Einleitung
„Man muss die Vergangenheit verstanden haben, um sie neu deuten zu können.“ (T. S. Eliot)
Als ich vor einigen Jahren vor der wieder aufgebauten Frauenkirche in Dresden stand, war ich zutiefst bewegt. Immer noch hatte ich die Bilder der Ruinen der zerstörten Kirche im Kopf. Der Anblick dieses geschichtsträchtigen, strahlenden Baus hat mich nie mehr losgelassen. Für mich ist er ein Symbol für gelungene Integration.
Anstatt den Trümmerhaufen als Mahnmal für ein grauenvolles Geschehen zu belassen, wurde der Neuaufbau in Angriff genommen. Die „Integration“ besteht für mich darin, dass die dunklen Steine, als Erinnerungen an eine dunkle Zeit, in den Wiederaufbau integriert worden sind. Die Vergangenheit wurde nicht einfach verleugnet, sondern fand Eingang in die weiterführende Geschichte der Kirche und der Stadt. Sie erstrahlt in neuem Glanz. Zu diesem Glanz gehört auch, dass das Geschehene, so dunkel und tragisch es auch gewesen ist, seinen Platz hat. Für mich ist dieser Wiederaufbau ein ergreifendes Beispiel gelungener Integration, die es ermöglicht, auf Vergangenem Neues aufzubauen und damit die Zukunft zu gestalten. Dieses Bild dient seither immer wieder als Angelpunkt für meine psychotherapeutische Arbeit mit älteren Menschen. Auch da geht es um den Wiederaufbau einer Lebensgeschichte, um die Integration der Vergangenheit, um Heiteres, um Schweres, um das gelebte Leben, um einen zuversichtlichen Blick auf die Zukunft.
Mein Altersbild war lange Zeit geprägt von Abbau, Verlusten, Defiziten und Krankheit. Bestimmend waren gesellschaftliche und wissenschaftliche Sichtweisen auf diese Lebensphase. Alter bedeutete: Das Leben ist vorbei. Dass das höhere Lebensalter auch Ressourcen haben könnte, kam mir nicht in den Sinn. Zwar wusste ich, dass dem Alter Weisheit zugeschrieben wird, aber Altersweisheit war für mich etwas Selbstverständliches, allenfalls ein göttliches Geschenk. Dass Weisheit nicht naturgegeben, sondern mit Reifung, Entwicklung und Selbstreflexion verbunden ist, war mir lange nicht klar. Vielleicht war es auch die eigene Angst vor dem Älterwerden, vor dem Tod, die mich von der Beschäftigung mit diesem Thema abhielt.
Ein einschneidendes Erlebnis brachte für mich die Wende. Da ich dringend eine Stelle brauchte, ergriff ich die erstbeste Gelegenheit: Es wurde eine Psychologin für die Altersabteilung einer psychiatrischen Klinik gesucht. Etwas widerwillig nahm ich die Stelle an.
Diese Entscheidung wurde zu einer meiner bewegendsten und bereicherndsten Erfahrungen meiner beruflichen Laufbahn und zu einer weichenstellenden Offenbarung. Ich konnte beobachten, dass ältere Menschen, trotz Depressionen, Angst- und Anpassungsstörungen, trotz schwerer Dekompensation, zwischendurch Momente erlebten, in denen Lebenskraft und Lebensfreude durchdrangen. Dies war vor allem dann der Fall, wenn sie ermuntert wurden, aus ihrem Leben zu erzählen. Auch wenn dieses schwer belastet gewesen war, merkten die Patienten immer wieder, dass es Episoden gegeben hatte, die sie als bereichernde Erfahrung einzuordnen vermochten. Solche Lebensberichte berührten mich durch ihre Echtheit und die emotionale Involviertheit der Patienten. Die Patienten fanden den Zugang zu positiven Emotionen wieder und wurden sich der Ressourcen in ihrem Leben bewusst. Ob diese Erzählungen den objektiven Fakten entsprachen, war zweitrangig.
Eindrucksvoll war die spürbare Lebendigkeit, die, jenseits psychiatrischer Diagnosen, den Menschen und sein innerstes Wesen offenbarte. Über das autobiografische Erinnern wurde der Zugang zu gesunden Anteilen wieder möglich. Für mich war dies der Anlass, mich näher mit autobiografischem Erinnern und Erzählen, mit dem Lebensrückblick älterer Menschen zu befassen. Bis heute ist mir diese Faszination erhalten geblieben und so wurde die Lebensrückblickstherapie zu einem meiner beruflichen Schwerpunkte.
Das vorliegende Buch beleuchtet mehrere Aspekte, die für die Lebensrückblickstherapie bedeutsam sind. Nach einer Bestimmung von Begriffen, die als Annährung und nicht als Definition gedacht ist, folgt ein Kapitel, in dem auf Themen wie Selbstkonzept, Erinnern und Erzählen näher eingegangen wird. Dabei wird ein Schwerpunkt auf die Selbstreflexion gelegt, die in der Lebensrückblickstherapie angeregt und gefördert werden soll. Ist doch nach Guardini (1998, S. 72) die Reflexion über das eigene Leben ein „Wesensmerkmal des Menschen“ und als wesentliche Ressource zur Gestaltung und Subjektbestimmung nicht zuletzt im höheren Lebensalter von besonderer Bedeutung.
Eng verknüpft mit der Selbstreflexion ist das Erinnern, das als Rohmaterial für die Konstruktion unserer Identität dient. Da Erinnern stets in der Gegenwart stattfindet, ist die Vergangenheit immer eine Rekonstruktion, ausgelöst und gefärbt durch die aktuelle emotionale Stimmungslage. Dies führt dazu, dass Erinnerungen nie objektiven Fakten entsprechen und somit immer verzerrt sind. Sie sind trotzdem wahr, weil sie der subjektiven Wahrheit des Erinnernden entsprechen und diese eng mit seiner emotionalen Befindlichkeit verbunden ist. Dabei stehen immer die Stabilisierung und die Optimierung des Selbstbildes, das im Alter durch Verlusterfahrungen bedroht ist, im Vordergrund.
Dem Erzählen als Basis der Verständigung (Lucius-Hoene & Deppermann, 2004), als Vergegenwärtigung von Vergangenem, als Reorganisationsmöglichkeit und als sozialem Handeln (Boothe, 2002) wird besondere Beachtung geschenkt, ist doch das Erzählen die Ausdrucksform, mit der dem gelebten Leben eine narrative Gestalt verliehen werden kann. Dies setzt jedoch Kompetenzen voraus. Zum einen eine narrative Kompetenz, die es dem Erzählenden ermöglicht, eine Geschichte plausibel und für den Zuhörer nachvollziehbar darzustellen, zum andern eine biografische Kompetenz, die notwendig ist, um dem erzählten Leben eine kohärente Gestalt zu geben. Im Kapitel zum Lebensrückblick wird über dessen Bedeutung im höheren Lebensalter, über seine Merkmale, über Erzählkategorien und Kohärenz reflektiert. Diese Überlegungen münden in einer Betrachtung entwicklungspsychologischer Herausforderungen, wie sie von Erikson (1973) propagiert worden sind.
Ein wichtiger Schwerpunkt liegt auf der Psychotherapie im höheren Lebensalter. Ist sie wirksam? Woran leiden Menschen in dieser Lebensphase? Welche Störungen können die Folge solcher Leiden nach sich ziehen? Welche Bedeutung und welche Auswirkungen haben Schuld und Scham im Erleben und im Rückblick älterer Menschen? Wie wird damit in der Lebensrückblickstherapie umgegangen?
Die Formen der Lebensrückblickstherapie sind vielfältig und in der Alterspsychotherapie von verschiedenen Autoren prominent vertreten. Sowohl Maerckers, als auch Kasts und Haigth und Haights Modelle der Lebensrückblickstherapie (5.4) sind aus dem heutigen Angebot psychotherapeutischer Interventionen im Alter nicht mehr wegzudenken und werden hier ausführlich erläutert.
Im Rahmen meiner Dissertation interviewte ich ältere Menschen zwischen siebzig und zweiundneunzig Jahren, die sich weder in einer psychischen noch in einer physischen Krise befanden. Ich bat sie, aus ihrem Leben zu erzählen und dabei den Fokus auf Glücks- und Unglückserfahrungen zu legen. Der Reichtum und die Vielfalt der Erinnerungen und die Art des Erzählens bewogen mich, diese auf der Basis von erforschten Erzählfunktionen (Wong & Watt, 1991; Webster, 1993; Pinquart, 1998; Alea & Bluck, 2002) zu untersuchen.
Aufbauend auf den Ergebnissen entwickelte ich ein Phasenmodell der Lebensrückblickstherapie, in dem Funktionen des Erinnerns als diagnostische Orientierung dienen. Es basiert auf einem psychodynamischen Ansatz, denn es ist ein therapeutisches Ziel, Verdrängtes aufzudecken, Unbewusstes bewusst zu machen und dem Hilfesuchenden zur Entwicklung tragfähiger Ich-Funktionen zu verhelfen. Das Konzept wurde nicht empirisch überprüft, ich selber wende es jedoch an. Dabei mache ich immer wieder die Erfahrung, dass über die produktiven Formen des Erinnerns eine Vielfalt an Ressourcen sichtbar wird, die zur Heilung der Patienten beitragen kann. Beispiele aus der Praxis in diesem Buch tragen zum Verständnis und zur Erläuterung meines Modells bei.
Die meisten Patienten kommen mit bestimmten Anliegen in die Therapie. Einige davon sind bewusst, andere werden es erst im Laufe der Therapie. Diese Anliegen werden detailliert erläutert.
Wie in jeder anderen Therapieform spielt auch in der Lebensrückblickstherapie die therapeutische Beziehung eine wichtige Rolle. Sowohl die Therapeutin als auch die Patientin sind Akteure eines interaktionellen Geschehens, deren unterschiedliche Rollen ausführlich dargestellt werden. Die therapeutischen Ziele, die nicht immer völlig mit den Anliegen der Patienten übereinstimmen müssen, bilden einen weiteren Schwerpunkt des Buches.
Es stellt sich, wie bei jeder anderen Therapieform, auch hier die Frage nach den Auswirkungen der Lebensrückblickstherapie auf die aktuelle Situation der Patienten. Gelingt es ihnen, die Erkenntnisse, die sie gewonnen haben, und die Ressourcen, die zugänglich gemacht wurden, umzusetzen und anzuwenden? Ein ausführliches Beispiel zeigt eine mögliche Auswirkung dieser Interventionsform auf.
Ein häufiges Thema in der Alterspsychotherapie ist die Religiosität und Spiritualität der Patienten. Die Nähe zum Tod wirft existenzielle Fragen nach dem „Wohin“, nach dem „Getragen- und Aufgehobensein“, nach einer...