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Krieg ohne Schlacht

Leben in zwei Diktaturen. Mit einem Dossier von Dokumenten des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR

AutorHeiner Müller
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl528 Seiten
ISBN9783462320442
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Heiner Müller, einer der bedeutendsten deutschsprachigen Dramatiker der Nachkriegsgeschichte, erzählt aus seinem Leben. Anekdotenreich, klar und ehrlich: ein faszinierendes Panorama der deutschen Zeit- und Kulturgeschichte. Geboren 1929 in Sachsen, wurde Heiner Müller noch kurz vor Kriegsende zum Reichsarbeitsdienst und zum Volkssturm herangezogen und geriet dann in amerikanische Gefangenschaft. Er begann wissenschaftlich und journalistisch zu arbeiten, bevor er Ende der 50er-Jahre zum Theater kam. In seiner Autobiographie spricht er über seine Auseinandersetzungen mit der allgegenwärtigen Partei und Staatszensur in der DDR und schildert jene Vorgänge, die 1961, nach der Uraufführung des Stückes »Die Umsiedlerin«, zu seinem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband der DDR führten. Vor allem aber berichtet er über seine langjährige Arbeit als Dramatiker und Regisseur, erst am Berliner Ensemble und dann, ab 1976, an der Volksbühne. Die Beschreibung der Theaterarbeit zwischen Ost und West, zwischen Freiheit, Engagement, dem Ausloten von Möglichkeiten und der Erfahrung von Unterdrückung und Repression zeichnen ein anschauliches und genaues Bild des Kultur- und Geisteslebens in den Zeiten der deutschen Teilung und des Kalten Krieges. Heiner Müllers Lebenserinnerungen haben für Furore gesorgt: für Ablehnung und Kritik, für Bewunderung und Begeisterung. Ergänzt um bislang unveröffentlichte Dokumente aus dem Nachlass, ist »Krieg ohne Schlacht« nicht nur eine beeindruckende Lebensgeschichte, sondern vor allem ein unersetzliches Dokument und ein Klassiker der deutschen Literatur.

Heiner Müller, geboren am 9. Januar 1929 in Eppendorf (Sachsen), war der Sohn eines Angestellten, der 1933 als SPD- Funktionär verhaftet wurde. In Berlin (Ost), wo er sich 1950 niederließ, war er zunächst als Journalist und ab 1955, gemeinsam mit seiner Frau Inge (gest. 1966), als Dramatiker tätig. In Orientierung an Brecht standen im Mittelpunkt der Geschichten ausder Produktion, wie Müller seine Stücke bezeichnete, die Probleme des Aufbaus der sozialistischen Gesellschaft (Traktor, 1955; Der Lohndrücker 1958). Nach Absetzung des Stückes Die Umsiedlerin oderDas Leben auf dem Lande wurde Müller 1961 aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen. In der Folge griff er vor allem auf antike und klassische Stoffe zurück, bearbeitete Sophokles und Shakespeare (Philoktet, 1965; Macbet, 1972). 1970-76 war er Dramaturg am Berliner Ensemble. Im Rahmen des Holland-Festivals 1983 fand ein Heiner-Müller-Projekt statt, an dem 10 Bühnen beteiligt waren. 1988 wurde Müller wieder in den Schriftstellerverband der DDR aufgenommen. 1990-92 war er Präsident der Akademie der Künste in Berlin (Ost); gleichzeitig lehrte er an der Hochschule der Künste Berlin. Ab 1992 gehörte er wieder dem Berliner Ensemble an, das er 1995 bis zu seinem Tod leitete. Heiner Müller starb am 30. Dezember 1995 in Berlin. Die deutsche Misere beleuchten die drei aus disparaten Szenen montierten Stücke Die Schlacht (1975),_ Germania Tod in Berlin_ (1978) und Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings SchlafTraum Schrei (1979). In Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten (1983) unterläuft Müller, u. a. durch Verzicht auf die Text-Sprecher-Zuordnung, die fundamentalsten dramaturgischen Regeln. Insbesondere mit den Stücken Die Hamletmaschine (1978) und Wolokalamsker Chaussee I - V (1987) gilt Müller als einer der innovativsten (wenn auch umstrittenen) deutschen Dramatiker der Gegenwart. Ausgezeichnet wurde er u. a. mit dem Heinrich-Mann-Preis der DDR (1959, gemeinsam mit Inge Müller), dem Hamburger Lessing-Preis (1975), dem_ Dramatiker-Preis_ der Stadt Mülheim a. d. R. (1979), dem Georg-Büchner-Preis (1985), dem Nationalpreis der DDR (1986) und der Kleist-Preis (1990).  

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Leseprobe

Kindheit in Eppendorf und Bräunsdorf, 1929–39


Ich war eine schwere Geburt. Sie hat lange gedauert, von früh bis neun Uhr abends. 9. Januar 1929.

Mein Vater ist in Bräunsdorf geboren. Das ist ein Dorf in der Nähe von Limbach-Oberfrohna. Limbach und Oberfrohna sind zwei zusammenhängende kleine Städte, westlich von Chemnitz, hauptsächlich mit Textilindustrie. Der Vater meines Vaters war Strumpfwirkermeister in einer Textilfabrik, Arbeiteraristokratie, von der Mentalität her sehr nationalistisch. Er war Soldat im Ersten Weltkrieg. Darüber hat er nie gesprochen. Dann war er in irgendeinem patriotischen Turnverein.

Die Mutter meines Vaters stammte aus Bayern und hatte in Bräunsdorf auf einem Gut gearbeitet, als Magd. Es gab ein großes Gut in Bräunsdorf, Großgrundbesitz, das sogenannte Rittergut. Mein Vater erzählte eine Geschichte: Als er aus dem Ersten Weltkrieg zurückkam, hat seine Frau ihn gefragt, ob er Weiber gehabt oder Kinder gemacht hätte. Später gestand er den erwachsenen Söhnen, er hätte damals, als er die Frage mit »Nein« beantwortet hat, den einzigen Meineid seines Lebens geschworen. Er hatte auf die Bibel schwören müssen. Da wurde dann nicht mehr gefragt.

Meine Mutter ist in Eppendorf geboren. Die Mutter meiner Mutter war die Tochter eines reichen Bauern aus einem Dorf weiter oben im Erzgebirge. Die Familie war sehr verzweigt, Bauern, sehr reich, berühmt als Brandstifter. Sie haben aus Versicherungsgründen einander die Höfe angezündet, wahrscheinlich auch aus Haß. Es gab Geschichten von Selbstmorden, Aufhängen auf dem Dachboden – Bauernselbstmorde. Dagegen war der Vater meiner Mutter unterste soziale Schicht, sein Vater früh gestorben, seine Mutter Näherin. Davon ernährte sie die Kinder. Irgendwann ist sie krank geworden, erblindet bei der Arbeit. Mein Großvater, damals dreizehn Jahre alt, hat sie gepflegt. Die Familie der Großmutter konnte ihn nicht akzeptieren, die Großmutter wurde enterbt. Meine Mutter erzählt die Geschichte vom Salzhering[1]: Ein Hering wird an der Stubendecke aufgehängt, und alle dürfen daran lecken. Armut war ihre Grunderfahrung, Armut bis zum Hunger, besonders im Ersten Weltkrieg. Mein Vater fiel in der Schule durch Intelligenz auf, durch Interesse für Lesen und Schreiben. Deshalb die Empfehlung der Lehrer: Der gehört nicht in die Fabrik, sondern in irgendeine behördliche Schreibstube. Er fing als Lehrling im Rathaus der Gemeinde Bräunsdorf an, lebte dann in Hohenstein-Ernstthal, dem Geburtsort von Karl May. Er wohnte möbliert bei einer Beamtenwitwe, die versucht hat, ihm Tischmanieren beizubringen. Er wußte einfach nicht, daß man Erbsen nicht mit dem Messer ißt. Schließlich wurde er versetzt und arbeitete in Eppendorf im Rathaus. Eppendorf war ein Industriedorf. Dort hat er meine Mutter kennengelernt. Ich glaube, meine Mutter war vor mir schon einmal schwanger. Aber sie hatten kein Geld und keine Wohnung.

Eine Geschichte aus Eppendorf: Es gab dort ein Schwimmbad, sehr gut gebaut, mit Sprungturm und allem. Es war von Krediten bezahlt worden, die als Vorschuß auf das Morgensternsche Erbe gegeben wurden. Das Morgensternsche Erbe war eine große erzgebirgische Massenphantasie, ausgelöst durch ein Gerücht. In den zwanziger Jahren soll in den USA ein Millionär namens Morgenstern gestorben sein und, weil er aus dem Erzgebirge stammte, erzgebirgische Gemeinden zu seinen Haupterben eingesetzt haben. In Erwartung dieses Morgensternschen Erbes, das nie kam, ist viel gebaut worden. Es gab Wachen auf Kirchtürmen in Erwartung des großen Geldtransports. Die Geschichte meines Großvaters, des Vaters meiner Mutter, habe ich aufgeschrieben[2], später erst die meines Vaters.

 

Wie verhalten sich diese Texte zur »Wirklichkeit«?

 

Wie Literatur. Als ich das erste Mal in den USA war, sah ich auf dem Flug von New York nach Dallas / Texas beim Überfliegen eines größeren Sees einen Ölfleck auf dem Wasser, und mir fiel zum ersten Mal wieder dieser Großvater ein, den ich im Schlußteil der Geschichte abgeurteilt habe. Könnte man in ein Gespräch mit Toten kommen, mit ihm würde ich gern reden, auch mit meinem Vater. Oder die Texte noch einmal schreiben, anders, wenn dafür die Zeit ist.

Dieser Großvater war sozialdemokratisch erzogen, er war Sozialdemokrat auf eine ganz unintellektuelle Weise. Seine Frau ging, je älter sie wurde, immer öfter in die Kirche, sie brauchte das. Er kam nie mit. Er sagte nur, wenn du das brauchst, geh hin. Ich war in den Ferien oft bei ihm. Er hatte noch alte Jahrgänge sozialdemokratischer Zeitschriften vom Anfang des Jahrhunderts. Das war mein Hauptlesestoff mit zehn, zwölf, dreizehn Jahren. Es gab da Texte von Gorki, Romain Rolland, Barbusse, Diskussionen und Leserbriefe. Durch einige Hefte ging zum Beispiel eine Nietzsche-Diskussion unter sozialdemokratischen Arbeitern, die »Zarathustra« gelesen hatten.

Wenn ich meinen Text über ihn jetzt lese, dann ist der natürlich aus meiner Identifikation mit der neuen Ordnung geschrieben, die Askese brauchte, Opfer brauchte, damit sie funktionieren konnte. Und das ist das Grundproblem: Die Opfer sind gebracht worden, aber sie haben sich nicht gelohnt. Es ist nur Lebenszeit verbraucht worden. Diese Generationen sind um ihr Leben betrogen worden, um die Erfüllung ihrer Wünsche. Für ein Ziel, das illusionär war. Eigentlich habe ich diese Geschichte über den Großvater mit einer Funktionärshaltung geschrieben und deswegen jetzt das Bedürfnis nach einem Gespräch mit ihm, um mich dafür zu entschuldigen. Es gibt ein Foto von den beiden Alten, wie sie dasitzen, Leute, die schwer gearbeitet haben, die Hände auf den Knien. Er war still und bescheiden, nie hat er Heil Hitler gesagt, weder auf der Straße noch sonstwo. Er war unauffällig, man kannte ihn im Dorf. Er trank gern Baldrian, Schnaps war zu teuer. Er hatte immer eine Flasche davon bei sich. Oft ging er mit mir Pilze suchen. Die waren ein Hauptnahrungsmittel, sie kosteten nichts. Einmal hatte ich einen wilden Streit mit ihm. Wir suchten Pilze in der Nähe von Augustusburg, immer zu Fuß. In Augustusburg gab es eine Drahtseilbahn zur Burg. Mich interessierte natürlich die Drahtseilbahn, ich wollte damit fahren. Er hatte kein Geld, aber das hat er mir nicht gesagt, nur, wie unmännlich das wäre, mit der Bahn zu fahren. Er blähte das zu einem großen moralischen Problem auf, und wir haben uns darüber sehr gestritten. Er hatte kein Geld und konnte das nicht zugeben, deswegen mußte er daraus eine Ehrensache machen. Dann sind wir gelaufen. Es dauerte ziemlich lange. Ich erinnere mich an einen andern Streit, als er mir erzählte, der Bauer auf dem Hof über dem Hang hätte das »Männel«, und ich glaubte nicht daran. Das Männel ist ein Diminutiv von Mann, ein Kobold, ein dienstbarer Geist, mein Großvater hatte es aus dem Schornstein fahren sehen, zwischen Mitternacht und ein Uhr früh. Davon war er nicht abzubringen. Das Männel war eine Waffe im Konkurrenzkampf der Bauern, es konnte die Kühe des Nachbarn verhexen und die Milchproduktion der eigenen steigern. Eine große Rolle spielte im Erzgebirge auch das fünfte Buch Moses. Es gab Leute, von denen wußte man, sie haben das fünfte Buch Moses und können hexen. In Bräunsdorf war eine Bäuerin im Kuhstall eines Nachbarn entdeckt worden, in der Hand das ominöse Buch. Verhexte Kühe geben schlechte Milch oder krepieren.

 

Was sind Deine allerersten Erinnerungen?

 

Die erste ist ein Gang auf den Friedhof mit meiner Großmutter. Da stand ein Denkmal für Gefallene des Ersten Weltkriegs, aus Porphyr, eine gewaltige Figur, eine Mutter. Für mich verband sich das Kriegerdenkmal jahrelang mit einem lila Mutterbild, mit Angst besetzt, auch vor der Großmutter vielleicht, die mich über den Friedhof führte.

Die zweite Erinnerung: Meine Eltern waren krank, ich auch. Wir lagen alle drei im Bett. Es kam regelmäßig eine Krankenschwester, wahrscheinlich von einer kirchlichen Organisation, und einmal brachte sie Erdbeeren mit. Diese Erdbeeren sind mein erstes Glückserlebnis.

Dann die Verhaftung meines Vaters, 1933, und im wesentlichen war das schon so, wie ich es aufgeschrieben habe.[3] Ich hatte ein kleines Extrazimmer, lag da im Bett, es war morgens, ziemlich früh, fünf, sechs Uhr. Ich wurde wach, Stimmen und Gepolter nebenan. Sie schmissen Bücher auf den Boden, säuberten die Bibliothek von linker Literatur. Ich sah durchs Schlüsselloch, daß sie meinen Vater schlugen. Sie waren in SA-Uniformen, meine Mutter stand daneben. Ich habe mich wieder ins Bett gelegt und die Augen zugemacht. Dann standen sie in der Tür. Ich sah blinzelnd nur den Schatten der beiden etwas kräftigeren SA-Männer, dazwischen klein den Schatten meines Vaters, und habe mich schlafend gestellt, auch als mein Vater meinen Namen rief. Der Grund der frühen Verhaftung: Mein Vater war nicht mehr in der SPD, sondern in der SAP. Willy Brandt war da, glaube ich, eine führende Figur und Jacob Walcher. Die SAP-Leute waren besonders verdächtig, noch keine Kommunisten, aber auch keine Sozialdemokraten mehr. Das wiederholte sich nach 1945. Ich weiß, daß mein Vater einen Revolver hatte und daß er und ein paar andere sich auf einen bewaffneten Kampf vorbereiteten. Einer seiner Genossen war ein Lehrer, für mich sehr wichtig, weil er mit mir geübt hat, rechts zu schreiben. Ich war Linkshänder, und das wäre in der Schule ein Problem geworden. Das muß vor 1933 gewesen sein, denn er wurde mit meinem Vater verhaftet. Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen. Er...

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