2 Unsere kommunikative Werkseinstellung
2.1 Definition der kommunikativen Werkseinstellung
Was sie ist und warum sie für vieles gut ist, nur leider nicht für Wichtiges wie Verhandlung, Erziehung, Partnerschaftsgespräche und Persönlichkeitsentwicklung
Ein Zitat aus der Zeitung „Die Welt“: „Die Opposition wirft der Regierung Fälschung und Zensur vor. Die Regierung gab dies zerknirscht zu, lobte die Opposition für ihre Wahrnehmung der demokratischen Verantwortung und entschuldigte sich bei der Wählerschaft.“
Sie bezweifeln, dass wir hier korrekt zitiert haben? Warum? Vermutlich, weil Sie Empiriker sind, also ein Mensch, der auf seine Erfahrung vertraut. Vermutlich haben Sie noch nie eine solche Reaktion der Regierung auf die Angriffe durch die Opposition erlebt. Und deshalb lautet Ihre Hypothese: „Die obige Meldung klingt extrem unwahrscheinlich.“ Sie liegen mit Ihrer Skepsis goldrichtig. Was tatsächlich in der Tageszeitung „Die Welt“ (21.02.13 zum Thema: „Armut“) stand, lautete: „Opposition wirft Regierung Fälschung und Zensur vor. Heftiger Schlagabtausch über Armuts- und Reichtumsbericht. – Koalition weist Vorwürfe zurück.“
Die Abfolge von Vorwurf und Zurückweisung ist hier redundant im Sinne von vorhersagbar. Politiker reagieren immer so. Sie sind programmiert: „Auf jeden Vorwurf muss ich mit Zurückweisung reagieren.“ Sie haben in diesem Kontext keine Wahl. Das ist – zumindest in deren öffentlichen Diskussionen – ihre Werkseinstellung.
Typische kommunikative Werkseinstellungen sind: |
Gegenargument | weiteres Gegenargument |
Beschuldigung | Rechtfertigung |
Unterbrochen werden | „Lassen Sie mich ausreden.“ |
2.2 Diskursgattungen
Vorhersagbare Strategien sind nicht falsch, sie sind vielmehr gattungsspezifisch bzw. rollenspezifisch und daher angemessen in:
■ öffentlichen politischen Auseinandersetzungen, wie z. B. Bundestagsdebatten,
■ Talkshows,
■ Debattierclubs bzw. Debating Societies,
■ Gerichtsverhandlungen.
Es handelt sich hier um klar definierte Diskurse.
Diskurse und Diskursgattungen
Ein Diskurs wird definiert als Folge von Äußerungen in einem spezifischen Kontext, der auch die Ziele der Gesprächspartner bestimmt. Jeder Diskurs bringt seine eigenen Diskursregeln mit sich.
Ruft ein Mann seine Großmutter an und sagt: „Mein Auto springt nicht an.“, dann kann sie sagen: „Das tut mir aber leid. Wird Zeit, dass du dir ein neues kaufst.“
Diese Äußerung wäre unangemessen, wenn derselbe Mann mit derselben Äußerung den ADAC angerufen hätte. Der ADAC könnte reagieren mit der Frage: „Wo stehen Sie denn?“, da die Diskursgattung hier durch den Anlass sowie die Rollen und Ziele der Gesprächspartner definiert ist.
Ein weiteres Beispiel: Nach dem Weg fragen.
A: „Können Sie mir sagen, wo es zum Bahnhof geht?“
B: „Ja, geradeaus und dritte links, dann sehen Sie ihn schon.“
Bei diesem spezifischen Kontext (Fußgänger in der Stadt, mit Koffer, offensichtlich in Eile, offensichtlich ortsunkundig) ist die kommunikative Werkseinstellung: „Frage – Antwort“ ausreichend und angemessen. Es wäre diesem Diskurs unangemessen, wenn B mit Smalltalk antwortete: „Da sind Sie bei mir genau richtig, ich wohne hier nämlich. Ist ja auch ein wunderschöner Tag zum Verreisen. Unter ökologischem Aspekt ist die Bahn ja auch sinnvoll.“
Verhandlungen bilden eine eigene Gattung von Diskurs. Die Strategien und die sprachlichen Werkzeuge dieser Gattung unterscheiden sich grundsätzlich von denen anderer Diskurse.
In Verhandlungen können die Ziele darin bestehen, z. B. Produkte zu einem bestimmten Preis zu verkaufen oder eine langfristige Kundenbindung zu erreichen. Es geht nicht darum, immer Recht zu behalten und die eigene Redezeit zu maximieren.
Für Face-to-Face-Kommunikation gibt es nicht „Die zehn goldenen Regeln“. Vielmehr hat jede Diskursgattung die für sie angemessenen Regeln. Die Diskursregeln der mündlichen Kommunikation werden nach folgenden Kriterien bestimmt:
Tab. 1: Die vier großen W‘s
Die vier großen W‘s wollen wir anhand eines Beispiels der Diskursgattung „Parteitagsrede“ veranschaulichen.
Von Guido Westerwelle stammt der Satz: „Wer das [nämlich unsere Sozialpolitik] als kalte Politik bezeichnet, dem ist in seiner Hirnverbranntheit nicht mehr zu helfen.“ Nehmen wir – aus rein didaktischen Gründen – die Analogie dazu in einer Verhandlung: „Wer unser Produkt für weniger geeignet bezeichnet als das unserer Mitbewerber, dem ist in seiner Hirnverbranntheit nicht mehr zu helfen.“ Oder sogar in der Anredeform: „Wenn Sie unser Produkt für weniger geeignet bezeichnen als das unserer Mitbewerber, dann ist Ihnen in Ihrer Hirnverbranntheit nicht mehr zu helfen.“ Das würde gewiss zum Verhandlungsende führen, wohl kaum aber zum Verhandlungsabschluss. Lassen Sie uns deshalb Westerwelles Satz in dem Kontext analysieren, in dem er geäußert wurde, also nach den vier großen Ws:
■ Als WER?: Ich spreche als (damals) Vorsitzender einer politischen Partei.
■ Zu WEM?: Direkte Ansprechpartner sind meine anwesenden Parteimitglieder, gleichzeitig weiß ich aber, dass meine Rede von den Medien verfolgt wird und nach außen zu möglichen Wählern übertragen wird. Ich bin also gut beraten, wenn ich für alle drei Gruppen Zuhörsignale aussende.
■ Aus WELCHEM ANLASS?: auf einem Parteitag.
■ Mit WELCHEM ZIEL?: Um die Partei zu Geschlossenheit aufzufordern, um Mitglieder zu motivieren und um Wähler zu erreichen.
So gesehen erfüllt der Vorwurf der Hirnverbranntheit an Andersdenkende sein Ziel: Die polemische Wortwahl wurde den Journalisten als Köder hingehalten und die konnten nicht anders als zuschnappen. Die Äußerung wurde – wie zu erwarten – in allen Medien gebracht: von der ARD, von Rundfunksendern und der Tagespresse.
Wenn auf dem Parteitag dieser aggressiven Polemik applaudiert wird, dann gibt es kein zurück mehr. Sich damit zu identifizieren bedeutet, sich Gegner zu schaffen. Und gemeinsame Feinde zu haben schmiedet zusammen.
Wir wollen damit auf Folgendes hinweisen: Jene Kommunikationsgurus, die für alle Diskursgattungen dieselben Regeln aufstellen und die nicht die vier großen W‘s berücksichtigen, berauben die Sprechenden vieler kommunikativer Möglichkeiten. Die Wahl der Formulierung „in Ihrer Hirnverbranntheit“ folgt nicht den Geboten der Wertschätzung, nicht denen der Gewaltfreien Kommunikation (GfK, vgl. Rosenberg 2007) und auch nicht denen der Achtsamkeit und Toleranz. Wenn aber jemand sagt: „Ich habe diese Äußerung dem Anlass entsprechend, beifallheischend, PR-maximierend und google-bar für meine Zuhörerschaften bewusst gewählt, und meine Äußerung hat alle meine Ziele erfüllt“, dann war er erfolgreich und es bringt nichts, wenn man ihm sagt: „Aber du hast dich nicht an die 10 Goldenen Regeln der Rhetorik gehalten.“
In der Diskursgattung „Talkshow“ werden die Teilnehmer sorgfältig meist danach ausgesucht, dass sie gegensätzliche Standpunkte öffentlich wirksam vertreten. Ein Vertreter der Regierungspartei darf in dieser Diskursgattung auf den Vorwurf eines Oppositionsvertreters nicht sagen: „Das ist ein interessanter Aspekt, an den wir noch gar nicht gedacht haben. Können Sie mir den bitte...