Im Schatten der Klostertürme
Ich bin am 17.2.1927 an der Bahnhofstrasse in St. Gallen geboren, da wo die Eisenbahn zum Bodensee im schwarzen Tunnel verschwindet, zehn Gehminuten entfernt von der Kathedrale mit ihren einprägsamen hochaufragenden Türmen. Diese Stadt hat einen grossen Teil meines Lebens beeinflusst und sie stellt eine jahrtausendalte Tradition dar von alemannischem Heidentum, irischem Mönchtum und benediktinischer Klosterkultur.
Mein Geburtshaus war das Café Thoma, Geschäft meines Grossvaters mütterlicherseits, dem ich doch einige Zeilen widmen will. The- odor Thoma war ein Lebenskünstler. Als Bauernbub von Mörschwil machte er in St. Gallen eine Konditorlehre und führte erfolgreich die Kaffeehalle an der Schützengasse. Bald hatte er so viel Geld erwirtschaftet, dass er sich mit 40 Jahren zurückziehen und am Bodensee eine Villa kaufen konnte. Da verbrachte er mit seiner Familie die Jahre des Ersten Weltkrieges, in deren Verlauf er spürte, dass das gesparte Geld nicht reichen dürfte. So machte er an der Bahnhofstrasse in St. Gallen eine neue Kaffeehalle auf, die nach einigen Jahren so viel Geld eingebracht hatte, dass er sie wieder verkaufen konnte.
Zum Erfolg hatte die Grossmutter wesentlich beigetragen, eine geborene Geschäftsfrau, die zu den währschaften Zwanzgerstückli (Crèmeschnitten und Mohrenköpfen) den Rekruten erst noch Rabatt gab. Neben dem Geschäft pflegte Grossvater mit seinem Freund Becker ein seltenes Hobby: Sie gehörten zu den ersten Autokäufern der Schweiz, die die staubigen Strassen unsicher machten. Sie wussten aber ihre Automobile nicht nur zu chauffieren, sondern auch zu unterhalten. Jedes Jahr nahmen sie diese Monstren Stück für Stück auseinander und setzten sie wieder kunstgerecht zusammen.
Nach dem Verkauf des Café Thoma begann für meinen Grossvater endgültig das Privatier sein, aber nicht mit einer definitiven Bleibe. Im Rhythmus von 5-10 Jahren wurde jeweils die Residenz gewechselt. Der Grossvater suchte sich die besten Bauplätze aus und baute. Den Winter verbrachte die Familie jeweils an der Riviera. Etwas muss ich von seinen Genen mitgekriegt haben, denn ich habe die Residenz in meinem Leben auch schon mehr als zehnmal gewechselt, allerdings nur einmal als Bauherr.
In St. Gallen lebt noch einen Hauch internationaler Grösse durch seine klösterliche Vergangenheit. Persönlichkeiten wie Paracelsus haben sie aufgesucht und der Geist des Ortes hat sie gebannt. In meiner Jugend erlebte die Stadt noch Nachwehen des internationalen Handels durch die Stickerei. Im Treppenhaus unter dem Fensterwappen der alten EMPA (Eidgenössische Materialprüfungsanstalt), beziehungsweise dem Sitz einer mit der ganzen Welt (auch Südamerika) im Handel gestandenen Stickereifirma, war Cuba verewigt als Vertretung der seinerzeitigen Lateinamerikakunden. Da spannt sich nun ein zeitlicher Bogen in die letzten Jahre, in denen die EMPA bei einem modernen Projekt in Kolumbien mitgearbeitet hat. Das war die eine Seite der Stadt, die sympathische. Die andere war damals der Örtligeist ohne viel Perspektiven.
Die Umgebung, in der ich aufwuchs, war religiös geprägt. Es war die Epoche der “katholischen Aktion”, die von Pius XI. geschaffen wurde, um den Glauben im Leben der Gesellschaft sichtbar zu machen. In der Schweiz wurden je nach Geschlecht, Alter, Zivilstand, Beruf usw. zahllose katholische Vereine gegründet, um das Leben in allen Bereichen zu erfassen.
Meine Zukunft war vorgezeichnet für den Weg zum Priestertum, vor allem seitens meiner Taufpatin Tante Mely, der Schwester meiner Mutter, die mich mit allen liturgischen Utensilien als Spielzeug zum Messefeiern beschenkte. Ich widmete diesem Zelebrieren viel Zeit. Auch mit meiner Schwester Elsa übte ich im Puppenspiel meine Pfarrerrolle aus. Als ich einer Puppe mit einer brennenden Kerze den Blasiussegen erteilte, fing das Haar der Puppe Feuer und es wäre fast zu einem Zimmerbrand gekommen. Eine Stufe zum grossen Ziel war die Frühkommunion, die mir der Abt vom Kloster Muri Gries, Alfons Maria Augner, gab, ein frommer Mann, der die Mutter Gottes als Kind besonders verehrte, ein Freund der mütterlichen Familie. Alle sprachen vom “schönsten Tag meines Lebens”, was ich damals nicht verstand.
Ich spüre noch heute die Mühsal des Lernens des Katechismus, mit dem dieser Tag verdient werden musste. Ich verstand die abstrakten Formeln des Katechismus nicht. Das unvernünftige Lernen hatte zur Folge, dass mir nicht nur das Lernen, sondern auch das Lehren des Katechismus, zu dem ich später als Kaplan verpflichtet wurde, zur Pein wurde. Ich meine, es ist nicht die richtige Form, um sich auf diese Weise mit dem Glauben anzufreunden. Als sozusagen künftiger Priester wurde ich zum Mittelpunkt der Familie. Der Vater stand mit unverhohlener Skepsis abseits, unternahm aber nichts, um den Einfluss der mütterlichen Familie zu bremsen. So habe ich mich „spielend“ auf die Rolle meines Lebens vorbereitet.
Von der Frühkommunion an war mir völlig klar, Priester zu werden. Jedes Mal, wenn ich bei den Grosseltern in den Ferien war, wurde dieser kindliche Entscheid unter dem Einfluss der frommen Tante noch verfestigt. Weil meine Zukunft so klar war, habe ich mich in der Schule wenig angestrengt. Als Ministrant in der Kathedrale hatte ich täglich Kontakt mit der Welt der Priester und das Ästhetische des Kultes faszinierte mich: die Farben, Formen, Töne und Düfte der barocken Welt. Mein Vater war mit richtigem Instinkt dagegen, dass ich Ministrant wurde, aber ich hatte mich mit schweigsamer Unterstützung meiner Mutter gegen ihn durchgesetzt. Er nahm auf seine Weise dann Rache, indem er mir erlaubte, den Tanzkurs für Kantonsschüler zu besuchen, was bei einer offensichtlichen Berufung zum Priestertum nicht logisch war. Aber da muss wohl Abraxas im Spiel gewesen sein.
Zum weiteren Verständnis meines Lebenslaufes möchte ich hier meine Eltern beschreiben.
Emil Johann Baptist Schaer
Als Benjamin von sieben Geschwistern genoss er eine besondere Position in der Familie, besonders verhätschelt durch seine grösseren Schwestern. Er war der Lausbub und Spassvogel, spielte den Unterhalter. Diese Rolle war ihm auch später geblieben, wenn er mit seinen Geschwistern zusammen war. Das Kabarett hätte sein Beruf werden können. Aber nach Abschluss der Schule kam nur eine praktische Lehre in Frage. Was war näher gelegen als eine Banklehre, da sein älterer Bruder Alfred ein Aufsteiger in der Hierarchie der Eidgenössischen Bank war.
Schon früh wurde Vaters Eigenwilligkeit sichtbar. Wie der spätere Prälat Jean Frei war er aktiv im Fussballclub. Und Jean Frei hat uns genüsslich erzählt, wie der Emil aus Prinzip meistens bei allem dagegen war. Dank seines Bruders Alfred erhielt er nach der Banklehre in Wil eine Anstellung in der Eidgenössischen Bank Genf, wo er sein “français fédéral” lernte, auf das er sein Leben lang stolz war. Die drei Brüder Schaer waren gute Berufsleute, aber sie hatten auch etwas für die Kultur übrig. Gustav und Alfred waren jahrelang aktive Männerchorsänger. Bei Alfred spielte die Freundschaft mit dem Musiker Franz Lehar eine Rolle. Doch Papa hatte nichts übrig für Vereinsmeierei. Wichtiger waren für ihn Freundschaften, so etwa mit Hans Burkard, dem Restaurator von Barockkirchen, wie der Kathedrale St. Gallen. Sie verbrachten gemeinsame Badeferien und pflegten bei den nachmittäglichen Spaziergängen regen Gedankenaustausch. Papa war kein leidenschaftlicher „Bänkler“. Etwas Rätselhaftes und Unverständliches lag in der Beziehung zu seinem Beruf. Ich war noch in der Primarschule, als er mir sagte: “Milo, du kannst alles werden, aber auf eine Bank lasse ich dich nicht.” Wo liegt der Schlüssel zu diesem Rätsel?
Es war in den Schulferien vor den Maturaexamen. Wir verbrachten die letzten gemeinsamen Familienferien in einer gemieteten Wohnung in Vättis. Eines Tages erhielt Papa einen Anruf aus der Bank. Er wurde zu einer ausserordentlichen Versammlung aller Direktoren der Eidgenössischen Bank nach Zürich beordert, was zu jener Zeit des Krieges reisetechnisch nicht unkompliziert war. Wegen der Benzinknappheit musste er einen Kutschentransport nach Bad Ragaz organisieren. Bei seiner Rückkehr erklärte er uns die Gründe der Versammlung. Mit der Eidgenössischen Bank war es aus. Diese hatte vor dem Krieg ein grosses Wertschriftenpaket mit später den Juden enteigneten Liegenschaften in Berlin zu günstigsten Preisen aufgekauft. Nach den Bombardierungen durch die Alliierten waren diese Immobilien nun Schutt und Asche. Pessimisten wussten sie verloren. Um Liquiditätsschwierigkeiten zu vermeiden, wurde die Bank an die UBS verkauft. Das Personal wurde übernommen.
Was das für den Einzelnen bedeutete, veranschaulichte der Selbstmord eines ihrer beliebtesten Prokuristen. Papas Arbeit als zweiter Direktor der UBS war notwendiger Broterwerb bis zur Pensionierung. Ausser den psychologischen Schwierigkeiten mit dem Führungsstil usw. blieb die ethische Belastung des Judengeschäftes der Bank, für das er als Filialleiter in St. Gallen keine Entscheidungsverantwortung trug, ausser der Solidarität mit seinem Bruder, der als Generaldirektor...