Das Menetekel: Der New-Economy-Schock
Und tatsächlich fand das gegen Ende schon wirklichkeitsfremde Treiben an den Börsen wenige Wochen nach Blinders ungetrübtem Ausblick im Frühsommer 2000 sein abruptes Ende. Die Ausschläge der Börsenkurse zeigen, wie verzerrt und irreal die Wert-Vorstellungen waren. Niemals zuvor und nie mehr danach waren die Kurs-Gewinn-Verhältnisse so extrem hoch.
Abb. 1: Historische Kurs-/Gewinn-Verhältnisse und Zinsentwicklung in den USA
14Die gezeigten Werte stellen einen Durchschnitt dar. Ein Kurs-Gewinn-Verhältnis von 45 bedeutet nichts anderes, als dass das aktuelle Kursniveau beim 45-fachen des Jahresgewinn-Mittelwertes der amerikanischen Unternehmen lag. Die Entwicklung der langfristigen Zinsen zeigt, dass ein niedriges Zinsniveau die Kursentwicklung an den Börsen fördert.
Noch weit darüber, nämlich bei bis zu 200, lagen die Kurs-Gewinn-Verhältnisse im New-Economy-Segment der US-Technologiebörse NASDAQ. Zahlreiche Unternehmen verzeichneten damals sogar hohe Steigerungen ihrer Bewertungen an den Börsen, ohne jemals Gewinn geschrieben zu haben. Die Anleger – und mit ihnen die Analysten der Investmentbanken – gingen nicht selten so weit, dass sie Unternehmen ermunterten, möglichst keine Gewinne zu machen, sondern immer höhere Schulden mit dem Ziel der Expansion und Markterweiterung. Unternehmen, die aus ihrer Sicht zu früh Gewinne machten – und damit auf aggressive Markteroberung verzichteten –, wurden mit bitteren Kommentaren und Kursabschlägen bestraft.
Nicht wenige Unternehmen änderten ihre Firmennamen und schmückten sie mit der Endung „.com“. Dies machte sie den anderen, raketenartig an Wert gewinnenden Technologieunternehmen verwandt und versprach für sich schon eine Kurssteigerung. Von daher sprach man später auch von einer „Dot-com bubble“. Damals als Universitätsabsolvent nicht in einer Internet-Firma zu arbeiten galt geradezu als Makel – so wie einige Jahre später coole Karrieren nur in Investment-Banken möglich schienen.
Renommierte Beratungsunternehmen machten sich gemeinsam mit den Börsenkandidaten ans „story building“, also den Aufbau von mit möglichst viel Zukunftsphantasie angereicherten Geschäftsmodellen. Der systematische Aufbau von Erwartungshaltungen erhöhte die Chancen auf einen attraktiven Kurs bei der Börseneinführung (IPO) 3 , wurde doch der Unternehmenswert an auf den Gegenwartswert diskontierten, künftig erhofften Cashflows gemessen. In Wirklichkeit stammten jedoch mehr als 85 Prozent der (Markt-) Wertsteigerungen an der Technologiebörse NASDAQ von nur etwa 40 der rund 1.200 notierten Unternehmen.
15Auch nach der Börseneinführung wurden meist extrem hohe Nettoverluste in Kauf genommen 4 , wenn damit nur das Umsatzwachstum angetrieben werden konnte. Schließlich kamen anstelle von Kurs-Gewinn-Verhältnissen in Ermangelung von Gewinnen Kurs-Umsatz-Verhältnisse in Mode. Die meisten der jungen Börsenstars waren wesentlich höher bewertet als so manches stolze Traditionsunternehmen, das der von den Analysten der Investmentbanken etwas herablassend so bezeichneten „Old Economy“ angehörte. Für „brick and mortar“ – also Ziegel und Mörtel – als Symbol für traditionelle, baulich-maschinelle Investitionen hatte man wenig übrig.
Während traditionelle Bewertungen solcher „Old-Economy“-Unternehmen im damaligen Börsenumfeld etwa beim Zweieinhalbfachen des Kapitals lagen, wurde das immaterielle Vermögen der „New-Economy“-Unternehmen so hoch eingeschätzt, dass ihre durchschnittliche Bewertung beim 40-fachen des Kapitals zu liegen kam.
Unternehmensbewertungen basierten am Höhepunkt des Hypes schließlich nicht mehr auf Fundamentalanalysen, also der Auswertung betriebswirtschaftlicher Fakten. Vielmehr wurden anhand von Schlüsselgrößen – wie etwa der Zahl der Kunden von Telekom-Unternehmen – einfach Vergleichswerte von einem am Kapitalmarkt überschätzten Unternehmen der gleichen Branche auf das nächste übertragen.
Einen vergleichbaren Technologie-Hype sollte es erst wieder mehr als ein Jahrzehnt danach geben. So zahlte etwa Facebook im Vorfeld seines Börsengangs vom Mai 2012 eine Milliarde USD für das erst 18 Monate davor gegründete Unternehmen Instagram. Facebook nützte die Wachstumsstory von Instagram, mit dessen App auf Smartphone aufgenommene Fotos bearbeitet und ins Internet gestellt werden können, um seine eigene Börsen-Story noch attraktiver zu machen. Auf die Gründer Systrom (40 Prozent) und Krieger (10 Prozent) entfiel die Hälfte des Verkaufserlöses. Das kleine Unternehmen mit 13 Mitarbeitern machte zum Zeitpunkt des Kaufes durch Facebook noch keine namhaften Umsätze, hatte aber bereits 30 Millionen User.