Von Ostpreußen ins Vogtland
Die Reise beginnt am 9. Februar 1944 in Angerapp. Das heißt heute Osjorsk und liegt im Oblast Kaliningrad in Russland. Groß geworden sind Sie im vogtländischen Klingenthal, was man auch deutlich hört. Was verbindet Sie heute mit Ihrem Geburtsort?
Wenig, um nicht zu sagen: nichts. Der einzige aus unserer Familie, der das vormalige Ostpreußen im Rahmen einer touristischen Reise besuchte, war mein Onkel Horst, der Bruder meines Vaters. Die Tour ging nach Königsberg, heute Kaliningrad. Dort nahm er ein Taxi und fuhr in den Ort seiner Kindheit, nach Ebenrode – bis 1938 Stallupönen und heute Nesterow. Er wollte das Haus, in dem er bis Ende 1944 gelebt hatte, die alte Volksschule und das ehemalige Gymnasium noch einmal sehen. Die letzten deutschen Einwohner verließen im Oktober 1944 den Ort. Horst war Jahrgang 1932 und lebte, nachdem wir nach Klingenthal gekommen waren, in unserer Familie. Seine Mutter war in Königsberg gestorben, der Vater in sowjetischer Kriegsgefangenschaft.
Ihr Wohnhaus in Nesterow – es war die Hälfte eines Doppelhauses – befand sich bei seinem Besuch in einem guten Zustand und wurde von einer älteren Russin bewohnt. Russen sind mit fast 90 Prozent die größte Bevölkerungsgruppe in dieser Stadt. Horst hatte den Eindruck, dass sie fürchtete, er wolle das Haus wiederhaben.
So viele Jahre nach dem Krieg?
Man soll die Empfindungen vieler, zumal älterer Menschen, die nach 1945 in den nördlichen Teil Ostpreußens – seither Kaliningrader Gebiet – umgesiedelt wurden, nicht unterschätzen. Dieses von Deutschen nahezu entvölkerte Gebiet war in Potsdam der Sowjetunion zugeschlagen worden: Zweimal – 1914 und 1941 – waren von dort deutsche Truppen Richtung Osten marschiert. Das sollte sich nicht wiederholen. Die sowjetischen Menschen, die sich dort niederließen, lebten gefühlsmäßig unverändert auf gepackten Koffern. Sie waren nicht von der Endgültigkeit dieser Entscheidung überzeugt. Und Moskau betrachtete seine Exklave zwischen Polen und Litauen auch mehr als Militärstützpunkt im Westen denn als Territorium, das auch wirtschaftlich zu entwickeln war. Es heißt, zumindest las ich davon, dass Gorbatschow der Bundesregierung gegenüber die Bereitschaft habe anklingen lassen, Ostpreußen für einen angemessenen Preis – die Rede war von 40 Milliarden D-Mark – zu verhökern. Oberst Stepan Nesterow, nach dem Ebenrode 1947 benannt worden ist, und die 100000 Soldaten der Roten Armee, die 1944 beim Vorstoß der sowjetischen Truppen auf Königsberg gefallen sind, hätten sich wohl im Grabe umgedreht, wenn dieses Geschäft zustandegekommen wäre.
Warum ist aus diesem Deal nichts geworden?
Die Bundesregierung hatte wohl mit der Einverleibung der DDR schon genug zu tun. Auf der anderen Seite: Wer wäre schon aus Deutschland dorthin gezogen? In unserer Familie jedenfalls gab es niemanden, der jemals auch nur entfernt daran gedacht hätte, dies zu tun. Für uns gehörte Ostpreußen seit 1945 zur Sowjetunion.
Natürlich machten mich die Erzählungen meiner Eltern und meines Onkels neugierig, jeder Mensch beginnt sich irgendwann für seine Herkunft zu interessieren. Mein Vater war Elektriker. Gleich nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 wurde er schwer verwundet, sein Panzer erhielt einen Volltreffer. Er verlor seinen linken Arm, und das mit gerade einmal zwanzig Jahren. Vor dem Überfall auf die Sowjetunion hatte er bereits die Feldzüge in Frankreich und Jugoslawien mitgemacht. Als Einarmiger konnte er in seinem erlernten Beruf nicht mehr arbeiten. So wurde er Schaltmeister im Umspannwerk Angerapp, wo ich 1944 geboren wurde. Die wenigen Monate, die ich dort zubrachte, reichten nicht aus, besondere heimatliche Gefühle zu entwickeln. Meine Heimat ist das Vogtland. Ich war noch kein Jahr alt, als meine damals 21-jährige Mutter mit mir in Klingenthal strandete.
Man hört es: Sie sprechen nicht das – inzwischen wohl ausgestorbene – Ostpreußisch, sondern vogtländisches Sächsisch.
Meine Eltern habe sich immer bemüht, Hochdeutsch zu sprechen, auch um nicht als Flüchtlinge aus dem Osten aufzufallen. Doch der ostpreußische Dialekt kam besonders bei meinem Vater immer wieder durch. Hochdeutsch zu sprechen war jedoch selbst auch schon ein besonderes Merkmal. In einer Personenbeschreibung meiner Großmutter, die im Jahre 1895 geboren worden war, wurde vom Roten Kreuz unter »Besondere Kennzeichen« angemerkt: »Spricht Hochdeutsch!« So fiel ich in der Schule doch als Auswärtiger auf, denn den Dialekt, den alle sprachen, beherrschte ich eben nicht. Ich habe noch heute Probleme, wenn Dialekt gesprochen wird, alles zu verstehen. Doch für Außenstehende werde ich sofort verortet. Meine sächsischen Wurzeln kann und will ich natürlich nicht verleugnen.
Vater Kurt Engelhardt als Wehrmachtssoldat
Millionen Deutsche – von 14 Millionen ist die Rede – verließen gegen Ende des von den Nazis losgetretenen Krieges ihre Heimat, wurden deportiert oder flohen, weil sie fürchteten, die Soldaten würden sich für die Grausamkeiten rächen, die Deutsche in der Sowjetunion verübt hatten. In einem dieser unzähligen Trecks floh auch Ihre junge Mutter ins Reich, wie man damals sagte.
Nach den Schilderungen meines Onkels, der damals zwölf Jahre alt war, erfolgte die Evakuierung Hals über Kopf. Nazi-Gauleiter Koch, ein Durchhaltekrieger, hatte sie viel zu spät genehmigt. Die Flucht war darum auch eine solche, sie verlief unorganisiert und chaotisch unter Verlust sehr vieler Menschenleben und der Aufgabe von Hab und Gut. Alle wurden in Viehwaggons gestopft. Die hygienischen Bedingungen waren katastrophal, auch die Versorgung, wenn man überhaupt von »Versorgung« sprechen kann. Meine Mutter hat später nie mit mir darüber gesprochen. Leider habe ich sie auch nicht gefragt, als ich sie noch hätte fragen können. Sie schwieg wohl auch deshalb, weil diese Flucht für sie traumatisch war. Ich kann nur ahnen, was für Ängste sie ausgestanden hat. Weihnachten ’44 sind wir dann im Vogtland gestrandet. Der Zug, in den wir gesteckt worden waren, sollte eigentlich eine andere Richtung nehmen. Doch die Kriegswirren stellten die Weichen in Richtung Sachsen. Und so landeten wir eben in Klingenthal. Mutter wurde ein Quartier im Gliersteig 3 zugeteilt, das Haus wurde von einer Familie Werner bewohnt, der Mann war beim Militär, also war Platz. Willkommen waren wir Flüchtlinge aus dem Osten nicht. Es gehört zu den Lebenslügen der deutschen Nachkriegsgesellschaft, dass sich die Einheimischen solidarisch gezeigt, aus christlicher Nächstenliebe und Barmherzigkeit die Fremden freudig aufgenommen hätten. Ich will ja nicht ausschließen, dass es dies auch gegeben haben kann – aber für uns galt das nicht. Als der Hausherr aus dem Krieg wiederkehrte, mussten wir weiterziehen. In der Auerbacher Straße bezogen meine Mutter, mein Onkel Horst und ich in einem Bretterverschlag Quartier. In dieser Enge wurde im September 1945 meine Schwester Christa geboren. Sie sollte nur sechs Jahre alt werden, Leukämie raffte sie dahin. Von der Auerbacher Straße ging es weiter in ein Hinterhaus in der Markneukirchener Straße nahe der tschechischen Grenze. Das war eine fürchterliche Behausung ohne alle sanitären Einrichtungen, die Wände waren nass und kalt. Es war die erste, an die ich mich dunkel erinnern kann. Von hier aus ging mein Vater oft mit der Milchkanne über die Grenze in die ČSR, um Milch für seine Kinder zu organisieren.
Der Vater? Wo kam der plötzlich her?
Er hatte, da er zwangsverpflichtet war, nicht mit uns fliehen können und kam in letzter Minute mit einem Schiff über die Ostsee »ins Reich«. Mit Hilfe des Roten Kreuzes fand er uns im Vogtland und schlug sich zu uns noch 1945 durch.
Außer dieser ersten Erinnerung an diese Wohnung: Gab es auch Personen, die Eindruck hinterließen?
Ich kann mich an Gustav Gruhle erinnern, einen Hufschmied, dessen Schmiede sich in der Markneukirchener Straße befand. Im Winter, der in Klingenthal sehr kalt sein konnte, glitzerte an den Wänden das Eis. Dann zogen mein Vater und mein Onkel in den Wald, um Holz zu besorgen. Das bekam der alte Gruhle mit und hat uns ab und an einen Eimer von dem Koks vor die Tür gestellt, der ihm als Hufschmied zugeteilt wurde. Wenn die Bauern der umliegenden Dörfer ihre Pferde bei ihm beschlagen ließen, zahlten sie in Naturalien. Gruhle und seine Frau gehörten zu den guten Menschen, die unser Elend lindern halfen. Vor allem um uns Kinder haben sie sich gekümmert, die wir ständig hungerten, die Eltern natürlich auch. Leider weiß ich nicht, was aus dem Hufschmied Gruhle geworden ist.
Es gab auch Klingenthaler, die es lieber gesehen hätten, wenn wir wieder verschwunden wären. Wir waren für sie »Polacken«.
Als die DDR gegründet wurde, waren Sie fünfeinhalb Jahre alt. Können Sie sich daran noch erinnern?
Nur sehr dunkel. Vater arbeitete im Lager des Klingenthaler Elektrik-Werkes, das später zum VEB Kraftfahrzeugelektrik Karl-Marx-Stadt gehörte. Das verschaffte ihm Zugriff, wenn auch nicht immer ganz legal, auf bestimmte Elektroartikel, die er oder sein Bruder auf dem Schwarzmarkt gegen Lebensmittel eintauschte. Mein Onkel Horst erzählte einmal, dass er mit dem Zeug im Rucksack zehn, fünfzehn Kilometer zu Fuß über Land zog und mit Kartoffeln und Gemüse wieder nach Hause kam. Das hat natürlich ein bestimmtes Bild vom Bauernstand bei Vater und Onkel geprägt. Mein Vater hat später oft gemeint, dass sich die Bauern durch das Elend der Städter und der Umsiedler eine goldene Nase verdient hätten, durch unser...