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E-Book

Der Lugano-Report

oder Ist der Kapitalismus noch zu retten?

AutorSusan George
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl284 Seiten
ISBN9783688105724
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Wie kann verhindert werden, dass die globale Wirtschaftsmaschine ins Stocken gerät und an ihrer eigenen Dynamik erstickt? Wie können die transnationalen Konzerne und andere Nutznießer der Globalisierung ihre Gewinne sichern? Was soll aus den Verlierern werden? Mit welchen Mitteln kann die Zahl der Menschen auf der überbevölkerten Welt möglichst schnell und drastisch reduziert werden? Kurz: Wie ist der neoliberale Kapitalismus noch zu retten? Die Antworten auf diese Fragen, die Wirtschaftslenkern und Politikern im «Lugano-Report» unter dem Siegel der Vertraulichkeit von einer hochkarätigen Expertenkommission präsentiert werden, sind schockierend. Zum Beispiel, wenn die Kommission begründet, warum der Hunger in der Welt nicht bekämpft, sondern begünstigt werden sollte. Der Report, dessen kompromisslose Logik schon in Großbritannien, Frankreich und Italien Aufsehen erregte - er ist fiktiv. Susan George selbst hat ihn verfasst. Er könnte allerdings längst auch in Wahrheit so oder ähnlich existieren; alle seine Daten und Fakten entstammen der Wirklichkeit, erfunden ist nichts außer seinem Rahmen. Der Kunstgriff, den Kapitalismus des 21. Jahrhunderts aus der Sicht seiner eingeschworenen Anhänger zu beschreiben, macht schmerzhaft deutlich: Wenn dies unsere Zukunft ist, wird es Zeit, eine andere zu wählen.

Susan George, geboren in den USA, lebt in Frankreich und ist Vorstandsvorsitzende des Transnational Institute (TNI) mit Sitz in Amsterdam.Die Politikwissenschaftlerin war Beraterin verschiedener UN-Kommissionen und veröffentlicht zu ernährungs-, entwicklungs- und wirtschaftspolitischen Fragen. Ihre Bücher zu diesen Themen wurden zu Klassikern; bei Rowohlt erschienen «Sie sterben an unserem Geld» (1988) und «Der Schuldenbumerang» (1993). Mehr über Susan George: www.tni.org

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Leseprobe

Teil 1


1.1 Gefahren


Unseres Wissens war noch keine Arbeitsgruppe mit einer derart umfassenden und zugleich erschreckenden Aufgabenstellung konfrontiert. Wir wurden gebeten:

  • die Bedrohungen für das kapitalistische System der freien Marktwirtschaft und die Hindernisse für seine allgemeine Verbreitung und Erhaltung zu Beginn des neuen Millenniums zu kennzeichnen;

  • den gegenwärtigen Kurs der Weltwirtschaft im Licht dieser Bedrohungen und Hindernisse zu untersuchen;

  • Strategien, konkrete Maßnahmen und Kursänderungen zu empfehlen, um die Wahrscheinlichkeit zu maximieren, dass das globalisierte kapitalistische System der freien Marktwirtschaft erhalten bleibt.[1]

Im ersten Teil dieses Berichts befassen wir uns mit den Bedrohungen und Gefahren, im zweiten mit Vorschlägen und Empfehlungen.

Die Arbeitsgruppe teilt uneingeschränkt die von den Auftraggebern aufgestellte Prämisse: dass ein liberales, marktorientiertes, globalisiertes Weltsystem im 21. Jahrhundert nicht nur die Norm bleiben, sondern auch den Sieg davontragen sollte. Wir sehen ein Wirtschaftssystem, das auf individueller Freiheit und Risikobereitschaft aufbaut, als Garant anderer Freiheiten und Werte.

Darüber hinaus nehmen wir die Herausforderung unserer Auftraggeber an, in der Erarbeitung dieses Berichts soweit wie möglich von Gefühlen, Vorurteilen und vorgefassten Ansichten abzusehen. Wir hoffen und vertrauen darauf, dass unser akademischer und kultureller Hintergrund uns dabei zugute kommt.

Bedrohungen und Hindernisse


Die liberale Vision sieht sich von allen Seiten Bedrohungen und Hindernissen ausgesetzt; das System ist wesentlich stärker gefährdet, als gemeinhin angenommen wird. Es im kommenden Jahrhundert und darüber hinaus zu bewahren ist wesentlich leichter gesagt als getan!

Um Missverständnissen vorzubeugen, sei gesagt, dass wir keineswegs die Renaissance eines wie auch immer gearteten neosowjetischen Imperiums vorhersehen; wir bezweifeln ernstlich, dass es ein alternatives politisch-ökonomisches Weltsystem in den nächsten Jahrzehnten theoretisch oder praktisch mit der globalen Marktwirtschaft aufzunehmen vermag. Mit einem wiederauferstehenden glaubwürdigen Marxismus oder sonst einem Alternativsystem ist nicht zu rechnen. Wir glauben auch nicht, dass ein religiöses Dogma signifikante politische oder wirtschaftliche Bedeutung erlangen wird, sosehr es auch zu peripheren Störungen führen mag.

Das System wird durch subtilere Bedrohungen gefährdet, als von Politik, Ideologie oder Religion ausgehen; seine erheblichen praktischen Vorteile und seine genuine theoretische Kohärenz genügen nicht. Niemand kann bestreiten, dass derzeit Millionen davon profitieren, sei es in seinen traditionellen Hochburgen Nordamerikas oder Europas oder in den weiten Teilen der Welt, die sich erst in jüngerer Zeit gegenüber den Vorzügen dieses Systems geöffnet haben.

Millionen Menschen glauben fest daran, dass auch sie ihr Los verbessern können; denn der Kapitalismus ist nicht bloß eine Wirtschaftsdoktrin und eine intellektuelle Errungenschaft, sondern auch eine revolutionäre Jahrtausendkraft und Quelle der Hoffnung, wie es der Kommunismus früher einmal war. Dies ist auch der tiefer liegende Grund, weshalb sie tödliche Rivalen waren.

Das Streben nach materiellem Wohlstand im Hier und Jetzt hat sich als wesentlich mächtiger (und ehrlicher) erwiesen als die Verheißungen des Kommunismus oder der Religion, die den Lohn auf eine strahlende, unbestimmte Zukunft oder das Jenseits verschieben. In einem solchen Wettbewerb werden Lärm und Getöse des Marktes immer den Sieg über die irdischen oder himmlischen Chöre eines künftigen Paradieses davontragen. Wieso sollte also die Marktwirtschaft gefährdet sein? Wir sehen dafür mehrere Gründe.

Ein potenziell katastrophaler ökologischer Zusammenbruch


Um uns herum mehren sich die Warnzeichen, in den ökonomischen Standardmodellen finden sie jedoch kaum einen Niederschlag. Die Natur ist das größte Hindernis für die Zukunft der freien Marktwirtschaft, lässt sich aber nicht als Gegner behandeln. Die Botschaft muss lauten: wahre sie oder verdirb.

Ob die Wirtschaftswissenschaftler nun wirklich blind für ökologische Gefahren sind oder nicht, sie verhalten sich nach dem Motto: Je weniger darüber geredet wird, umso besser. Vielleicht fürchten sie, wenn sie diesen wichtigen Widerspruch unseres Wirtschaftssystems aufdecken oder analysieren würden, könnte es seiner Erhaltung schaden und den wissenschaftlichen Anspruch ihres Fachgebiets und das Ansehen ihres Berufsstandes untergraben.

In ihren Hauptströmungen mag die Wirtschaftswissenschaft zwar an ihre Grenzen stoßen und massiv die Realität leugnen, aber die bahnbrechenden Arbeiten von Nicholas Georgescu-Roegen[1] Anfang der siebziger Jahre (die anschließend von Professor Herman Daly und anderen populär gemacht wurden) haben deutlich gezeigt, dass die Wirtschaft letztlich unter dem Aspekt der tatsächlichen und potenziellen Energieflüsse und der «Entropie» oder der «verbrauchten», nicht verfügbaren Energie zu analysieren ist. Anders ausgedrückt: Die Wirtschaft muss wie andere physikalische Systeme (einschließlich des menschlichen Körpers) nach den Gesetzen des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik verstanden werden.[2]

Dieser Hauptsatz gilt aus dem einfachen Grund auch für unser Wirtschaftssystem, weil es ein Subsystem der natürlichen Welt darstellt und diese Welt nicht enthält. Die Wirtschaft als das übergeordnete System und die Natur lediglich als Subsystem zu sehen und Wirtschaftsphänomene dann anhand einer «mechanistischen Epistemologie» (wie Georgescu-Roegen es nennt) zu untersuchen, ist ein bloßes Hilfskonstrukt – und unserer Ansicht nach ein sicherer Weg in die Katastrophe.

In der Mechanik sind alle Phänomene reversibel. Von dieser Umkehrbarkeit gehen auch fast alle neoklassischen, keynesschen und marxistischen Wirtschaftswissenschaftler aus. Kein Ereignis hinterlässt sozusagen bleibende Spuren; mit der Zeit kann alles wieder in seinen «Ausgangszustand» zurückkehren. Wie Georgescu-Roegen zeigt, ist dies Unsinn:

Der Wirtschaftsprozess ist kein isolierter, sich selbst tragender; er kann nicht ohne einen ständigen Austausch vonstatten gehen, der die Umgebung kumulativ verändert und seinerseits von diesen Veränderungen beeinflusst wird.

 

Diese grundlegende Wahrheit anzuerkennen würde bedeuten, einen Großteil des akademischen Kanons, wie er derzeit von einer Generation an die nächste weitergegeben wird, zu revidieren, eine Aufgabe, die theoretisch wie praktisch auf äußerst begrenzte Begeisterung stößt.

Es ist jedoch unsere Pflicht, die Welt so zu beschreiben, wie sie ist, und nicht einen Berufsstand zu schützen. Die enorme Gewalt leugnen zu wollen, die der Natur von der kapitalistischen Wirtschaft (und mehr noch der ehemals sozialistischen) angetan wird, wäre dumm. Wirtschaftliche Standardkalkulationen behandeln den Verbrauch erneuerbarer und nicht erneuerbarer Ressourcen («natürliches Kapital») als Einkommen und Wachstumsbeitrag. Und Wachstum gilt wiederum als Synonym für wirtschaftlichen Wohlstand.

In einem solchen System wird ein Wald, der abgeholzt und in Form von Baumstämmen, Brettern, Holzkohle, Möbeln und Ähnlichem verkauft wird, nur auf der Habenseite der Bilanz verbucht. Die Zerstörung des natürlichen Kapitals, das dieser Wald mit seinen «Dienstleistungen» darstellte, also mit seiner Fähigkeit, CO2 zu absorbieren, den Boden zu stabilisieren und die Artenvielfalt zu erhalten, taucht nirgendwo auf.

Luft, Wasser und Boden gelten als freie oder nahezu freie Güter; ihre Knappheit wird nicht anerkannt oder kalkuliert. Die Erschöpfung und Verringerung von Fischbeständen, Bodenkrume, Mineralvorkommen, Ozonschicht, wild lebenden Tierarten, seltenen Pflanzen und so weiter gilt entweder als Einkommen oder wird mit Subventionen an eben jene Produzenten unterstützt, die sie erschöpfend verbrauchen (wie die Agrarwirtschaft und Unternehmen, die natürliche Ressourcen nutzen).

Auf den langfristigen Erfolg des Liberalismus wirkt sich eine solche Einstellung selbstmörderisch aus. Die Wirtschaft ist Bestandteil der endlichen physikalischen Welt, nicht umgekehrt. Die Realität der Biosphäre ist eine «Gegebenheit»; ihre Ressourcen lassen sich nicht vermehren; ihre Aufnahmefähigkeit ist durch menschliche Erfindungen nicht zu steigern; einmal geschädigt, kehrt sie nicht wieder in ihren «Ausgangszustand» zurück, allenfalls, um es mit Keynes zu sagen, «langfristig, wenn wir alle tot sind».

Die Wirtschaft wandelt vielmehr einen Input an Energie und Stoffen in einen Output an Gütern und Dienstleistungen um und gibt die bei diesem Prozess entstehenden Abfallprodukte, wie Umweltverschmutzung und Wärme (Entropie), an die Biosphäre ab. Mit anderen Worten, die Wirtschaft ist ein offenes System, das innerhalb eines geschlossenen Systems arbeitet.

Die heutigen Beschreibungs-, Berechnungs- und Bilanzierungsverfahren sagen uns nicht, was wir wissen müssen. Sie sind ungeeignete Instrumentarien, da betriebs- und volkswirtschaftliche Bilanzen «mathematisch-mechanische» Konstrukte darstellen und von einer Wirtschaft ausgehen, die unabhängig von der Natur operiert.

Güter und Dienstleistungen, die aus der Biosphäre bezogen werden, sind somit unterbewertet oder gar nicht als Wert erfasst; Umweltverschmutzung, Abfall und Wärme, die wieder an die Biosphäre abgegeben werden, gelten nicht als Kosten. Reale ökologische Kosten werden «externalisiert» und müssen als solche von...

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