3. Der Mindestlohn in Deutschland in der Praxis
Die Befürwortung zum gesetzlichen Mindestlohn kommt v.a. von Seiten der Gewerkschaften.[162] Der Mindestlohn stellt eine Lohnuntergrenze dar und darf nicht unterschritten werden.[163] Mindestlöhne schützen Beschäftigte im Niedriglohnsektor vor Unterbietungswettbewerb und Dumpinglöhnen und verhindern Lohnarmut. Sie stellen sicher, dass Menschen vom erarbeiteten Entgelt leben können und keine zusätzliche Unterstützung durch den Staat benötigen.[164] So wird die Zahl der Arbeitnehmer, die trotz Vollbeschäftigung auf Sozialleistungen angewiesen sind, verringert.[165] Der Staat hat weniger Ausgaben und der Steuerzahler wird von sozialpolitischen Aufgaben entlastet, da der Arbeitgeber nun die Verantwortung für die Existenzsicherung seiner Beschäftigten trägt und nicht mehr der Staat. Der Mindestlohn schützt damit die finanzielle Stabilität der sozialen Sicherungssysteme.[166] Weiterhin kann durch angemessene Löhne auch der Altersarmut vorgebeugt werden, da höhere Beiträge der Rentenversicherung zugeführt werden.[167] Durch den Mindestlohn wissen Arbeitnehmer, was ihnen an Lohn zusteht. Durch die so geschaffene Transparenz wird verhindert, dass unwissend Jobs mit Bezahlung unterhalb des Branchenstandards oder des Existenzminimums angenommen werden. So kann auch der faire Wettbewerb gefördert werden, da die Schaffung unfairer Wettbewerbsvorteile zulasten der Beschäftigten bspw. durch Lohndumping verhindert wird und der Wettbewerb somit nur um die besseren Produkte und Dienstleistungen stattfindet. Weiterhin wird die Abwärtsspirale der Löhne aufgehalten, der Mindestlohn sorgt somit für mehr Gerechtigkeit.
Auch die Gleichberechtigung von Männern und Frauen wird durch den gesetzlichen Mindestlohn gefördert. Es werden Arbeitsbedingungen durch ein Zeichen des Respekts, das ein existenzsicherndes Einkommen setzt, geschaffen. Weiterhin kurbeln Mindestlöhne die Binnenwirtschaft an. Sie sorgen für mehr Nachfrage und wirken sich somit positiv auf die Konjunktur aus.[168] Zudem wird europaweit die Notwendigkeit von Mindestlöhnen gesehen wodurch ein Nachzugszwang für Deutschland entstand.[169] Gesetzliche Mindestlöhne haben einen Einfluss auf die Einkommensungleichheit – v.a. im unteren Lohnsegment.[170] Über die Mindestlohnpolitik lässt sich also die Ungleichheit von Erwerbseinkommen beeinflussen. Ein hohes Mindestlohnniveau führt tendenziell zu geringerer Einkommensungleichheit und einem geringeren Ausmaß an Niedriglohnarbeit.[171] Es kann zudem genannt werden, dass durch Einführung des gesetzlichen Mindestlohns die Verhandlungen zwischen den Tarifpartnern eingeschränkt bzw. verkürzt werden können, was Konfliktpotenzial vermindert und auch zu schnelleren Entscheidungen führen kann, wovon Arbeitnehmer wiederum profitieren. Die Attraktivität für bisher arbeitslose Menschen, die Opportunitätskosten wieder zu arbeiten, steigt, was die Arbeitslosigkeit verringern kann.[172] Vor Einführung des Mindestlohns unterlagen lediglich ein Drittel der Beschäftigten in der Hotellerie- und Gastronomiebranche dem Schutz von Tarifverträgen.[173] Der gesetzliche Mindestlohn schafft hier Ausgleich, denn auch nicht tarifgebundene Unternehmen müssen den gesetzlichen Mindestlohn zahlen.[174] Weiterhin wird durch die Dokumentationsverordnung Schwarzarbeit bei geringfügiger Beschäftigung entschleiert.[175]
Durch den einheitlichen Satz des Mindestlohns entsteht die Möglichkeit die Lebensverhältnisse von Ost- und Westdeutschland einander anzugleichen.[176] Als weitere Chance für die Zukunft kann das Potenzial des Mindestlohns aufgeführt werden, die Gender Pay Gap um bis zu 2,5 Prozentpunkte zu senken.[177] Durch Setzen des Mindestlohns auf niedrigem Niveau d.h. v.a. im unteren Einkommensbereich, in dem Frauen mit niedrigen Stundenlöhnen bzw. in atypischen Beschäftigungsverhältnissen angesiedelt sind, besteht die Chance, einen Lohnausgleich zwischen Mann und Frau zu schaffen und so die Differenz der Durchschnittseinkommen zwischen den Geschlechtern zu verringern.[178] Durch eine positive Entwicklung der Löhne wird zudem die Voraussetzung für einen weiteren Aufschwung im Gastgewerbe geschaffen.[179] Durch den Mindestlohn entsteht Chancengleichheit: alle Betriebe müssen jetzt zu ähnlichen Bedingungen arbeiten und beschäftigen.[180] Es entsteht eine potenzielle Einkommensumverteilung zugunsten der Geringverdiener, der Lohndruck richtet sich nach oben und gleicht die Stauchung der Lohnstruktur am unteren Ende aus.[181] Durch die Verteuerung der Minijob-Beschäftigungen entsteht die Chance, dass Aushilfsstellen anstatt wegzufallen in sozialversicherungspflichtige Stellen umgewandelt werden.[182] Aus volkswirtschaftlicher Sicht der Befürworter des gesetzlichen Mindestlohns wird angeführt, dass mehr Einkommen zu mehr Konsum und somit nicht nur zu mehr Einnahmen in Form von Steuern für den Staat, sondern auch der Chance einer günstigen wirtschaftlichen Entwicklung führen kann.[183] Hierbei ist der Effekt v.a. im Niedriglohnsektor besonders hoch, da die Einkommenserhöhung fast vollständig in Zusatznachfrage, also Konsum umgewandelt wird. Zu guter Letzt entsteht durch die Einführung des Mindestlohns die erhöhte Wahrscheinlichkeit der Einführung flexibler Arbeitszeitmodelle. Diese werden von Beschäftigten der Hotellerie- und Gastronomiebranche als drittwichtigstes Argument der Arbeitgeberattraktivität genannt und sollten somit langfristig positive Auswirkungen für Unternehmen, die das berücksichtigen, haben.[184]
Als größte Herausforderung des Mindestlohngesetzes werden die Dokumentationspflicht und der Umsetzungsaufwand genannt, nicht die Zahlung oder Mehrkosten durch den Mindestlohn an sich.[185] Die Schwächen des Mindestlohngesetzes liegen somit v.a. in der Mindestlohn-Verordnung zur Dokumentation der Arbeitszeit. Hier werden häufig die technische Umsetzbarkeit und der zusätzlich entstehende bürokratische Aufwand als negative Gesichtspunkte des Mindestlohns aufgeführt.[186] Weiterhin wird der Innovationsbedarf in geeignete Arbeitszeiterfassungssysteme genannt, die den Mehraufwand der Arbeitszeitendokumentation wieder ausgleichen sollen.[187] Minijobber auf 450 Euro Basis dürfen nun nur noch 52,9 Stunden monatlich arbeiten, wenn sie denselben Status – 450 Euro brutto für netto ohne Abgaben, also mindestens 8,50 Euro netto pro Stunde – beibehalten wollen.[188] Für den Arbeitgeber werden Minijobber durch Einführung des gesetzlichen Mindestlohns teurer. Es fällt zusätzlich zum Lohn eine Pauschalabgabe von 28 bis 30 Prozent an die Minijob-Zentrale an, was die Lohnkosten um bis zu 20 Prozent steigert.[189] Festangestellte mit Verdienst über 450 Euro werden schlechter gestellt, da für sie auf die 8,50 Euro brutto Abgaben und Steuern anfallen. Minijobber erhalten vom gleichen Bruttolohn ca. einen 18 bis 20 Prozent höheren Nettolohn. Jene mit festem Stundenvertrag, die durch die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns nun auf ein monatliches Entgelt über 450 Euro kommen, haben monatlich je nach Steuerklasse einen bis zu 150 Euro niedrigeren Nettolohn.[190] Sie müssen für dasselbe Entgelt jetzt zwischen acht und 25 Stunden monatlich mehr arbeiten. Die Beschäftigung von Aushilfen ist oft überhaupt nicht mehr möglich, da die Gefahr der Überschreitung der Höchstarbeitszeit in Kombination mit deren Hauptjob durch die unkalkulierbaren Anwesenheitszeiten zu groß ist bzw. die begrenzte Arbeit im Nebenjob sich für die Aushilfen nicht mehr lohnt und sie deswegen ihren Nebenjob aufgeben.[191] Aushilfsjobs werden also entweder zu teuer und deswegen nicht mehr nachgefragt oder zwar nachgefragt aber seitens der Arbeitnehmer nicht mehr angeboten. Ein weiteres Problem stellt die Tatsache dar, dass, wenn ungelernte Aushilfen 8,50 Euro pro Stunde bekommen und der Betrieb nicht in der Lage ist ausgelernten Fachkräften wesentlich mehr zu bezahlen, die Gewinnung an Fachkräften erheblich erschwert wird. Zudem geht die Differenzierung zwischen un- und ausgelernten Beschäftigten sowie der Zusammenhang zu ihrer Produktivität verloren.
Gegner des Mindestlohns finden sich auf Seiten der Neoklassik. Hier wird davon ausgegangen, dass ein Markt sich über die Preis- und Lohnflexibilität selbst im Gleichgewicht hält und staatliches Eingreifen wie die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns die Funktionsfähigkeit der Märkte stört.[192] Da viele in der Hotellerie und Gastronomie Beschäftigten in dieser Branche nur eine geringfügige Nebenbeschäftigung ausführen, liegt es in der Verantwortung des Arbeitgebers, zu verfolgen, wie viele Stunden der Mitarbeiter in seiner/n anderen Beschäftigung/en gearbeitet hat, um die Höchstarbeitszeit insgesamt nicht zu überschreiten. Dies...