In ihrer elementarsten Erscheinung ist Freiheit Freisein von Not. Unsere proletarischen Großväter haben für die Freiheit gekämpft, indem sie um ihr Existenzminimum kämpften. Denn Freiheit ohne Existenzsicherheit ist die Freiheit des Naturreiches, in dem der große Fisch den kleinen frißt. Die Proletarier waren die kleinen Fische der industriellen Revolution.
a) Hunger in der Welt
Das Nord-Süd-Gefälle des Wohlstandes
Für uns in Europa ist der proletarische Kampf gegen Hunger ein Bild aus heroischen Zeiten der Arbeiterbewegung. Auf der Welt aber ist der Kampf für die Freiheit als Kampf gegen die Not noch nicht beendet.
Von den 139 selbständigen Staaten der Welt zählen 103 zu den unterentwickelten.[1] Die reichen Industrienationen besitzen 80 Prozent der Güter dieser Welt. Dieser Reichtum befindet sich in den Händen von 30 Prozent der Erdbevölkerung.[2]
Von den 50 Millionen, die jedes Jahr sterben, verdanken nach einer Statistik der FAO ungefähr 35 Millionen ihren Tod dem Hunger.[3] Das sind in einem Jahr mehr Tote als der Zweite Weltkrieg in sechs Jahren geschafft hat. Während auf der einen Seite der Weltkugel die Menschen krepieren, weil sie zuwenig zu essen haben, sind sie auf der anderen Seite in Gefahr, an Fettsucht zu sterben. Die einen müssen ihrem Übergewicht, die anderen ihrem Untergewicht zu Leibe rücken. Niemand kann behaupten, dies sei der normale Lauf der Welt. Die Welt leidet an Schizophrenie.
Wenn Freiheit auch Freiheit von Not ist, dann gibt es in dieser Welt nicht nur einen Ost-West-Gegensatz, sondern auch ein Nord-Süd-Gefälle der Freiheit. Und es könnte sein, daß die Unfreien der südlichen Hemisphäre sich demnächst einen Dreck um unsere abendländischen Ost-West-Probleme scheren, wenn es gilt, ihre Freiheit zum Überleben vom „nördlichen Osten“ ebenso wie vom „nördlichen Westen“ zurückzuerobern. Aus der Sicht der Armen dieser Erde werden die ideologischen Gegensätze zwischen dem sozialistischen Osten und dem freien Westen schon jetzt überdeckt von der augenfälligen Solidarität des Egoismus, der die entwickelten Industrienationen zusammenhält.
„In den Konferenzen der Vereinten Nationen über Handel und Entwicklung scheint Sowjetrußland den Problemen der unterentwickelten Welt ebenso fremd gegenüberzustehen, so kalt, so egoistisch wie die Vereinigten Staaten von Amerika.“[4]
Schon läßt sich die neue, dritte Weltmacht China nicht mehr fugenlos in den alten Ost-West-Kategorien unterbringen. China signalisiert damit neue globale Konstellationen. Wer freilich vor 10 oder mehr Jahren nur sein Ost-West-Sprüchlein gelernt hat und seitdem nichts anderes tut, als dies zu wiederholen, dem fällt es schwer, die Dritte Welt außer als Adressaten von Hilfeleistungen auch in einem weltpolitischen Koordinatennetz unterzubringen.
Noch im Entwurf für das neue CDU-Programm war von dem globalen Nord-Süd-Gegensatz die Rede. In Düsseldorf, auf dem Parteitag im Januar 1971, stand der Passus aber gar nicht mehr zur Diskussion. Die CDU begnügte sich mit den alten Kategorien, die zwar gut gemeint, für die veränderte Weltsituation jedoch unzureichend sind.
Trotz Entwicklungshilfe und vielleicht gerade wegen der Art und Weise wie sie gegeben wird, fallen die Entwicklungsländer immer weiter zurück. In der ersten Entwicklungsdekade stieg das Pro-Kopf-Einkommen der westlichen Industrienationen um 3,7 Prozent. In Südasien dagegen nur um 0,5 Prozent; in Afrika um 1 Prozent; in Ostasien und in Lateinamerika um 2 Prozent.[5]
Die Entwicklungsländer sind auf Exporte angewiesen. Wie anders könnten sie ihren Fortschritt finanzieren, wenn er nicht lediglich das Ergebnis fremder Hilfeleistung sein sollte. Der Anteil der Entwicklungsländer am Welthandel jedoch sinkt. 1950 lag er bei 30 Prozent, zehn Jahre später bei 21,3 Prozent und 1970 sank er auf 17,6 Prozent.[6]
Die Chancen für den weiteren Rückfall der Entwicklungsländer sind also „günstig“.
Doch die Länder der Dritten Welt sind nicht fauler geworden. Sie haben nicht weniger Mengen exportiert, sondern nur weniger dabei verdient. Ihre Preise sinken – ohne ihr Zutun freilich.
85 Prozent der Exporte der Entwicklungsländer sind Rohstoffe. In 45 Entwicklungsländern, das sind 50 Prozent der Rohstoff exportierenden Länder, konzentrieren sich die Exporte auf ein Produkt. Nur rund 15 Prozent der Exporte bestehen aus Halbfertigwaren. 80 Prozent dieser Exporte kommen aus nur 12 Ländern, davon bestreitet Hongkong allein 50 Prozent.[7]
Der Rohstoff jedoch wird auf dem Weltmarkt billiger, während das, was die Industrieländer liefern, nämlich Fertigprodukte, teurer wird. Und mit Hilfe dieser sich öffnenden Schere zwischen Rohstoff- und Fertigwarenpreisen gewähren sich die Reichen die Hilfe der Armen, die nichts anderes ist als das Ergebnis von Ausbeutung, denn die Reichen bestimmen die Preise der Armen. Die Unfreiheit der Not expandiert.
Wo das System nicht in der gewünschten Richtung funktioniert, wird nachgeholfen. Die Haslemere Declaration aus dem Jahre 1968 schildert eine solche Nachhilfe am Beispiel brasilianischer Kaffee-Exporte, die 14 Prozent der USA-Märkte für Pulverkaffee erobert hatten. Die nordamerikanische Kaffeeindustrie wehrte sich gegen den Eindringling mit der Anklage „unfairer Wettbewerb“. Die Regierung der Vereinigten Staaten drohte Brasilien mit dem Abbruch der Wirtschaftshilfe und der Kündigung des internationalen Kaffee-Abkommens. Die brasilianische Regierung sah sich gezwungen, ihre eigene Industrie mit einer Exportsteuer zu belegen, und die Welt war wieder in Ordnung – im Sinne der amerikanischen Kaffee-Industrie.[8]
Der brasilianische Bischof Camara schätzt die wirklichen Verhältnisse in Sachen Hilfen so ein: „Kapitalzinsen, Industriegewinne, Einfuhrzölle, sinkende Rohstoffpreise und Transportmonopole bewirken, daß jeder von den USA in Lateinamerika investierte Dollar einen Gewinn von 2 Dollar für die USA bedeutet.[9]
Im Prebisch-Report, der von der UNO-Weltkonferenz für Handel und Entwicklung 1964 in Genf veröffentlicht wurde, finden sich für die Zeit von 1950 bis 1961 genaue Zahlen. Das ausländische Leihkapital in Lateinamerika ist in dieser Zeit auf 9,6 Milliarden Dollar angewachsen, während die Summe des Geldes, das die verleihenden Länder zurückerhielten, 13,4 Milliarden Dollar betrug. Wenn dieser Rechnung die Verluste aus der Verbilligung der Rohstoffe und aus der Verteuerung der eingeführten Fertigprodukte hinzugezählt werden, dann vergrößert sich der Überschuß für die reichen Länder in dieser Zeit auf 13,9 Milliarden DM.[10]
Wer hilft also wem? Die Kredite, mit denen den Entwicklungsländern geholfen werden soll, bringen diese Länder zusehends in stärkere Abhängigkeit. Die Verschuldung der Entwicklungsländer stieg bis 1969 auf 59 Milliarden Dollar. Im Durchschnitt mußten nach Angaben der Weltbank die Entwicklungsländer im Jahre 1966 44 Prozent aller Zuwendungen und Darlehen aufwenden, damit sie ihre Kreditverpflichtungen erfüllen konnten. Laut Pearson-Bericht betrug der Schuldendienst der lateinamerikanischen Staaten 87 Prozent der gewährten Kredite. In einigen der zu entwickelnden Ländern wird schon bald der Schuldendienst größer sein als die Zuwendung, die wir ihnen gewähren. Bei zwölf lateinamerikanischen Ländern sind Rückzahlungsverpflichtungen heute schon höher als die Auszahlungen, die sie von uns erhalten.
Aber was jetzt noch nur für einige Länder Lateinamerikas zutrifft, wird nach Pearsons Berechnungen 1977 allgemeine Situation Lateinamerikas sein: Die Schulden übersteigen die Kredite. Die Spirale der Ausbeutung beginnt sich also schneller zu drehen. „In ihrem verzweifelten Versuch, weiterhin importieren zu können, haben die armen Länder Geld von den Reichen geborgt, haben Hilfe angenommen und private Investitionen gutgeheißen. Das Ergebnis: immer größere wirtschaftliche Abhängigkeit, sie müssen mehr borgen, um frühere Anleihen zurückzahlen zu können.“[11]
Der Grund dafür, daß der Abstand zwischen den reichen und den armen Völkern immer größer wird, besteht nicht darin, daß wir weniger helfen als früher, sondern daß wir es sind, die mehr „Hilfen“ von den Armen empfangen als früher. Und dies mit System!
Erhöhung unserer finanziellen Hilfen ist gut und notwendig, doch gleichen diese Vorhaben der Anstrengung, mit Hilfe eines Gartenschlauches den Rhein leerpumpen zu wollen.
Wir müssen das System des Güteraustausches und der Güterverteilung auf dieser Welt verändern, und zwar offenbar radikal.
Der privatwirtschaftliche Verdienst der Entwicklungshilfe
Die privaten Großunternehmen haben einen großen „Verdienst“ an den von ihnen mitgeschaffenen Gepflogenheiten der Entwicklungshilfe. Was kostet die Welt? So könnte das Motto der Expansionspolitik weltweiter Großkonzerne beschrieben werden. Welcher arme Staat könnte sich den Bedingungen der Geschäftspolitik von Riesenunternehmen in den Weg stellen? Großkonzerne schaffen mit ihren Niederlassungen zwar Arbeitsplätze, aber für die Infrastruktur des Landes leisten sie oft wenig. Wirtschaftliche Stärke erlaubt ihnen, die Bedingungen ihrer Niederlassung den armen Staaten zu...