Es waren bedeutungsvolle Jahre für mich. Schon im Juni des Jahres 76 bereitete sich in Genua ein Fest vor, das das demokratische Italien, das zu der Zeit noch einen Teil der idealen Begeisterung besaß, die seine Einheit hauptsächlich zustande gebracht hatte, – in große Erregung versetzte, und auch meine innigste Teilnahme in Anspruch nahm. Es sollte in Genua das Monument enthüllt werden, das die Stadt ihrem edelsten Sohne, Joseph Mazzini, setzte, der vier Jahre vorher, zwar auf heimischer Erde, aber immer noch ein Exilierter und zwar der einzige Exilierte, gestorben war. Das Festkomitee hatte durch ein Manifest die italienische Nation zur Teilnahme aufgefordert und es war zu erwarten, daß besonders von den demokratischen Arbeitervereinen aus allen Gegenden Italiens ein großer Zuzug stattfinden würde. Denn Mazzini war den Arbeitern immer ein wahrer Freund und Lehrer gewesen. Er zeigte ihnen ihre Rechte, aber er forderte von ihnen auch die Erfüllung ihrer Pflichten, und hätte er die Geschicke Italiens lenken können, von der Zeit seines Triumvirats in Rom an bis zu seinem Tod, er hätte sicher den Sinn für Pflichterfüllung und Gesetzlichkeit in seinem Volk geweckt, und es würde heute auf einer höheren Stufe der Moralität stehen, als es jetzt der Fall ist.
In Genua ist Mazzinis Andenken lebendig unter den arbeitenden Klassen, die es wissen, wie sehr er sie im Herzen trug und für die Verbesserung ihres Schicksals bemüht war. Noch bei meinem letzten Aufenthalt dort zeigte mir ein Arbeiter die Reihe guter, reinlicher Wohnhäuser für Arbeiter, die auf Mazzinis Anregung gebaut wurden, und versicherte mir, daß sie treu an seinen Lehren hingen. Dasselbe bekräftigte mir der Kutscher, der mich auf den schönen Kirchhof von Staglieno fuhr, wo die irdische Hülle Mazzinis ruht. Der Ort liegt weit hinaus vor der Stadt und zieht sich einen Berg hinan, von dem man eine herrliche Aussicht genießt. Hier befindet sich auf der Höhe, in den Fels eingehauen, die geräumige Gruft, in der der Sarg steht. Auf einem freien Platz davor ist das Grab seiner Mutter, mit der ihn die innigste Liebe verband. Sie liegt da, wie um ihn, den ihre aufopfernde Mutterliebe im Leben nicht vor der tiefsten Tragik des Schicksals schützen konnte, wenigstens im Tode vor der Tücke des Hasses und Neides sicherzustellen. Seine Ruhestätte könnte nicht schöner sein, aber seine Vaterstadt will das Verbrechen, das Italien an ihm beging, wenigstens durch ein Monument sühnen, das wie das des Kolumbus davon zeugen soll, daß Genua auf seine großen Söhne stolz ist. Das Fest wird glänzend sein, prachtvolle Ausschmückung der Stadt und des Weges bis zum Kirchhof, Vergnügungen für das Volk, Musik, Illumination – nichts wird fehlen. Nur eins wird fehlen: die Erfüllung dessen, was Mazzini für sein Volk gewollt und gehofft hat, und wofür er das lange Märtyrertum des Exils und die unzähligen bitteren Enttäuschungen mit unerschütterlicher Standhaftigkeit getragen hat. Wie es ihm nur um dies hohe Ziel zu tun war und wie er dabei allen Ehrgeiz, allen persönlichen Erfolg hintenan setzte, davon gibt Alexander Herzen eine schöne Schilderung, nachdem er Mazzini, nach dem Krieg von 1859, wiedergesehen hatte. Herzen spricht von den politischen Ereignissen der Jahre 59 und 60, und wie im Schlachtenlärm und Pulverdampf die befreundeten Gestalten der Freiheitskämpfer eine Zeitlang verschwanden, bis sie dem besorgt forschenden Blick der Freunde endlich unversehrt wieder erscheinen. Dann sagt er: »Aber eine Persönlichkeit stand fern von diesem Rauch, diesem Getöse des Krieges, vom Jubel der Sieges-Festlichkeiten und von den Lorbeerkronen, und erreichte im Schatten der Einsamkeit eine außerordentliche Größe. Unter den Verwünschungen aller Parteien, des betrogenen Pöbels, der wilden Priester, der feigen Bourgeoisie, des piemontesischen Gesindels, wie bei den Verleumdungen aller Organe der Reaktion, vom päpstlich-kaiserlichen Moniteur an bis zu dem Eunuchen der Londoner Geldmäkler, der Times (die den Namen Mazzini nie ohne Hinzusetzung eines gemeinen Schimpfwortes aussprach), blieb Mazzini nicht nur unerschütterlich, sondern er segnete freundlich sowohl Freund wie Feind, wenn sie nur seinen Gedanken, sein hohes Ziel ausführen wollten. Man konnte von ihm sagen, was Puschkin von seinem Abbadonna sagt:
Das Volk, das im geheimen du gerettet,
Verhöhnt nun deine heil'gen weißen Haare.
Nur, daß bei ihm nicht Kutuzoff, sondern Garibaldi stand. Durch die Gestalt seines Helden und Befreiers sagte sich Italien doch nicht von Mazzini los. Warum aber gab ihm nicht Garibaldi die Hälfte seines Kranzes? Warum berief sich der römische Triumvir nicht auf seine Rechte? Warum bat er selbst nicht, an ihn zu denken, und warum schwieg der Volksführer, der doch rein war wie ein Kind, und erlog eine Entzweiung? – Darum, weil beide etwas hatten, was ihnen teurer war als die eigene Persönlichkeit, als Name und Ruhm – Italien!
Aber die gemeine Gegenwart verstand sie nicht. Sie war nicht tief genug, um solche Größe zu fassen. Garibaldi wurde immer mehr eine Gestalt des Cornelius Nepos. Auf seiner kleinen Insel erschien er so antike Größe, so einfach und rein wie ein Held Homers, ohne Rhetorik, ohne Dekoration und Diplomatie, im Epos ist das alles nicht nötig. Als die Sache beendet war, entließ ihn der König, wie man den Postillon entläßt, der uns an Ort und Stelle gebracht hat, und war nur verlegen darüber, was er ihm als Trinkgeld geben sollte, und als er erriet, daß seine Undankbarkeit Garibaldi betrübe, schickte er ihm Fasanen, die er geschossen, Blumen aus seinen Gärten und unterschrieb seine Briefe: »Immer Dein Freund Vittorio.«
Für Mazzini existierten die Menschen nicht, für ihn gab es nur eine Sache. Wieviel Fasanen und Blumen ihm auch der König schicken möchte, es würde ihn nicht rühren, er würde sich aber gleich mit ihm, den er für einen gutmütigen aber leeren Menschen hält, verbinden, wenn dieser für die Sache arbeiten wollte. Mazzini ist der Asket, der Calvin, der Procida der Befreiung Italiens; er ist ewig nur mit einer Idee beschäftigt, stets bereit zu handeln und hält, mit derselben Geduld und Hartnäckigkeit, mit der er aus unklaren Menschen und ihren Bestrebungen eine Verschwörungspartei schuf, auch Garibaldi, seine Genossen und das halb befreite Italien wach, indem seine magere, traurige Hand fortwährend nach Rom zeigt. Als ich früher über Mazzini schrieb, verweilte ich nicht besonders auf seinem Zerwürfnis mit Garibaldi im Jahr 54 und auf der Verschiedenheit unserer Ansichten. Ich tat dies aus Zartgefühl, aber ich hatte unrecht, dieses Zartgefühl ist zu klein für Mazzini. Über solche Menschen muß man nicht schweigen, die braucht man nicht zu schonen. Nach seiner Rückkehr aus dem eroberten Neapel schrieb er mir ein paar Zeilen. Ich eilte beklommenen Herzens zu ihm und erwartete ihn traurig und in seiner höchsten Liebe beleidigt zu finden, denn seine Lage war tief tragisch. Ich fand ihn körperlich gealtert, aber geistig geradezu verjüngt. Er kam mir entgegen, faßte nach seiner Gewohnheit meine beiden Hände und sagte: »So ist es denn endlich vollbracht!« Dabei glänzten seine Augen voll Begeisterung, und seine Stimme bebte vor Erregung. Er erzählte mir von den Ereignissen der letzten Zeit, vor und nach der Expedition nach Sizilien. Aus der Wärme und Liebe, mit denen er von den Waffentaten und Siegen Garibaldis sprach, leuchtete seine Freundschaft für diesen auf das innigste hervor, aber er ereiferte sich auch über dessen blindes Vertrauen in die Menschen und seine Unfähigkeit, sie zu beurteilen und zu unterscheiden. Ich dachte, ob ich wohl einen Hauch, einen Ton der beleidigten Eigenliebe entdecken würde – aber nein! Er war nur traurig, traurig so, wie die Mutter, die der verliebte Sohn auf eine Zeitlang verlassen hat. Sie weiß, daß der Sohn zurückkehren wird und daß er glücklich ist, das ist ihr Ersatz für alles. Mazzini ist voller Hoffnung für Italien, er und Garibaldi stehen sich näher als je. Er erzählte lächelnd, wie die neapolitanischen Volkshaufen sein Haus umgeben, und, von den Agenten Cavours aufgewiegelt, geschrien hätten: »Tod dem Mazzini!« Man hatte sie nämlich, unter anderen Dingen, glauben gemacht, daß er ein »bourbonischer Republikaner« sei. »Es waren gerade«, sagte er, »mehrere unserer Leute bei mir, und unter ihnen ein junger Russe, der war ganz erstaunt, daß wir, als das Geschrei vorüber war, unser unterbrochenes Gespräch ruhig fortsetzten. Fürchten Sie nichts, sagte ich ihm, sie werden mich nicht töten, sie schreien nur.«
»Nein, solche Menschen braucht man nicht zu schonen!« wiederholt Herzen, und er hat recht. Getötet haben sie Mazzini freilich nicht, aber den bittern Kelch des niedrigsten Undanks haben sie ihn trinken machen; er mußte, der einzige Exilierte, endlich unter fremden Namen kommen, um auf der geliebten heimatlichen Erde zu sterben am 10. März 1872, und als der Arzt, der den schon Todkranken behandelte, ihn einen Engländer glaubend, sich wunderte, wie gut er italienisch spreche, sagte der Sterbende: »Es hat auch niemand Italien so geliebt wie ich.« Daß sein Volk ihm jetzt das Denkmal dankbarer Erinnerung setzt, ist gut, aber es kann die Schuld nicht sühnen, die man an dem Lebenden beging.
Im Monat Juli desselben Jahres...