser erkennen werden, und diese Ausnahmen sind jede Mühe wert.
Über den Alltag in der Zeit unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg herrscht kein Mangel an Quellen. In Großbritannien gibt es etwa das Archiv der Sozialforschungsorganisation Mass-Observation mit kostbaren Tagebüchern Hunderter »normaler« Zivilisten verschiedenen Alters und verschiedener Herkunft. Ein Teil dieses Materials hat direkten Bezug zu den Krisen der damaligen Zeit, ein Großteil nicht, doch dieser Teil ist für dieses Buch ebenso wertvoll und informativ. Die vielen Tagebücher und Zeitungen (insbesondere Boulevardblätter wie der Daily Mirror und der Daily Express) bieten lebendige und oft überraschend unmittelbare Einsichten in den Alltag der britischen Bevölkerung sowie in ihre Ängste, Hoffnungen und Vorurteile während des hier behandelten Zeitraums. Der Presse kann man manch faszinierendes, skurriles, zuweilen auch beunruhigendes Detail entnehmen, wenn man bereit ist, die notwendigen Stunden für die Suche auf den Innenseiten der Zeitungen aufzuwenden. Darüber hinaus verwahrt das Imperial War Museum in London einen erstaunlichen – auch online zugänglichen – Schatz an Interviewaufnahmen, die oft schon vor zwanzig, dreißig oder noch mehr Jahren entstanden sind. Und nicht zuletzt stehen viele unveröffentlichte Tagebücher und Memoiren zur Verfügung.
In Deutschland gab es keine Einrichtung, die der Mass-Observation vergleichbar wäre, es sei denn, man betrachtet den Überwachungsapparat des nationalsozialistischen Polizeistaats als eine solche, weil dieser sowohl über die Ansichten, Beschwerden und Ängste der Deutschen als auch über die Vorgänge in den großen und kleinen Städten des Reichs Informationen zusammentrug und oft eine erstaunliche Bereitschaft zeigte, auch Unangenehmes in die Berichte aufzunehmen. Der Sicherheitsdienst der SS, die Gestapo und die lokalen Parteiorganisationen sammelten allesamt Berichte über die öffentliche Meinung; ich habe einen Blick in das archivierte Material geworfen und auf veröffentlichte Sammlungen solcher Dokumente zurückgegriffen. Auch die deutsche Presse dieser Zeit lieferte trotz der allgegenwärtigen rigorosen Kontrolle des Regimes zuweilen unabsichtlich Überraschendes nicht nur hinsichtlich der Ängste von Durchschnittsbürgern im Dritten Reich, sondern auch der Ängste von Männern, die bestimmten, was ihre Landsleute hören, lesen und denken sollten (man kann hier problemlos Männer schreiben, weil die NS-Herrschaft ausschließlich von Männern ausgeübt wurde). Liest man zum Beispiel, was die Pommersche Zeitung in Stettin über die Schrecken des Pogroms im November 1938 berichtete, so erhält man ein im Vergleich zur gängigen Geschichtsschreibung intensiveres und erschreckenderes Bild, weil das Ereignis an diesem einen Ort geschildert wird und man wie durch eine Lupe sieht, wie derartige Vorgänge eine ganz gewöhnliche Kleinstadt veränderten. Den Berichten ist zu entnehmen, dass in der Nacht, als die Stettiner Synagoge in Flammen aufging, um sie herum das Leben in den gut besuchten Restaurants, Bars und Nachtclubs, Theatern und glitzernden Filmpalästen pulsierte wie in jeder anderen Nacht. Schließlich konnte ich auch relevante Tagebücher und Memoiren einsehen, die sich in dem bemerkenswerten Deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen bei Freiburg befinden. Viele dieser Dokumente belegen, in welchem Ausmaß »normale« Menschen, ganz gleich wie sehr sie sich den Frieden auch wünschten, das NS-Regime mit seinen ständigen Anforderungen akzeptierten und mit ihm lebten – oder das Regime sogar leidenschaftlich begrüßten. Andere – darunter insbesondere die publizierten Tagebücher und Memoiren von Ruth Andreas-Friedrich und Erich Ebermayer – liefern kostbare Einblicke in die privaten Welten, die in dem monolithischen totalitären System irgendwie überdauerten.
VERMUTLICH IST DIES ein anderes Buch geworden, als ich es noch vor wenigen Jahren geschrieben hätte. Vor den katastrophalen wirtschaftlichen und politischen Ereignissen der Jahre 2008 und 2009 wiegten wir uns in dem Glauben, dass wir die brutale und unberechenbare Welt der 1930er Jahre hinter uns gelassen hatten. Doch wie die Wirtschaftskrise der Jahre 1929 bis 1931 die Dämonen heraufbeschwor, die in diesem Buch beschrieben werden, so wirken sich auch die wirtschaftlichen und sozialen Probleme unserer Zeit verheerend aus: Eine extreme staatliche und private Verschuldung, eine Globalisierung, die mit Arbeitslosigkeit und niedrigeren Löhnen für viele sowie hohen Gewinnen für wenige einhergeht, und die unkontrollierte Migration großer Bevölkerungsgruppen wirken in Europa, Amerika und Teilen Asiens ähnlich destabilisierend und demoralisierend wie die Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren. Zugleich...