Zigeunerjahre zwischen Bremen und Bochum
Die Entscheidung, Bremen zu verlassen, war schwierig gewesen, nach dieser geradezu idealen Theaterzeit, dem Jugendrausch der 60er-Jahre. Vieles hatte zu dem Schritt geführt: Mein Privatleben hatte sich verändert. Ich war nicht mehr mit Judy Winter, sondern mit der Fotografin Roswitha Hecke zusammen, die eine Zigeunerin war und neue Bewegung in mein Leben brachte. In der Arbeit hatte mich die Tendenz zur Stilisierung genervt, die Festlegung auf etwas, das Ernst Wendt den Bremer Stil nannte und den wir für uns auch akzeptiert hatten. In einer solchen Situation neige ich dazu, Geschaffenes zu zerschlagen und zu verändern. Ich fand das Leben am Bremer Theater nicht mehr so rein und produktiv wie in den ersten Jahren. Teilweise hatte es sich ermüdet, teilweise waren neue Leute hinzugekommen. Es gab Konflikte mit Burkhard Mauer, einem der Dramaturgen, der zwar besonders interessante Programmhefte machte, doch zugleich ein Zerstörer war. Ich hatte nur bei Maß für Maß produktiv mit ihm zusammengearbeitet. Ich war Schauspieldirektor geworden, verdiente relativ gut, aber Bremen als Stadt wurde mir ein bisschen eng. Vor allem hatte nach Maß für Maß die Arbeit mit dem Bühnenbildner Wilfried Minks aufgehört, weil er selbst Regie führen wollte. Ich war sehr traurig über die Trennung, aber er wollte es so. Er hatte sich sehr dagegen gewehrt, dass Robert Muller, mein Londoner Schriftstellerfreund und Bearbeiter, als Dramaturg an das Haus am Goetheplatz kam. Schließlich kam Muller gar nicht, da er sich für London entschied, er hatte dort die englische Schauspielerin Billie Whitelaw kennengelernt. Klar war sie wichtiger für ihn. Seitdem sie für Maggy Smith in der Rolle der Desdemona eingesprungen und viel besser als Letztere gewesen war – mit Laurence Olivier als Partner –, war sie ein Star auf der englischen Bühne. Ihre große Berühmtheit erlangte sie durch die lange und intensive Arbeit mit Beckett. Sie verkörperte sein Frauenbild. Billie und Robert heirateten. Ich sah Robert zwar noch ab und zu, arbeitete aber nicht mehr viel mit ihm. Bremen hatte sich also leergelaufen. So luden eines Tages Roswitha und ich so viel Gepäck wie möglich – Roswitha auch all ihr Fotozeug – in meinen Citroën, und wir zogen herum. Ich behielt zwar noch die Bremer Wohnung, doch meine Hauptwohnung wurde für die nächsten Jahre mein Auto.
Roswitha war eine anstrengende, aber wunderbare Autofahrerin, genauso wie heute Elisabeth eine wunderbare, nicht so anstrengende Fahrerin ist. Wir zogen von Theater zu Theater. Zwischen 1968 und 1972 inszenierte ich dreimal bei Peter Palitzsch am Württembergischen Staatstheater in Stuttgart. Zuerst den Geizigen von Molière, eins meiner Lieblingsstücke, mit Günther Lüders in der Hauptrolle, nachdem ich es in Bremen mit Helmut Erfurth als Harpagon in einem Simultanbühnenbild von Wilfried inszeniert hatte. Als ich in Stuttgart anfing, raunte es im Theater: Jetzt wollen wir doch mal sehen, ob der Zadek ohne Minks überhaupt arbeiten kann! Mein Bühnenbildner war Gerd Richter, Wilfrieds Lehrer, ein älterer Herr, zwar nicht so gut wie Wilfried, von dem Letzterer aber sehr viel gelernt hatte. Ich arbeitete das erste Mal mit einem großen deutschen Star zusammen – Lüders hatte mit meiner bisherigen Arbeit nichts zu tun, dem etwas unterkühlten Regietheater, das nun als Bremer Stil firmierte. Ich hatte den Bremer Schauspielern nie die Freiheit gegeben, die ich Schauspielern in den 70er- und 80er-Jahren zunehmend gab. Ich plante meine Inszenierungen in Bremen noch sehr genau, auch um meine eigene Unsicherheit zu überspielen. Die erste wirklich freie Inszenierung in Bremen, die in die spätere Richtung wies, war sicherlich Shakespeares Maß für Maß gewesen. Und nun hatte ich es mit Günther Lüders zu tun, den ich sofort liebte, ein wundervoller, versponnener, bescheuerter, äußerst humorvoller, ironischer, zarter Mensch. Nach den ersten Probentagen wollte er mich sprechen: »Herr Zadek, meinen Sie, ich muss jetzt wirklich neu anfangen, gehen zu lernen?« Das war mir sehr peinlich, aber er ging tatsächlich, wie damals Schauspieler eben gingen – sie gingen nicht wie Menschen, sondern wie Schauspieler. Sie standen auch wie Schauspieler. Ich sagte: »Ja, Herr Lüders, Sie müssen das, tut mir leid. Sie müssen neu lernen zu gehen.« Er antwortete: »Na gut, dann tue ich das. Dann probiere ich das.« Das war natürlich toll. Lüders bestimmte den Ton der Proben. Es war der Anfang einer langen Freundschaft und Zusammenarbeit. Ich tat, was ich in solchen Situationen sehr oft tue: Ich mischte in die Inszenierung Schauspieler, die meine Arbeitsweise kannten. In diesem Fall war es Hannelore Hoger, die die Elise, die Tochter des Geizigen, spielte. Sie blieb auch in den folgenden Jahren meine engste Partnerin, von Anfang an in Bochum. Es entstand eine ganz aufregende Inszenierung, nur machte sie mich nicht ganz glücklich, weil Lüders sich doch die Freiheiten nahm, die sich ein großer Schauspieler im Endeffekt nimmt. Auch Freiheiten, die außerhalb meiner Absichten und außerhalb meiner Fantasie lagen. Mein Geschmack war nicht ganz sein Geschmack. Hinzu kam, dass er homosexuell war. Auch wenn man es nicht so deutlich bemerkte, gab es eine Menge sehr femininer Elemente in seinem Spiel, die mit der Rolle des Geizigen nichts zu tun hatten. Andererseits war die Bremer Aufführung mit Helmut Erfurth, der immer genau das getan hatte, was ich wollte, trotzdem nicht so spannend wie die jetzige mit Lüders. Da Kurt Hübner in Bremen geblieben und ich sozusagen vaterlos geworden war, machte ich Lüders zu meiner ersten Folge-Vaterfigur. Er, der aus Lübeck stammte, sah in mir den English Gentleman, und er mochte meine Englischheit.
Mich wiederum erinnerte er an Nevill Coghill in seiner sehr weiblichen, ironischen, aber humanen Haltung zum Leben. Palitzsch war oder wurde keine Vaterfigur, dazu war er zu intellektuell, trocken und kühl. Doch gefiel mir die Atmosphäre an seinem Theater, genauso wie ich viel später die trockne, etwas oberschulhafte Atmosphäre am Berliner Ensemble mochte – ich konnte mich immer gut gegen sie absetzen. Im Geizigen gab es keine Rolle für Hans Mahnke, nur für Hannelore Hoger, die die Elise, und Peter Roggisch, der den Cléante, den Sohn des Harpagon, spielte. Mila Kopp, der Altstar des Hauses, behindert, spielte die Kupplerin. Erst ein Jahr später, im Kirschgarten, spielten Lüders und Mahnke zusammen. Lüders war zu Mahnke, was Lause zu Wildgruber war. Die Spannung beider zueinander setzte sich im Bochumer Kaufmann von Venedig fort, in dem Lüders den Antonio und Mahnke den Shylock spielte. Diese psychologische connection der beiden Schauspieler nutzte ich hier zum ersten Mal aus, so wie ich viele Jahre später die psychologische connection von Barbara Sukowa und Michael Rehberg in Baumeister Solness ausnutzte.
Ich arbeitete in Wuppertal, wo ich den Pott von Sean O’Casey machte. Ich war in Berlin, wo ich Bonds Gerettet an der Freien Volksbühne inszenierte. Roswitha und ich waren in Sizilien, wo sie fotografierte, hauptsächlich Männer, alte und junge Männer auf den Plätzen vor Bars oder Hauseingängen. Frauen gehörten damals in Italien – und gerade in Sizilien – noch nicht ins Bild der Öffentlichkeit. Es war eine sehr schöne Zeit. Wir landeten in schrecklichen Zimmern und zogen auch mal in teure Hotels wie das Igéa in Palermo. Dann ging es nach München, wo ich an den Kammerspielen Edward Bonds Schmaler Weg in den tiefen Norden inszenierte, und danach nach Stuttgart zum zweiten Pott. Ich genoss die Arbeit an Palitzschs Haus. Ich sah mich wie ein Wirbelwind in seinem sehr intellektuellen, genauen und ausgedachten Theater, und auch die Schauspieler, mit denen ich arbeitete, genossen, glaube ich, den Windwechsel.
Der Grund für den zweiten Theater-Pott war eine Art künstlerischer Liebesgeschichte mit dem belgisch-jüdischen Cartoonisten Guy Peellaert, dessen Comic strips Jodelle und Prawda ich liebte. Guy wurde deswegen sowohl für die Stuttgarter Aufführung wie auch für den Film mein Bühnenbildner. Die Wuppertaler Aufführung war wie ein Auftritt des Living-Theatres gewesen, fast ohne jede Kulisse. Dazu wurde viel improvisiert und etwas ruppig Theater gespielt. Guy hingegen war ein ganz differenzierter, feiner, komplizierter Mensch, und so entstand in Stuttgart eine völlig andere Aufführung mit den ausgefallensten Bühnenbildern und vielen kuriosen, übertriebenen Einfällen. Es wurde eine regelrecht surreale, sehr kunstvolle, vielleicht zu kunstvolle Inszenierung des Potts. Für mich war sie wichtig, weil sich von da viele Dinge entwickelten, die ich später machte.
In so kurzer Zeit hintereinander zwei völlig verschiedene Inszenierungen des gleichen Stücks – das hatte natürlich mit der Zeit zu tun. Allerdings hätte ich es ohne Guy nicht gleich noch einmal gemacht, obwohl ich mich einfach kompromisslos mit diesem kompromisslosen Antikriegsstück identifizierte. Der Witz ist, es war eines der wenigen Stücke meines Lebens, das ich nicht selbst einem Theater vorgeschlagen habe. Die Idee hatte Arno Wüstenhöfer in Wuppertal.
Ich hatte ein sehr spezielles Verhältnis zu Palitzsch. Der Kirschgarten war von meinen drei Aufführungen bei ihm in Stuttgart sicherlich die schlechteste. Und zwar unter anderem deswegen, weil ich das Stück sehr eng nach einer vorhergehenden Fernseharbeit inszenierte, die als Fernsehaufführung toll, aber auf der Bühne nicht zu wiederholen war. Lüders spielte den Gajev und kriegte ihn...